Sonntagsbotschaft zum 10. Juli 2025, dem 15. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C).
Wem würden Sie das Prädikat „barmherziger Samariter“ verleihen?
Bei dieser Frage wissen Sie sofort, was gemeint ist und worauf es bei einer solchen Anerkennung ankäme. Der „barmherzige Samariter“ ist sozusagen Kulturgut geworden: Er ist ein schönes moralisches Vorbild für ein optimales Sozialverhalten gegenüber Menschen in Not. Wahrscheinlich wissen auch die meisten Menschen, dass der „barmherzige Samariter“ eine Figur der Bibel ist.
Ja, das Lukas-Evangelium überliefert diese Geschichte. Jesus erzählt sie. Offensichtlich ist es seine spontane Dichtung:
Ein Mann ging
von Jerusalem nach Jericho hinab
und wurde von Räubern überfallen.
Sie plünderten ihn aus
und schlugen ihn nieder;
dann gingen sie weg
und ließen ihn halbtot liegen.
Zufällig kam ein Priester
denselben Weg herab;
er sah ihn und ging vorüber.
Ebenso kam auch ein Levit
zu der Stelle;
er sah ihn und ging vorüber.
Ein Samariter aber,
der auf der Reise war,
kam zu ihm;
er sah ihn und hatte Mitleid,
ging zu ihm hin,
goss Öl und Wein auf seine Wunden
und verband sie.
Dann hob er ihn
auf sein eigenes Reittier,
brachte ihn zu einer Herberge
und sorgte für ihn.
Und am nächsten Tag
holte er zwei Denare hervor,
gab sie dem Wirt und sagte:
Sorge für ihn,
und wenn du
mehr für ihn brauchst,
werde ich es dir bezahlen,
wenn ich wiederkomme.
(Lukas 10,30-35)
Worum geht es da?
Die Straße, von Jerusalem aus etwa 40 km abwärts ins 1000 m tiefer liegende Jericho, war in der Antike eine Hauptverbindungsstraße mit relativ viel Durchgangsverkehr. Ein interessantes Feld auch für Straßenräuber.
1996 habe ich auf einer Israel-Wallfahrt dieses Bild von der Straße aufgenommen. Am Straßenrand die Herberge mit dem Schild „Welcome to the Good Samaritan Inn“. Ein Stück weiter am Hang neben der Straße dieses Beduinen-Camp und ein bettelnder Junge, der von dort herbeilief.
In der Geschichte ist dann die Rede von einem „Priester“. Priester waren Männer, die am Tempel von Jerusalem jeweils für eine Reihe von Tagen Dienst taten. Ihr Wohnort konnte in der weiteren Umgebung liegen. Der Priester in der Geschichte kommt diesen Weg „herab“. Anscheinend ist seine Schicht am Jerusalemer Tempel zu Ende und er ist auf dem Heimweg.
Von dem genannten „Levit“ ist nicht gesagt, in welcher Richtung er geht. Auch er ein religiöser Jude, der am Jerusalemer Tempel schichtweise Dienst tut.
Und dann ist ein sogenannter „Samariter“ genannt. Also ein Mensch aus Samarien, dem Gebiet westlich des Jordans zwischen Galiläa im Norden und Judäa im Süden. „Samariter“ oder „Samaritaner“ waren seit den babylonischen Deportationen und Umsiedlungen eine Bevölkerung vielfältiger Herkunft mit einer neu gemischten Religion – von Juden weitgehend gemieden und verachtet. (Landkarte aus: Der Bibel-Atlas, © 1991 Hoffmann und Campe) Ein solcher Mann aus Samarien ist hier auf der Reise durch Judäa.
So weit zunächst zu Ort und Personen der Geschichte.
Und was ist das fiktive Geschehen, von dem Jesus erzählt?
Nehmen wir an, da liegt auf der Straße ein Mann, ausgeraubt, niedergeschlagen, halbtot. Und jetzt kommen nacheinander drei Personen dazu: Priester, Levit, Samaritaner. Jesus beschreibt, wie sie sich verhalten: Der Priester sieht ihn liegen und geht weiter. Ebenso der Levit. Und der Samaritaner nimmt sich des halbtot Daliegenden an und scheut keinen Aufwand, ihm zu helfen.
Alle drei verhalten sich ungewöhnlich; jedenfalls anders, als man es von ihnen erwarten würde. Was will Jesus damit sagen?
Der Priester, Diener am Tempel, Mann Gottes, der Gottes Willen lehrt und weiß, dass es danach am wichtigsten ist, Menschen im Elend zu helfen – er geht vorbei. Seltsam: Die meisten heutigen Erklärungen dieser Geschichte gehen davon aus, dass der Priester auf dem Weg zum Tempel ist und wahrscheinlich deshalb vorbeigeht, weil er rechtzeitig seinen Dienst beginnen muss. Dabei sagt aber Jesus im Text, dass er den Weg von Jerusalem „herab“ kommt. Wird da der „Priester“ als „Kollege“ gesehen, dessen unerwartete Unmenschlichkeit man beschönigen und rechtfertigen will?
Das Verhalten des Leviten ist weniger prägnant einzuordnen, aber auch er ist ein Vertreter der offiziellen Religion. Wenn Jesus ihn nach dem Priester noch anfügt, so habe ich den Eindruck, das tut er, um deutlich zu machen, dass er diesen Priester nicht als Einzelfall meint.
Und dann kommt der Samaritaner. Von ihm würde man am wenigsten erwarten, dass er dem Verletzten Beistand leistet, schon gar nicht mit solchem aufwändigen Einsatz.
Die Absicht, mit der Jesus die Geschichte so erfindet, ergibt sich aus dem Zusammenhang der Situation. Da läuft etwas, was ihm zum Anlass wird für diese Erzählung:
In jener Zeit
stand ein Gesetzeslehrer auf,
um Jesus auf die Probe zu stellen,
und fragte ihn:
Meister, was muss ich tun,
um das ewige Leben zu erben?
Jesus sagte zu ihm:
Was steht im Gesetz geschrieben?
Was liest du?
Er antwortete:
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
mit deinem ganzen Herzen
und deiner ganzen Seele,
mit deiner ganzen Kraft
und deinem ganzen Denken,
und deinen Nächsten
wie dich selbst.
Jesus sagte zu ihm:
Du hast richtig geantwortet.
Handle danach und du wirst leben!
Der Gesetzeslehrer
wollte sich rechtfertigen
und sagte zu Jesus:
Und wer ist mein Nächster?
(Lukas 10,25-29)
Darauf antwortet Jesus mit dieser Erzählung. Was ist seine Antwort? Was will er mit der Geschichte dem fragenden Gesetzeslehrer sagen?
Der hatte ja mit seiner Frage eine ganz bestimmte Absicht: Erst einmal wollte er Jesus „auf die Probe stellen“. Inwiefern? Vermutlich wollte er Jesus aufs Glatteis führen, um ihm endlich nachweisen zu können, dass er mit seiner Verkündigung und seinem Tun gegen das Gesetz verstößt.
Wie antwortet Jesus auf die ihn herausfordernde Frage?
Als erstes wirft er den Ball zurück und verweist den Gesetzeslehrer auf das Gesetz, in dem der ja schließlich ein Fachmann ist. Wahrscheinlich ist der Gesetzeslehrer erst einmal verblüfft, dass Jesus die Autorität des Gesetzes nicht ignoriert, vielmehr sich mit seiner Rückfrage gerade darauf bezieht. Jetzt ist er der, dessen Vertrautheit mit Gottes Gesetz auf die Probe gestellt wird. Jetzt soll er sagen, was er selber verstanden hat, worauf es beim sogenannten „ewigen Leben“ mit Vorrang ankommt.
Er antwortet, und Jesus freut sich über seine Antwort. Es ist klar geworden – unabhängig davon, wie „ewiges Leben“ zu verstehen sei: Das wichtigste jedenfalls ist: Wenn man sich das von Gott erhofft und wenn man das als Zugang zu Gott und zum ewigen Leben verkündet, – das Wichtigste ist eine wirkliche Liebe zu Gott und eine Liebe zum Nächsten, die der Selbstliebe gleichkommt – eine Liebe, die sich im entsprechenden Verhalten zeigt und bewährt.
Handle danach und du wirst leben!
Der Gesetzeslehrer
wollte sich rechtfertigen
und sagte zu Jesus:
Und wer ist mein Nächster?
Anscheinend fühlt er sich in die Enge getrieben. Sein Versuch der Kritik an Jesus fällt jetzt auf ihn selber zurück. Wahrscheinlich ins Schwitzen gekommen, sucht er seine Rechtfertigung in der Abgrenzung, die auf den ersten Blick zwingend logisch erscheint:
Ist ja gut und schön. Aber ich kann mich ja nicht allen Menschen auf dieser Erde in Liebe zuwenden. Irgendwo muss ich doch die Grenze ziehen, bis wo das Erfordernis liebevoller Zuwendung zu anderen auch mich persönlich verpflichtend angeht. Und Gott selber im Gesetz ruft ja auch nur auf, den Nächsten zu lieben. Wo darf und muss ich also die Grenze ziehen, wer „mein Nächster“ ist und wer nicht?
Als Antwort belehrt Jesus ihn nicht demütigend. Sondern einfühlsam wie immer, wenn Menschen sich offen auf die Auseinandersetzung mit ihm einlassen, erzählt er als fiktives Beispiel die Geschichte um den unter die Räuber Gefallenen.
So weit, wie ich das vor drei Jahren verstanden und dargelegt habe.
Und was ergibt sich daraus für uns heute, worauf Jesus hinaus will mit dieser Geschichte?
In der Fragestellung des Gesetzeslehrers steht das „Ich“ im Zentrum der Aufmerksamkeit: „Was muss ich tun …? Wenn ich das ewige Leben anstrebe?“
In der Tat: Ich kann mich nicht allen Menschen auf dieser Erde in Liebe zuwenden.
Bei der Moral der Einzelperson stehenzubleiben, entspricht der Logik, die eine gute Bewertung meines Verhaltens sucht oder auch eine schlechte des Verhaltens anderer.
Jesus nimmt eine andere Blickrichtung ein: Seine Perspektive für die Frage nach liebender Hilfe zu gelingendem Leben setzt beim Menschen an, der aus einer Notlage gerettet werden muss. Der Frage des Gesetzeslehrers stellt er mit seiner Geschichte also die andere Frage entgegen:
Wer von diesen dreien, meinst du,
ist dem der Nächste geworden,
der von den Räubern
überfallen wurde?
Der Gesetzeslehrer antwortete:
Der barmherzig
an ihm gehandelt hat.
Da sagte Jesus zu ihm:
Dann geh und handle du genauso!
(Lukas 10,25-37)
Da wird klar: Wenn über die Zufälligkeiten meiner persönlichen Begegnungen hinaus und über meine persönlichen Möglichkeiten hinaus allen Menschen in Not so gut es geht geholfen werden soll – und wenn ich dafür durch mein Handeln auch über die Abgrenzungen zwischen Nächsten und Nicht-Nächsten über nationale, familiäre, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeiten hinaus dafür sorgen will, – dann muss ich mich dafür politisch engagieren. So dass das Gemeinwesen sich diese Zielsetzung zu eigen macht und durch entsprechende Regeln in reales Handeln und Geschehen umsetzt.
Ein Impuls, mit dem ein solcher Prozess in Gang gesetzt werden kann, ist die öffentliche Anerkennung und Wertschätzung von Rettungsmaßnahmen, bei denen auf eine Vorrangstellung von Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Standard-Gruppe verzichtet wird, sondern allein der Mensch in Not zählt.
Beispiel: Am 13. November 2018 starb in Frankfurt der 17-jährige Schüler Alptuğ Sözen bei dem Versuch, einen hilflosen Mann aus dem Gleisbett an der S-Bahn-Station Ostendstraße zu retten. Nachdem er den Mann von den Gleisen geholt hatte, wurde Alptug Sözen von einer S-Bahn erfasst und dadurch tödlich verletzt. Ein Muslim mit türkischer Herkunft. Pressemedien aller Art berichteten darüber. Eine Gedenktafel in der S-Bahn-Station erinnert wertschätzend an Alptuğ Sözen und an sein selbstloses Verhalten. Ein öffentlicher Impuls gegen Abgrenzungen aller Art, der den Willen im Gemeinwesen zum Beistand für Menschen in Not fördern kann.
Bereits 1998 hatte auf dem Hessentag der damalige Limburger Bischof Franz Kamphaus darauf aufmerksam gemacht, dass die Kirche gerne in der Rolle des „barmherzigen Samariters“ gesehen wird. Aber, so sagte er:
„Wir dürfen uns als Kirche nicht in eine Ecke abdrängen lassen, wo wir sozusagen als Lazarett – Caritas, Diakonie – als Lazarett-Station ganz gut sind, aber in den Fragen ‚Was bringt denn die Leute dahin, dass sie nicht mehr weiterkommen? Was macht Menschen kaputt?‘ – da können wir uns nicht zu Wort melden? – Das geht nicht! Wir müssen auch die konkreten Zustände, die nicht rechtens sind und die nicht gut sind, beim Namen nennen! … Wir haben – und das hat Jesus ja durchaus auch getan – wir haben weiterzudenken: Was passiert denn, wenn der gute Mann, der unter die Räuber gefallen ist, wieder auf die Beine kommt, den Weg von Jericho nach Jerusalem zurückgeht und wieder unter die Räuber fällt?! Das heißt: Es genügt nicht, sich um die Wunden zu sorgen, sondern es geht auch um die Strukturen: Die räuberischen Strukturen müssen ins Auge gefasst und benannt werden. Dafür sind wir als Kirche auch da, und insofern verstehe ich das Einmischen in politische Zusammenhänge.“ (aus Bericht vom Hessentag von hr 1 am 24.06.1998)
Und aus unseren Tagen: Diverse Pressemedien berichteten von Spannungen zwischen dem Vatikan und der US-Regierung. Papst Franziskus hatte in einem Brief die Abschiebungen von Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere scharf kritisiert. (https://www.katholisch.de/artikel/59539-papst-brief-zu-massenabschiebungen-weckruf-fuer-weisse-us-katholiken) Und die Aussage des US-Vizepräsidenten J.D.Vance, US-Amerikaner müssten sich zuerst um ihre Familien und ihr Land kümmern, wies Papst Franziskus entschieden zurück und verwies auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Darin gehe es um Geschwisterlichkeit, die allen ohne Ausnahme offenstehe.
Wie wird unser gemeinsamer Weg aussehen?
