Wo im kirchlichen Kontext und in welchem Verhältnis dazu steht die hier dargelegte Sichtweise?
Eine persönliche Antwort von Rainer Petrak
Ich habe in meinem Leben viel verstanden von Gott, wie die Bibel ihn bezeugt. Und ich habe in meinem Leben selber viel von Gott erfahren. Verstehen und erfahren haben sich oft gegenseitig gerieben und befruchtet. Das alles habe ich vielfältigem und reichhaltigem Glaubenszeugnis von Kirche zu verdanken. Darin hat sich Gott und meine Beziehung zu ihm und den Mitglaubenden erschlossen: als sprudelnde Quelle von Lebenskraft und Lebensfreude – zentral geworden für meine Lebensorientierung und für mein Selbstverständnis: Gottes Liebesgeschichte mit mir.
Von diesem Glück mit Gott möchte ich sehr, dass noch möglichst viele weitere Menschen es ebenfalls finden. Diesem Prozess will ich dienen, dazu will ich beitragen, beisteuern. Ich auf meine Weise, weil ja mein Zugang nicht die übliche kirchliche Sozialisation war, sondern Impulse von Gott selber, der immer wieder rettend nach mir gegriffen und weitere „Rettungs“-prozesse auch für andere angetrieben hat. Wobei ich meine Sicht von den wesentlichen Aspekten dieses Prozesses, wie sie sich aus meiner Lebensgeschichte und meiner Überzeugung darstellen, wiedererkenne in den „6 Schritten der Evangelisierung“ nach „Evangelii nuntiandi“ von Papst Paul VI.
Und wo ich für diesen Prozess Behinderungen sehe, möchte ich beitragen zum Gegensteuern.
Ich verstehe diese Sichtweise als wichtige, notwendige Ergänzung zum realen Spektrum dessen, was in der aktuellen kirchlichen Kommunikation geschieht.
Nicht rechthaberisch oder besserwisserisch will ich sein. Aber ich mache aufmerksam auf einiges, was zum Schaden der Menschen – und sicher gegen Gottes Willen – vernachlässigt wird. Zum Beispiel:
- Die (bei gewissenhafter Berücksichtigung aller bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse sich zeigende) Botschaft der Bibel gilt es, ungeschmälert, ohne Verschämtheit und ohne Verharmlosung oder Entschärfung zur Kenntnis zu nehmen – im Sinne von „gemeint wie gesagt“!
- In der Aufmerksamkeit glaubender Christen – also auch in der kirchlichen Verkündigung – hat, was Gott vorhat und tut („Gottes große Taten“), Vorrang vor dem, was der Mensch tun soll oder nicht tun soll (Moral)!
Diese Perspektive steht häufig im Konflikt mit einigem, was im kirchlichen „mainstream“ wahrzunehmen ist.
Glücklicherweise ist von dem wunderbaren Handeln Gottes, wie ich es meine, immer wieder auch in der Kirche unserer Zeit bei allem, was da geschieht, getan und gesagt wird, vieles zu erleben und zu finden. Mir scheint, der Blick dafür gewinnt aktuell an Einfluss und an Kraft im Zusammenhang mit der allgemeinen Verunsicherung durch die Covid19-Pandemie und im Zusammenhang mit den Diskussionen um den „Synodalen Weg“ der Kirche. Aber im Vordergrund der Wahrnehmung stehen für die meisten Menschen weiterhin rund um alles, was nach „Kirche“ klingt, eher die unbewältigten Problemfelder: sexualisierte Gewalt an Kindern, spiritueller Machtmissbrauch, Angst vor der Beteiligung der Frauen an der kirchlichen Führung, menschenunfreundliche Sexualmoral, … Dass es aber beim gemeinsamen Glauben an Christus um Gottes Handeln geht, so dass die Menschen glücklich aufleben, – das kommt in der öffentlichen Wahrnehmung wie im authentischen Erleben zu kurz. Deshalb möchte ich, so gut ich kann, beitragen zur verstärkten Wahrnehmung dieser zentralen Seite des Christseins. Sonst sieht es weiterhin so aus, als seien diese Stimmen die Ausnahme und gar nicht typisch für die reale Kirche. Es muss vielmehr deutlich werden, dass es viele sind, die das in der Kirche so evangeliumsgemäß und menschenfreundlich und überzeugt sehen, es so halten und tun. Ich muss dazu beitragen (als hoffentlich einer von vielen aus der realen Kirche). Sonst bleibt in der Öffentlichkeit der Eindruck, Christsein, Kirche und ihr Glaube sei nur einengend u.ä.
Es geht also um ein kritisch-solidarisches Verhältnis zur kirchlichen Tradition: Ihr ist die Vermittlung sowohl der Bibel als auch des Reichtums aller damit gegebenen Lebenschancen zu verdanken! Das gibt allen Kirchengliedern eine hohe Verantwortung, mit dieser Überlieferung umzugehen. Denn es wirkt sich schlimm aus, wenn der reale Umgang mit ihr Wesentliches dieser Glaubenstradition der Kirche vernachlässigt, es verfälscht oder ihm widerspricht. Besonders wenn zur Gewohnheit gewordene (oft aus nicht-christlichen Quellen gespeiste) Sicht- und Verhaltensweisen
- Menschen von der Chance rettender, befreiender Gotteserfahrung weg führen,
- bei Menschen eher Misstrauen als Vertrauen gegenüber dem Gott der Bibel fördern
- und sich bei der Bemühung um Evangelisierung eher als kontraproduktiv erweisen.
Dagegen protestiert die hier dargelegte Sichtweise. Dagegen mache ich meine Glaubensüberzeugung geltend. Weil da Gott schließlich am Handeln-Können behindert wird!
Das Evangelium kommt vor der Moral
Menschen abverlangte Moral lässt sich griffiger verkündigen als Gottes erfreuliches Tun – sowohl die traditionell-kernige Moral (etwa im Stil damals von Pater Leppich) als auch die softere politisch-linkere Moral (zum Beispiel die von dann so genannten „Herz-Jesu-Sozialisten“). Vor allem mit Humor gewürzte 5- bis 7-Minuten-Predigten waren immer schon leicht verständlich und „lebensnah“ – weil man darüber lachen oder auch weil man so schön darüber schimpfen konnte. Jedenfalls konnte man sich mit lustig-strenger oder mit „befreiend“-libertärer Moral, in volkstümlicher Sprache vorgetragen, in die Herzen der Menschen predigen.
Auch in der allgemeinen Gesellschaft gilt Kirche (immer noch) bis in die Politik hinein als „moralische Instanz“. Aber in Sachen Religion und Spiritualität vertrauen sich suchende Menschen eher anderen Angeboten an als denen der Kirchen.
Typisch für meine hier dargelegte Überzeugung und Sichtweise ist der Vorrang des Evangeliums (eu angelion = froh machende gute Nachricht) gegenüber der Moral: Nicht das Tun von Menschen steht im Vordergrund (nicht das geforderte, gebotene Tun, schon gar nicht das angeblich zu beschimpfende „böse“ Tun von Menschen), sondern es geht um Gottes Tun und deshalb allerdings auch um – vom Evangelium her klar zu bewertende – schlimme, weil „tötende“ Lebensumstände, denen es für Getaufte zu „widersagen“ gilt. Und deshalb geht es um Freude an ihm, um Hoffnung auf ihn und um seinen Lobpreis.
Wenn – wie es so oft geschieht – Glaubensverkündigung auf Moralverkündigung reduziert wird, muss sie kraftlos bleiben: Appelle verändern Menschen nicht.
Aber wenn sie sich verändern wollen, kann die Verkündigung von Gottes Liebe und von seinem Handeln sehr wohl Menschen so viel Hoffnung und Neugierde und Ermutigung und Aufmunterung geben, dass ihnen diese (von ihnen selbst und von Gott) gewünschte und ersehnte Veränderung gelingt!
Gottes Wesenszug als „Retter“ zu betonen, scheint mir wichtig. Denn zu biblischer Zeit wie auch heute haben oft ganz andere Vorstellungen von Gott Hochkonjunktur. Und leider werden diese Vorstellungen auch im kirchlichen Alltag oft gepflegt:
Predigten wie auch der Volksmund sprachen und sprechen oft immer noch von Gott vorrangig nicht als vom Retter, sondern vom Moral-Wächter, vom bedrohlich allmächtigen Richter, vom ermittelnden „Polizisten“, der alles sieht, … Wertvolles Tun, angestrebtes gutes Verhalten kommt da vor allem in Gestalt von Forderungen zur Sprache und als Prüfsteine der Bewährung in der Versuchung.
Der Gott der Bibel allerdings, vor allem wie er sich in Jesus kundtut, versetzt Menschen erst einmal in die Lage, sich (dem gewollten Guten) entsprechend verhalten zu können! Er befreit z.B. von Unfähigkeiten, Hemmnissen aller Art, hinderlichen Rahmenbedingungen, … Diese Menschen finden dann Freude an seinen (Weg-)Weisungen (= hebr. „thora“ = „Gebot“ im Sinne von Weisung!) in Richtung des ersehnten und verheißenen Ziels. Die Freude über die geschenkte [Gnade/gratia = Geschenk!] Erfahrung Seiner befreienden, rettenden Liebe reißt sie so vom Hocker, dass sie dann – wie es an Weihnachten heißt – „voll Eifer danach streben, das Gute zu tun“ (Titus 2,11-14). Kleiner Test: Wie betonen Sie diesen Satz?
Auch der Umgang mit den Zehn Geboten im realen kirchlichen Alltag ist immer noch mehr von einem drohenden „du sollst nicht“ geprägt als vom Verständnis rettender Wegweisung.
Evangelium geht nicht ohne Diakonie
Wenn das Evangelium als das Wort Gottes bewirkt, was es sagt und wenn es Gottes Dienst der Liebe zu den Menschen beinhaltet, dann wird es sich bewähren (bewahrheiten), indem seine Verkündigung Dienst der Liebe vermittelt (kommuniziert). Wenn das Wort, das ich verkündige, nach meiner Überzeugung wahr ist, also wenn ich es so meine, wie ich es verkündige, dann wird es sich in der Verkündigung, an der ich teilnehme, auch zeigen: als (mein Beitrag zum) Dienst der Liebe, als Diakonie, Lebenshilfe, Hilfe zu erfülltem Leben. Verkündigung des Evangeliums und Dienst an der damit verkündeten Liebe gehören unlösbar zusammen.
Darin, wie Jesus selbst Gottes Dienst der Liebe an den Menschen verkündigt hat, zeigt sich: Gott hat einfach seine Freude daran, wenn er Menschen in ihrem Leben helfen kann. Es ist ihm ein Grundanliegen, dass Menschen sich von ihm ein gelingendes Leben ermöglichen und schenken lassen und dass er Menschen findet, die sich mit der Ausbreitung dieser Sorge und Bestrebung erfüllen lassen und immer mehr Menschen damit anstecken.
Diese Sichtweise möchten auch einschlägige offizielle Papiere der katholischen Weltkirche unter die Menschen und in die Realität der Kirche bringen. Zum Beispiel das Schreiben von Papst Paul VI. „über die Evangelisierung in der Welt von heute“ Evangelii nuntiandi (1975)
Aber in der Kirche, wie sie sich in der Realität darstellt, gibt es eine ungenügende Integration von Evangeliumsverkündigung und Diakonie. Besonders unterentwickelt ist dabei die gesellschaftliche / politische Diakonie = der Dienst der Liebe zu den Menschen in all den Belangen, die durch individuelle Diakonie / Caritas-Dienste nicht zu berühren sind, weil die Ursache/n des Leids, angesichts dessen Gottes liebende Zuwendung angesagt ist, in gesellschaftlichen Gegebenheiten liegen, also im politischen Bereich.
Dienstbereitschaft statt Machtanspruch!
Seit Kaiser Konstantin hat sich die Kirche mit der „Macht“ kompromittiert: im Konkurrenzkampf mit dem Kaiser bzw. mit dem Staat um die höhere Stellung. Im Bewusstsein der Verantwortung, der Ausbreitung und Wirksamkeit des Evangeliums zu dienen, wurde gläubiges Gottvertrauen durch den eigenen Machtanspruch ersetzt. Menschen außerhalb der Kirche konnten da bis heute all zu oft nur noch triebhaftes Machtstreben erkennen.
Angesagt sind – in angstfreier Toleranz – Religionsfreiheit und Anerkennung des Pluralismus auf dem Markt der Religionen in unserer Gesellschaft. Keine Bange: Unser Gott wird dabei durchaus eine gute Figur abgeben! Wenn wir nur Kirche sind und wirklich ihn verkörpern und verkünden!
Allerdings: wer zu seinen Jüngern, zu seiner Kirche zählt, muss (!) sich an ihm orientieren und von da her seine Identität beziehen und pflegen. Denn die Glaubwürdigkeit des Evangeliums darf nicht verschleiert, sie muss bezeugt werden.
Gegen die Verharmlosung – echt glauben und beten
Gott wird oft verharmlost, klein gemacht, nicht rangelassen. Sowohl im alltäglichen Reden von Gott als auch in kirchlichen Gesprächen und in Predigten. Mir geht es darum, die ganze existentiell bedeutsame Größe nicht zu verharmlosen, die in der Person von Jesus Christus und seiner Botschaft steckt, die allerdings zu ihrer Wirksamkeit auf der Seite der Menschen das Ja, das aufgeschlossene Vertrauen verlangt, weil er ja kein Vergewaltiger ist. Im Prolog zum Johannes-Evangelium (1,11) beklagt der Evangelist „Aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Ich übersetze: „Aber die Seinen ließen ihn nicht ran.“ Es geht um die Größe dessen, was Gott zuzutrauen ist, um ein Ernstnehmen seiner Botschaft. Ohne sie permanent zu verharmlosen, nur um mehr Chancen zu haben, konfliktärmer mit den in der Gesellschaft gängigen Maßstäben konkurrieren zu können.
Beispiele zum Problem der Verharmlosung
Und noch mal in die gleiche Kerbe – Vorsicht: Emotion! – Wider die Verharmlosung
Solche Verharmlosung, die Gott klein macht, ihn nicht wirklich „ranlässt“ und also dem Menschen die Chancen des Evangeliums vorenthält, hat nicht nötig, wer wirklich glaubt.
Was ist dabei mit „glauben“ gemeint?
Traditionell hat die Kirche immer unterschieden zwischen dem Glaubensinhalt („fides quae creditur“) und dem Glaubensvollzug („fides qua creditur“). Aber „das Glauben“ (wie das menschlich geht) wurde im Lauf der Zeit hintangestellt. „Der Glaube“ (Zustimmung zur Lehre) hatte alle Aufmerksamkeit. Mangels Förderung der „fides qua …“ blieb der Glaube der Christen bis heute häufig auf der Strecke.
Im Kreis von Aktiven der Gemeinde haben wir vor vielen Jahren ein Papier entwickelt, auf das wir dann oft bei Gesprächen zurückgegriffen haben: „Unser Glaube – unser gemeinsamer Weg“
Zur Besinnung auf den eigenen Glauben hat sich eine weitere Arbeitshilfe als Anregung bewährt: „Mein Glauben“ und „Ist das mein Glaube?“
Seit ca. 1990 breitet im deutschen Sprachraum eine erstarkende kirchliche Bewegung das Anliegen „Wege erwachsenen Glaubens“ aus. Die Predigt von Rainer Petrak wirbt für eine Teilnahme (2014). Und hier wird vom Anfang berichtet.
Das auf die Zustimmung zur Glaubenslehre reduzierte „Glauben“ hat in der nichtchristlichen / nichtkirchlichen Öffentlichkeit immer wieder den christlichen Glauben (und damit den von den Christen gemeinten Gott!) diskreditiert: Kirche und die Christen gelten bei vielen Menschen in vielen Hinsichten als nicht echt, nicht stimmig, nicht authentisch, … Ein altes Problem, von dem es in der Kirche sehr wohl ein Bewusstsein gibt.
Alle, die das tägliche „Stundengebet“ (früher: „Brevier“) beten, erinnert die Kirche im zweijährigen Turnus unter der Überschrift „Aufmerksamkeit des Geistes und Aufrichtigkeit des Herzens“ an einen Text von Sigismund von Storchenau (1784).
Auf den Punkt bringt es ein Text aus unserer Zeit – ursprünglich eine Anregung für Eltern von Kommunionkindern: „Ich bin voll dabei?“
Und – eine Meinung, die ich las: ein wütender Leserbrief.