Sonntagsbotschaft zum 14. September 2025, dem Fest Kreuzerhöhung.
Es gibt Lieder – Songs – , die gehen tiefer unter die Haut als jedes gesprochene oder geschriebene Wort. Die Beliebtheit von manchen überdauert Generationen. Ein Phänomen – zeitlos und kulturübergreifend.
Wenn ein solches Lied im Lauf der Zeit dabei aber nicht mehr als Gesang erlebt wird und nicht mehr aus unmittelbarem Zusammenhang mit aktuellem Leben, wenn es sich dann nicht mehr „by heart“ ereignet, sondern zum Gegenstand wird – zum Gegenstand der Überlieferung oder zum Gegenstand historischer Forschung – , dann geht Wesentliches verloren.
Mir scheint, dieser Sonntag, auf den mit dem 14. September das jährliche Fest der Kreuzerhöhung fällt, bietet die Chance der Neuentdeckung eines solchen uralten, tief unter die Haut gehenden Liedes.
Es geht um das vielleicht älteste bis heute bekannte Lied, das Jesus Christus besingt.
Natürlich gibt es aus seiner Entstehungszeit weder eine YouTube-Aufnahme noch auch nur Noten. Lediglich der Text ist uns erhalten.
In dem Brief, den der Apostel Paulus um das Jahr 55 – wahrscheinlich aus dem Gefängnis in Ephesus – an die von ihm zuvor gegründete Christen-Gemeinde im mazedonischen Philippi schrieb, in diesem Brief greift er den Liedtext auf.
Ob er voraussetzt, dass den Christen in Philippi dieser Gesang bereits vertraut ist, oder ob er sie hier erst neu damit bekannt macht, das geht aus dem Zusammenhang nicht hervor.
Paulus macht aber deutlich, er möchte sie gerne mit diesem Lied dazu animieren, dass sie in ihrem Verhältnis zueinander, wo es für den weiteren gemeinsamen Weg Meinungsverschiedenheiten gibt, jegliche „Streitsucht“ oder „Prahlerei“ vermeiden und einander in demütiger gegenseitiger Wertschätzung begegnen, nämlich in dem Geist, der Jesus Christus selbst zu eigen ist, den sie doch so sehr verehrten (vgl. Philipper 2,2-5).
Wenn unsereins heute allein den Text dieses Liedes liest oder hört – als Schrift-Lesung im Sonntags-Gottesdienst – , dann kommt es wahrscheinlich darauf an, dass wir – im bewussten Bezug auf die Spannungen, die sich auch heute unter uns störend auswirken – die Vorstellung eines begeistert gesungenen Hymnus dazu ergänzen. Damit der, der da besungen wird, mit seinem Geist auch auf uns einwirken kann:
Christus Jesus
war Gott gleich,
hielt aber nicht daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern er entäußerte sich
und wurde wie ein Sklave
und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich
und war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott
über alle erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der größer ist als alle Namen,
damit alle im Himmel,
auf der Erde
und unter der Erde
ihr Knie beugen
vor dem Namen Jesu
und jeder Mund bekennt:
Jesus Christus ist der Herr
zur Ehre Gottes, des Vaters.
(Philipper 2,6-11)
„Seid untereinander so gesinnt!“ (Vers 5), hatte Paulus gesagt. Wenn ihr weiterkommen wollt, schaut auf ihn!
Er begegnet auf Augenhöhe, solidarisch mit den Menschen in ihren Abhängigkeiten und Zwängen, Erniedrigungen und Auseinandersetzungen! Uns gleich!
Ja, Jesus geht es um die Menschen, die das Gold und die Waffen und ihre eigenen Gewohnheiten und Interessen und alle möglichen anderen „Götter“ bedienen und deren Ansprüche einander aufzwingen wollen – im Neuen Testament „Zöllner und Sünder“ genannt.
Für sie alle finden die religiösen Wortführer nur ausgrenzende Verurteilungen und merken dabei nicht einmal, dass sie selber noch viel mehr von dieser Art der „Zöllner und Sünder“ sind.
Jesus aber setzt sich mit ihnen allen an einen Tisch – in einer Weise, die bei den Geächteten Ohren und Herzen öffnen, so dass Veränderungen entstehen und die Menschenliebe von Gottes Art neue Chancen bekommt. Jesus ist Gottes neuer Versuch, sie alle zu integrieren.
Aber die religiös und politisch Mächtigen
empörten sich darüber …:
Dieser nimmt Sünder auf
und isst mit ihnen.
(Lukas 15,2)
Jesus wirbt um ihr Gespür für Gottes Menschenliebe. Mit Hilfe von Gleichnissen illustriert er, worauf es ihm ankommt, wenn Gott Menschen begegnen will, die das menschliche Gemeinwesen längst abgeschrieben hat:
Der „Himmel“ freut sich mehr über wiedergefundene „Verlorene“
als über nie ihm „Verlorengegangene“. Er bemüht sich vorrangig um die eigentlich schon „Verlorenen“, wo immer er bei ihnen eine – wenn auch noch so geringe – Offenheit oder Bereitschaft sieht, dass sie sich „wiederfinden lassen“ für eine Beziehung zu Gott und zum Leben.
Und dafür nimmt er in Kauf, sich bei denen Feinde zu machen, die nach allgemein verbreitetem Urteil „gar keine Umkehr nötig haben“.
Im Gleichnis spricht Jesus von dem Sohn, der sich mit ausgezahltem Erbteil vom Vater losgesagt oder „befreit“ hatte, der also „selber schuld“ dran war, dass er sich und sein Leben verloren hat, und der in seinem Elend die Sehnsucht nach dem guten Leben beim Vater entwickelt und zu ihm zurückkehrt:
Als der ihn als seinen Sohn voll anerkennt und nichts Anderes im Sinn hat, als mit ihm ein üppiges Freudenfest zu feiern, löst er beim andern Sohn heftigen Protest aus – eben wie die, deren Protest Jesus sich ausgesetzt sieht: „Wohin kommen wir denn da? Wenn jeder machen kann, was er will und hinterher nicht mal zur Verantwortung gezogen wird, …“
Jesus möchte gerne seinen Gegnern ihre hartnäckige Starrheit lösen, in der schon das alte Volk Israel immer wieder Gottes maßgebliche Wegweisungen dafür instrumentalisiert hatte, sich allen möglichen anderen Göttern zu unterwerfen, sich seinem Gott in Wirklichkeit damit aber zu verweigern.
Da wird Jesus zum glühenden Fürsprecher für das Volk und zu seinem Anwalt. Dafür stellt er sich der Begegnung mit seinen Widersachern. Demütige Erniedrigung aller Art nimmt er in Kauf – von der Bespöttelung über diverse Diffamierungen bis hin zur Folter und zur Hinrichtung am Kreuz.
Bei all denen, die durch ihn so ihre eigene Menschenwürde wunderbar wiederhergestellt sehen, und bei denen, die das miterleben oder davon erfahren und sich für ihn begeistern, löst das die große Freude aus, zu der sie mit ihrem Lied auch alle anderen anstecken wollen.
Bis in unsere Tage erleben so Menschen, dass Probleme im Leben und in der Politik, die ihnen über den Kopf wachsen, nicht einfach mit dem Blick auf die Risiken von Missbrauch und Übervorteilung zu lösen sind, sondern dass eine optimale Lebensfülle für alle neue Chancen erhält, wenn in den Problemen der Blick auf Jesus und seinen Geist maßgeblich wird. „Seid untereinander so gesinnt!“ (Vers 5), mit diesen Worten hatte Paulus ja das Christus-Lied angekündigt. Wenn ihr weiterkommen wollt, schaut auf ihn!
Zu diesem Blick bestärkt die Botschaft dieses Kreuz-Festes auch in den beiden anderen dafür vorgesehenen Schrifttexten:
Im Gespräch mit Nikodemus, dem gelehrten jüdischen Ratsherrn (Johannes 3,13–17), setzt Jesus das uns heute magisch anmutende Bild vom erlösenden Blick auf die erhöhte Kupferschlange im Buch Numeri (1. Lesung: Numeri 21,4–9) in Beziehung zum Blick auf seinen sich bereits abzeichnenden Weg ans Kreuz, mit dem er seine erlösende Liebe zu den Menschen vollendet. Er hofft, dass Nikodemus und ich und du, ja dass die Menschheit versteht:
„So sehr hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen Sohn für uns hingab.
Wer an ihn glaubt,
hat teil an seinem Leben!“
(vgl. Johannes 3,16)
In Freudengesänge mündet der Blick, der mit dem Fest Kreuzerhöhung gemeint ist, nach dem auf der ganzen Welt viele Kirchen und Kirchengemeinden sich nennen:
Im Jahr 335 wurde in Jerusalem an der Stelle, an der Jesus wahrscheinlich begraben wurde, die Urform der heutigen „Grabeskirche“ feierlich eingeweiht. Am Tag danach, dem 14. September, wurde in der neuen Kirche zum ersten Mal das Holz, das als das Kreuz von Jesus galt, so hoch gehoben – „erhöht“ – , dass alle es sehen und verehren konnten.
Christus war für uns gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott
über alle erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der größer ist als alle Namen.
(vgl. Philipper 2,8-9)
Nachbemerkung:
Welchen herausragenden Stellenwert in der Feier des Glaubens dieser Christus-Hymnus einnimmt, zeigt sich in der liturgischen Ordnung von Eucharistiefeier und Stundengebet: https://rainer-petrak.de/philipper-26-11-in-der-liturgischen-ordnung/
