Sonntagsbotschaft zum 7. September 2025, dem 23. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C).
Wahrscheinlich haben Sie nicht vor, ein Hochhaus oder einen Aussichtsturm zu bauen. Falls allerdings doch, dann werden Sie sicher zuerst einmal sich hinsetzen und sich klar machen, was Sie damit wollen und welche Mittel Sie dafür brauchen und ob Sie über die verfügen.
In einen solchen Zusammenhang bringt Jesus das, was er unter den Menschen beginnt – was er „das Reich Gottes“ nennt – und zu dessen Aufbau er seine Anhängerschaft sammelt. Zum „Evangelium“ für unsereins heute soll sein Hinweis werden, worauf es ihm da ankommt.
Vorsicht: Beim ersten Hinhören klingt das als alles Andere als ein „Evangelium“. Also bitte nicht gleich das Kind mit dem Bad ausschütten! Auch nicht einfach schlucken und unverdaut wieder ausscheiden, sondern mit ein wenig Geduld gut kauen, damit eine angemessene Verdauung seine reichhaltige Nahrhaftigkeit entfalten kann!
In jener Zeit
begleiteten viele Menschen Jesus;
da wandte er sich an sie und sagte:
Wenn jemand zu mir kommt
und nicht
Vater und Mutter,
Frau und Kinder,
Brüder und Schwestern,
ja sogar
sein Leben
gering achtet,
dann kann er nicht
mein Jünger sein. …
Vorsicht! Sie wissen ja: Das ist eine Aussage, die im Horizont der Sozialkultur von damals ganz anders gehört und verstanden wird. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten hatte auch in unserem Kulturkreis der Mann das Sagen in der Familie, zum Beispiel das Recht zur Entscheidung über Aufenthaltsort oder Berufstätigkeit der Ehefrau. Und im biblischen Orient galt es in unangefochtener Selbstverständlichkeit, dass der Patriarch in der Großfamilie über alle Personen die Verfügungsgewalt hatte wie über einen Besitz.
Und da sagt Jesus: Wer an diesem Verfügungsrecht als an einem höchsten Gut festhält und nicht bereit ist, es geringzuachten im Vergleich mit den Erfordernissen, die im Reich Gottes deutlich werden, der kann logischerweise in der Gemeinschaft, die mit Jesus am Reich Gottes baut, nicht als sein Mit-Glied gesehen werden. Das gelte für jeden Anspruch auf ein herrschaftliches Verfügen – auch beim Verfügen über das eigene Leben in den Rahmenbedingungen dieser Welt und beim Verfügen über Besitztümer aller Art.
… keiner von euch
kann mein Jünger sein,
wenn er nicht
auf seinen ganzen Besitz verzichtet.
So verstanden, verlieren diese Worte ihren bedrückend-moralischen Touch, und ihre kulturkritische Aussage wird deutlich: Herrschend verfügen kommt, wo Jesus das Reich Gottes aufbaut, nur ihm allein zu – wie es ja Menschen im Apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen: „Ich glaube … an Jesus Christus, … unsern Herrn, …“ Alle patriarchalische wie auch jede andere Art von Verfügungsgewalt wird da relativiert und tritt zurück hinter dem befreienden Geist von Gottes Herrschaft.
Da setzt er nicht eine Bedingung, sondern macht aufmerksam auf eine logische Voraussetzung: Wer nicht sein Verfügungsrecht über andere Menschen und seine „Souveränität“ über das eigene Leben in dieser Welt, auch über seinen Besitz, seine Autonomie, seine Selbst-Herr-lichkeit „nicht meiner Führung zu überlassen bereit ist, kann nicht mein Jünger sein.“
Und inwiefern beschreibt da das Wort „Jünger“ die Beziehung zwischen unsereins und ihm? Rein sprachlich gesehen heißt „Jünger“ soviel wie „Schüler“ oder „Anhänger“. Ist Sein-Jünger-Sein auch gleichbedeutend mit Christsein?
Vielleicht kann man ja – die Bibel erzählt das immer wieder! – sich an seiner Liebe erfreuen und auf sie hoffen, also in diesem Sinne „an ihn glauben“, ohne sich zu seinen – ihn verkörpernden – lebendig-aktiven Mit-Gliedern zu zählen. Obwohl die froh machende Erfahrung damit wahrscheinlich meistens dazu führen wird. Es ist halt die Frage, ob der Glaube an ihn bzw. die Zugehörigkeit zu ihm eine „Religion“ ist. „Zu mir kommen“ und „mein Jünger sein“ – das muss ja keiner; das wird man nur, wenn man es will, und man sollte es nur wollen, wenn man es auch kann, also auch die Möglichkeiten dazu hat. Gottes Zuwendung durch ihn und seine Jünger empfangen und sich dessen erfreuen, das können und sollten ja alle Menschen. Die Evangelien sind voll von Erzählungen, die das bezeugen. Aber als seine Jünger dazu beitragen, das ist etwas Anderes.
Das illustriert Jesus mit zwei Bildern:
Wenn einer von euch
einen Turm bauen will,
setzt er sich dann nicht zuerst hin
und berechnet die Kosten,
ob seine Mittel
für das ganze Vorhaben ausreichen?
Sonst könnte es geschehen,
dass er das Fundament gelegt hat,
dann aber den Bau nicht fertigstellen kann.
Und alle, die es sehen,
würden ihn verspotten
und sagen:
Der da hat einen Bau begonnen
und konnte ihn nicht zu Ende führen.
Es könnte geschehen, dass zwar das Fundament für das Vorhaben gelegt ist, dann aber sein Aufbau trotzdem nicht zustande kommen kann. Alle, die es sehen, würden spotten: Was für ein unrealistisches Projekt! Dass so etwas mit dem Reich Gottes geschieht und mit denen, die daran bauen, das will Jesus vermeiden.
Oder wenn ein König
gegen einen anderen in den Krieg zieht,
setzt er sich dann nicht zuerst hin
und überlegt,
ob er sich mit seinen zehntausend Mann
dem entgegenstellen kann,
der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt?
Kann er es nicht,
dann schickt er eine Gesandtschaft,
solange der andere noch weit weg ist,
und bittet um Frieden. …
(Lukas 14,25-33)
Kein Regierender stellt sich einem Krieg, wenn er weiß: Der Gegner verfügt über das Doppelte an militärischen Mitteln. Und wenn doch, ist am Ende alles verloren.
Die Auswahl dieser beiden Bilder lässt den Schluss zu, dass es bei dem Vorhaben von Jesus mit seinen Jüngern um einen Kampf geht, etwas aufzubauen: das Reich Gottes unter den Menschen.
Ein weiteres „Beispiel“, worum es hier geht, – nicht bildhaft, sondern real – , bringt die 2. Schriftlesung dieses Sonntags mit einem Auszug aus dem Brief, den der Apostel Paulus an seinen Freund Philémon schickt.
Die Situation ist die: Paulus ist im Gefängnis, lebt dort aber relativ frei. Er lernt einen jungen Mann kennen mit Namen Onesimus. Onesimus lässt sich von ihm taufen; er wird ein Christ. Nun aber ist Onesimus ein Sklave, der seinem Eigentümer mit Namen Philémon davongelaufen ist. Wehe, der erwischt ihn einmal; dann erlaubt ihm das Recht, mit ihm zu machen, was er will, auch, ihn mit dem Tod zu bestrafen! Glücklicherweise kennt Paulus ja den Philémon; er kennt ihn als einen Christen. Und da tut Paulus etwas für den entlaufenen Sklaven Riskantes; etwas, was für den Philémon eine große Zumutung wird:
Er schreibt einen kurzen, sehr persönlichen Brief an Philemon; mit dem soll Onesimus zu seinem Herrn zurückkehren. Paulus mutet dem Philemon zu, dass er das mit seinem Christsein ernst nimmt. Er traut ihm zu, dass er sich selbst und seine persönlichen Möglichkeiten nicht überschätzt hat; dass es ihm tatsächlich wichtiger ist, sich als Christ zu verhalten, als auf seinem Recht auf Bestrafung des entlaufenen Sklaven zu bestehen. Er schreibt ihm:
Lieber Bruder!
Ich, Paulus, ein alter Mann,
jetzt auch Gefangener Christi Jesu,
ich bitte dich für mein Kind Onesimus,
dem ich im Gefängnis
zum Vater geworden bin.
Ich schicke ihn zu dir zurück,
ihn, das bedeutet mein Innerstes.
Ich wollte ihn bei mir behalten,
damit er mir an deiner Stelle dient
in den Fesseln des Evangeliums.
Aber ohne deine Zustimmung
wollte ich nichts tun.
Deine gute Tat soll nicht erzwungen,
sondern freiwillig sein.
Denn vielleicht wurde er deshalb
eine Weile von dir getrennt,
damit du ihn für ewig zurückerhältst,
nicht mehr als Sklaven,
sondern als weit mehr:
als geliebten Bruder.
Das ist er jedenfalls für mich,
um wie viel mehr dann für dich,
als Mensch und auch vor dem Herrn.
Wenn du also mit mir Gemeinschaft hast,
nimm ihn auf wie mich!
(Philemon 9b-10.12-17)
Ob Philemon sein Verfügungsrecht über den Sklaven gemäß dem Evangelium jetzt „gering achtet“ im Vergleich zu dem Geist, der im Reich Gottes herrscht?
Leider wissen wir nicht, was bei der Rückkehr des Onesimus zu Philemon ablief. Nur dass es in der Gemeinde in Kolossä einen Onesimus gab. (siehe Kolosser 4,9) Ob es derselbe ist, bleibt offen.
Andere Aspekte – sicher nicht weniger aktuell – habe ich 2022 dargelegt in der Sonntagsbotschaft mit dem Titel „am wichtigsten“:
https://rainer-petrak.de/am-wichtigsten/
