Blogbeitrag

Misereor-Hungertuch 1992

Ihn erleben und umsetzen

11. Dezember 2025

Sonntagsbotschaft zum 14. Dezember 2025, dem 3. Sonntag im Advent (Lesejahr A).  

Ist das Glas halb leer oder halb voll?

Die Haltung hinter dieser Fragestellung spielt die Dramatik herunter, die andere in der politischen Hochspannung sehen zwischen einem spektakulären „Katastrophenszenario“ und einem naiven „alles wird gut“.

Die Palette möglicher Sichtweisen zwischen apokalyptischer Panik und sich religiös gebärdendem Extremismus schrumpfte schon oft zu einer gewaltbereiten Polarisierung.

Wo stehen wir heute? Und welche Weichen stellen wir warum wie – in welcher Erwartung?

Auf dem Weg in die Zukunft stellen sich zeitlos gleiche, elementare Fragen:

  • Wie können wir dafür sorgen, dass Kinder zu starken Persönlichkeiten heranwachsen, die ihre Welt möglichst menschenfreundlich gestalten können?
  • Wie können wir dafür sorgen, dass Menschen auch in den eingeschränkten Möglichkeiten von Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder anderen persönlichen Beeinträchtigungen menschenwürdig leben können?
  • Wie können wir dafür sorgen, dass möglichst alle Menschen ausreichend Zugang haben zu Bildung und zu Ressourcen, zur Beteiligung an sie betreffenden Entscheidungsprozessen, zur Herstellung verletzter Gerechtigkeit?

Erfahrungen und Einsichten zu solchen Fragen gibt die Bibel wieder an diesem 3. Sonntag im Advent.

Da ist beim Propheten Jesaja die Rede von Kraftlosigkeit und von Befürchtungen, von nach Vergeltung schreiendem Unrecht (35,3-4), von Blindheit und Lähmung, von Sprachlosigkeit und Taubheit (35,5-6), von aller Art Kummer und Seufzen (35,10). Und es geht um die Situation des Volkes in zunehmender Vereinzelung in einer ihm immer fremderen Welt (35,10).

In den Bildern des Orients wird das alles als „Wüste“ gemalt, als „trockenes Land“ und „Steppe“, wo man nicht leben kann (35,1).

Dem in unserer heutigen Welt entsprechende Lebensbedingungen können unsereins in Fülle einfallen – je nach den Möglichkeiten und Einschränkungen, in denen jemand lebt, und je nach dem, wie jemand diese Situationen sieht.

Und welche Botschaft gibt es zu dieser Lage zu hören?

Jubeln werden die Wüste
und das trockene Land,
jauchzen wird die Steppe
und blühen wie die Lilie.
Sie wird pr
ächtig blühen
und sie wird jauchzen,
ja jauchzen und frohlocken.
Die Herrlichkeit des Libanon
wurde ihr gegeben,
die Pracht des Karmel
und der Ebene Scharon.

Und wie kommt’s? Und wer macht das?

Sie werden die Herrlichkeit des HERRN sehen,
die Pracht unseres Gottes.

Und dann verlässt der Text die Bildebene und spricht Klartext:

Stärkt die schlaffen Hände
und festigt die wankenden Knie!
Sagt den Verzagten:
Seid stark, f
ürchtet euch nicht!
Seht, euer Gott!
Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes!

In der Sprache des damaligen Rechts heißt das: Er wird das Recht wieder herstellen!

Er selbst kommt und wird euch retten.

Dann wird alles anders:

Dann werden die Augen der Blinden
aufgetan
und die Ohren der Tauben
werden geöffnet.
Dann springt der Lahme
wie ein Hirsch
und die Zunge des Stummen
frohlockt.

Zusammengefasst:

Die vom HERRN Befreiten
kehren zurück
und kommen zum Zion mit Frohlocken.
Ewige Freude ist auf ihren Häuptern,
Jubel und Freude stellen sich ein,
Kummer und Seufzen entfliehen.
(Jesaja 35,1-6b.10)

Was dürfen Menschen also erwarten, worauf können sie sich einstellen, wenn sie sich seinem Einfluss öffnen, auf ihn schauen und hören?

Und zu welchen Gegebenheiten heute kann man das in Beziehung setzen?

Der Psalm, den die gottesdienstliche Ordnung
als Antwort der Gemeinde auf diesen Propheten-Text vorsieht, besingt es:

Der HERR hat Himmel und Erde gemacht,
das Meer und alle Geschöpfe.
Er hält die Treue auf ewig.
Recht verschafft er den Unterdr
ückten,
den Hungernden gibt er Brot,
der HERR befreit die Gefangenen.
Kv: Komm, Herr, komm und erlöse uns!
Der HERR
öffnet den Blinden die Augen,
er richtet die Gebeugten auf,
Der HERR besch
ützt die Fremden
und verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht.
Kv: Komm, Herr, komm und erlöse uns!
(Psalm 146,6-8)

Und was bringt es, solche Hoffnung auf ihn zu richten? Ist das wirklich die Lösung? Und wie geht das dann?

Auch zur Zeit von Jesus haben sie sich diese Frage gestellt.

In jener Zeit
hörte Johannes im Gefängnis
von den Taten des Christus.
Da schickte er seine Jünger zu ihm
und lie
ß ihn fragen:
Bist du der, der kommen soll,
oder sollen wir auf einen anderen warten?

Von wem oder was dürfen wir eine gute Zukunft erwarten? Worauf sollen, wollen, können wir sinnvollerweise unsere Hoffnung richten? Gibt es denn wirklich bessere Alternativen an Stelle von Tricksereien für einen erstrangigen Platz im wirtschaftlichen Wettbewerb? an Stelle des Kampfes um ein stetiges Wachstum des Vermögens? um eine nationale Besserstellung? oder für eine Entlastung der Reichen?

In den Augen mancher Menschen sieht nach unverschämter Naivität aus, was Matthäus, der Evangelist, tut. Er verweist auf Jesus und auf das, was mit ihm neu anfängt:

Jesus antwortete ihnen:
Geht und berichtet Johannes,
was ihr h
ört und seht:
Blinde sehen wieder
und Lahme gehen;
Auss
ätzige werden rein
und Taube h
ören;
Tote stehen auf
und Armen
wird das Evangelium verk
ündet. …

Ja, sie können es erleben. Wenn sie hinschauen. Wenn sie ihren Blick nicht anderswohin festlegen lassen – durch medienwirksam vorgebrachte wirtschaftliche oder politische Interessen – und dann natürlich nur sehen, was sie sehen sollen und unter diesem Einfluss schließlich auch nur noch sehen wollen.

Damit konfrontiert Jesus bereits die Menschen damals: Mit welcher Haltung, welcher Sichtweise hatten sie sich denn auf die Begegnung mit dem Täufer Johannes eingelassen?

… Was habt ihr denn sehen wollen,
als ihr in die Wüste hinausgegangen seid?
Ein Schilfrohr, das im Wind schwankt?
Oder …
einen Mann in feiner Kleidung?
… die fein gekleidet sind,
findet man in den Pal
ästen der Könige.
Oder … um einen Propheten zu sehen?

Ob sie dann bereit waren, sich durch Jesus zu einer Änderung oder Ergänzung ihrer Sichtweise anregen zu lassen?

Ja, ich sage euch:
sogar mehr als einen Propheten.
Dieser ist es,
von dem geschrieben steht:
Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her,
der deinen Weg vor dir bahnen wird.

Wer – damals wie heute – sich darauf einlässt, von dessen Augen fallen die Schuppen der bisher gewohnten Perspektive:

Aha!!! Es geht darum, ihm den weiteren Weg zu bahnen, dessen Anfang man immer wieder schon sehen kann. Ja, er ist es, mit dem Gott die alte Verheißung endlich erfüllt! Und das in einer Weise, die noch über die menschliche Sehnsucht weit hinaus geht – wie er betont:

Amen, ich sage euch:
Unter den von einer Frau Geborenen
ist kein Größerer aufgetreten
als Johannes der Täufer;
doch der Kleinste im Himmelreich
ist größer als er.
(Matthäus 11,2-11)

Im „Reich Gottes“, das im Matthäus-Evangelium immer „Himmelreich“ heißt, also in Gottes Einflussbereich, den Jesus jetzt ausbaut – wo Menschen sich von ihm Augen und Ohren öffnen lassen und die Beine in die Hand nehmen und ihm den Weg bereiten, da wird alles das nicht nur erhofft und erwartet; da kann man es anfanghaft bereits real erleben. Da erfährt jeder Mensch eine „Größe“, eine Würde, die über das hinaus geht, wessen selbst der in der Zeit davor am meisten anerkannte Mensch sich erfreuen kann.

Der Advent kann so zu einer Zeit werden, in der Menschen gemeinsam die Haltung einüben, die dann Sein Kommen immer deutlicher erleben lässt.

… der Heil und Leben mit sich bringt …
… o wohl dem Land, o wohl der Stadt …
… da dieser König ziehet ein …

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