Sonntagsbotschaft zum 29. September 2024, dem 26. Sonntag im Jahreskreis B (Lesejahr B).
Wenn ich in die „Wirklichkeit“ schaue – also möglichst in das Gesamt von all dem, was in der Welt „wirkt“ – , dann drängt sich meiner Wahrnehmung zuerst einiges auf, worauf auch die öffentliche Darstellung in den Medien meine Aufmerksamkeit lenkt:
Ängste machen von sich reden. Ein Drang nach dringend nötigen Veränderungen und zugleich Angst vor Veränderung.
Vertrauen in die Personen mit leitender Verantwortung hat schwer nachgelassen. Ebenso das Vertrauen in Regeln und Institutionen, die bis vor kurzem noch als bewährt galten.
Menschen beklagen, dass sie im Gemeinwesen nicht zählen, nicht gehört werden und zu kurz kommen; dass „die da oben“ – über ihre Köpfe hinweg – tun, was sie wollen.
Da werden Probleme und Belastungen schnell denen angelastet, die auf sie aufmerksam machen und die Weichen stellen wollen für ihre Lösungen, – Wege, die natürlich Veränderungen und Mühen mit sich bringen.
Deshalb zeigen dann Umfragen in der öffentlichen Stimmung vor allem Unzufriedenheit und Ablehnung.
Und wenn das als alternativer Lösungsweg schmackhaft gemacht wird, erweist es sich schnell als wenig durchdacht und als lediglich aufs vermeintlich eigene Interesse fokussiert. Das findet dann schnell Sympathisanten, entwickelt eine eigene Dynamik und will sich durchsetzen. Hass und Gewalt machen sich im Alltag breit.
Jeweils in bestimmten „Parteien“ sehen Menschen Sachwalter solcher Kräfte, die vermeintlich „Partei“ für sie ergreifen und denen sie daher mehr oder weniger Vertrauen entgegenbringen. Der Blick fürs Ganze und für die Zusammenhänge zwischen seinen Teilen geht im Streit dieser „Parteien“ um die Vorherrschaft weitgehend unter. Das Verständigen über einen weitgehend gemeinsam geteilten politischen Willen und über Wege dahin mit Hilfe von Abwägen, Begründen und Argumentieren gerät unter die Räder eines kurzsichtigen platten Durchsetzungswillens. Die Steinzeit lässt grüßen.
Das sogenannte „Volk“, dem in der „Demo-Kratie“ das „Herrschen“ zukommt, sieht sich durch „Parteien“, also durch Teile des Ganzen, und durch die von ihnen gestellten gewählten Vertreter zunehmend abgekoppelt.
Für viele sieht die Entwicklung so aus, als sei aus der gesetzlich vorgesehenen „Mit-Wirkung“ der Parteien (vgl. § 1 Parteiengesetz) bei der politischen Willensbildung des Volkes ihre exklusive Zuständigkeit für alle politischen Entscheidungen geworden, neben der das Volk nichts mehr zu sagen habe.
Dieser Eindruck paart sich dann schnell mit der Unterstellung, da könne nur noch eine finanzstarke Lobby erfolgreich hineinwirken, was natürlich möglichst intransparent gehalten werde. Kein Wunder, wenn dann Verschwörungsmythen wuchern.
Verantwortungsbewusste Beteiligung an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung läuft zunehmend ins Leere, obwohl in Deutschland wie in vielen anderen Gegenden Europas auch außerhalb der politischen Parteien vereinigte Teile des Volkes sehr engagiert ihre Stimme erheben.
Das Durchsetzen von Machtansprüchen konzentriert sich zunehmend auf Personen, die Eindruck machen, und entfernt sich vom Maßnehmen an politischen Zielen, die als relevant allgemein anerkannt sind wie etwa die in der Verfassung festgelegten Werte und Güter, Rechte und Freiheiten.
Imposant reden wirkt mehr als überzeugendes Argumentieren.
Sind wir auf dem Weg weg von Demokratie hin zu Autokratie?
Darum geht es in den Bibeltexten dieses Sonntags! So höre ich sie jedenfalls auf dem nicht überhörbaren Hintergrund der drei Landtagswahlen dieses Monats in Deutschland und der nun folgenden Regierungsbildungen.
Es mag ja verblüffend sein und für manche Ohren geradezu lächerlich klingen. Aber zu diesem Problemfeld halte ich es für hilfreich, an das zu erinnern, besser gesagt: neu auf das hinzuhören, was die Bibel dazu als Gottes Wegweisung anbietet. Ich halte es für wichtig – auch wenn es für viele ungewöhnlich ist – , dafür aufmerksam zu sein.
Gott – soweit es überhaupt möglich ist, etwas „Richtiges“ über ihn auszusagen – ER hat sowohl das große Ganze im Blick als auch jeden einzelnen Menschen, sicher also auch die Zusammenhänge, die wichtig sind für ein gelingendes Miteinander der Individuen im Gemeinwesen.
Nach diesen Zusammenhängen frage ich ihn.
Da ist – gerade an diesem Sonntag – im Buch Numeri, dem 4. Buch des Mose, die Rede von einer Etappe auf der Wüstenwanderung des alten Volkes Israel.
Ihr Start liegt schon eine Weile zurück. Die Unterdrückung in Ägypten und die extremen Belastungen, unter denen sie dort zu leiden hatten, sind zum Glück schon Vergangenheit. Der Jubel über die Befreiung aus ihrem Elend durch Mose in Gottes Auftrag ist nun den neuen Beeinträchtigungen gewichen, mit denen sie sich auf dem Weg durch die Wüste herumschlagen müssen.
Unter diversen Belastungen, die dieser Weg in die Freiheit ihnen mit sich brachte, fangen sie an, die alten Zeiten ihrer Ausbeutung in Ägypten schönzureden. Sie jammern:
„Wenn uns doch jemand
Fleisch zu essen gäbe!
Wir denken an die Fische,
die wir in Ägypten
umsonst zu essen bekamen,
an die Gurken und Melonen,
an den Lauch,
die Zwiebeln und den Knoblauch –
nichts bekommen wir zu sehen
als immer nur Manna!“
(Numeri 11,4c-6)
Die Stimmungsmache solcher Worte hat der bayrische Humorist Karl Valentin köstlich nachempfunden mit seinem Alois, dem Stammgast im Münchner Hofbräuhaus, der inzwischen verstorben und im Himmel als Engel Aloysius angekommen ist. Motzend verlangt er dort nach einer Maß Bier, bekommt aber angeboten:
Sie werden Ihr Manna schon bekommen.
Au weh, des werd schee fad.
Mei Lieber, da moin i, da bin i neitretn.
Mei Lieber, a Manna, hot er gsogt,
a Manna krieget i.
Mei Lieber, damit mer gehst,
mit deim Manna, gell!
Mose weiß: In einer solchen Stimmungslage das Volk zusammenzuhalten für den weiteren Weg in die Zukunft, das wird schwierig. Sie machen ihn verantwortlich für alles, was ihnen zusetzt. Widerstand kommt auf. Obwohl es im damaligen Orient das Normalste von der Welt war, dass man sich einem Stammesführer wie Mose unterordnet. Vor allem wenn er doch anerkannt war als von Gott dazu berufen.
Was tut also Mose?
Er geht einen ersten Schritt auf das Volk zu. Sie sollen durch einen neuen Führungsstil merken, dass sie bei anstehenden Entscheidungen gehört und beteiligt werden. Er wählt siebzig Personen seines Vertrauens aus. Sie versammelt er, um die anstehenden Entscheidungen gemeinsam zu treffen und zu tragen. Vielleicht eine Vorstufe zu dem, was heute „demokratisch“ oder „synodal“ und „partizipativ“ heißt.
Und die biblische Erzählung macht klar: Gott sagt zu, dass er den Geist der Weisheit, den Mose ihm verdankt, auch ihnen allen gibt. Allen, die von den anstehenden Entscheidungen betroffen sind, wird die Teilhabe an Gottes Geist und an der entsprechenden Kompetenz zuerkannt.
Mose ist zwar skeptisch, ob das was bringt. Wahrscheinlich macht er sich Gedanken, wohin das denn führt, wenn man sie alle mitreden lässt, und wie lange das dann dauert, bis eine Entscheidung zustande kommt. Aber er ruft die Siebzig aus dem Lager heraus zum sogenannten Offenbarungszelt. Und sie kommen.
Der Herr kam in der Wolke herab
und redete mit Mose.
Er nahm etwas von dem Geist, der auf ihm ruhte,
und legte ihn auf die siebzig Ältesten.
Sobald der Geist auf ihnen ruhte,
redeten sie prophetisch.
Was heißt das: „prophetisch reden“? Im hebräischen Original, ähnlich auch in anderen altorientalischen Sprachen, stecken in dem Wortstamm nibbá beziehungsweise naví‘ Vorstellungen von Menschen, die etwas ausrufen, unter tiefem Einatmen ausstoßen, brummen, ja bellen oder begeistert verkünden – bis hin zur Raserei.
Das unterscheidet sich ziemlich von dem, was wir in der Neuzeit im Gegensatz zu „emotional“ als „sachliches“ Diskutieren schätzen. (Wobei „sachlich“ und „emotionslos“ auch schnell „gefühllos“ werden kann.)
Die griechische Übersetzung profétes mit der Verbform pró-femi – „ich spreche aus“, „ich tue kund“ – verbindet das in der Bibel mit dem, was Gott sagen lässt: Von wem gesagt wird, dass er „prophetisch redet“, dessen Worte sind anerkannt als von Gott inspiriert.
Der „Prophet“ ist von Begeisterung ergriffen, von Gottes Geist bestimmt. Was er da sagt, leuchtet ein als in Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Verfassung des Volkes, das auf den Gott baut, der sie aus Unterdrückung und Unrecht in die Freiheit führt.
Die Beratungen dieser Versammlung der Siebzig mit Mose charakterisiert die Schriftlesung mit diesem Wort: „Sie redeten prophetisch.“
Der Bibelabschnitt erzählt dann von einem Zwischenfall:
Zwei Männer aber
waren im Lager geblieben;
der eine hieß Eldad, der andere Medad.
Auch über sie kam der Geist.
Sie gehörten zu den Aufgezeichneten,
waren aber nicht
zum Offenbarungszelt hinausgegangen.
Auch sie redeten prophetisch im Lager.
Ein junger Mann lief zu Mose
und berichtete ihm:
Eldad und Medad sind im Lager
zu Propheten geworden.
Da ergriff Josua, der Sohn Nuns,
der von Jugend an
der Diener des Mose gewesen war,
das Wort und sagte:
Mose, mein Herr, hindere sie daran!
Doch Mose sagte zu ihm:
Willst du dich für mich ereifern?
Wenn nur das ganze Volk des Herrn
zu Propheten würde,
wenn nur der Herr
seinen Geist auf sie alle legte!
(Numeri 11,25-29)
Mose soll sich an die Grenze halten: Wer sich nicht an dieser Versammlung, an diesem Teil, dieser „Partei“ des Volkes beteiligt, soll auch nicht Gehör und Anerkennung finden: „Hindere sie!“
Doch Mose denkt schon weiter, sieht schon weiter: Schon gibt er sich nicht mehr zufrieden mit dieser Versammlung, deren Zusammensetzung er – ziemlich patriarchalisch – bestimmt hat. Ob er gar schon an ein Parlament denkt, dessen Abgeordnete vom Volk gewählt sind?
Seine Sehnsucht nach Gottes Herrschaft fürs Volk sieht visionär anscheinend schon die Teilhabe des ganzen Volkes an Entscheidungen, die sie alle betreffen: Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!
Da ist er im Alten Testament nicht der Einzige. Der Prophet Joël zum Beispiel verkündet Gottes Vision so:
Ich werde meinen Geist ausgießen
über alles Fleisch.
Eure Söhne und Töchter
werden Propheten sein,
eure Alten werden Träume haben
und eure jungen Männer haben Visionen.
Auch über Knechte und Mägde
werde ich meinen Geist ausgießen …
(Joël 3,1-2)
Und auch im Neuen Testament gehört wiederholt zu dem Bild vom Ziel der Geschichte, wenn endlich Gottes Wille vollendet geschieht, dass die Menschen des Volkes „mit ihm herrschen“ (z.B. 2 Tim 2,12; Offb 5,10; 20,6; 22,5), dass sogar Gott selbst sie an seinem Herrschen teilhaben lässt.
Und an diesem Sonntag ist aus dem Evangelium eine Erzählung zu hören, die der in der Ersten Lesung gehörten Szene aus dem alten Buch Numeri sehr ähnlich ist:
In jener Zeit
sagte Johannes, einer der Zwölf, zu Jesus:
Meister, wir haben gesehen,
wie jemand in deinem Namen
Dämonen austrieb;
und wir versuchten, ihn daran zu hindern,
weil er uns nicht nachfolgt.
Jesus erwiderte: Hindert ihn nicht!
Keiner, der in meinem Namen
eine Machttat vollbringt,
kann so leicht schlecht von mir reden.
Denn wer nicht gegen uns ist,
der ist für uns. …
(Markus 9,38-40)
Wer nur mit anderer Motivation oder in anderen Strukturen – Parteien, Verbänden, zivilgesellschaftlichen Initiativen, … – die gleichen Ziele und Werte anstrebt wie wir, wenn auch vielleicht anders – … „hindert ihn nicht!“
Gemeinsame Schnittmengen mit anderen können wir als Chancen erkennen und nutzen, um Dämonisches, Unmenschliches zu entmachten. Gottes Geist kann doch auch die erfüllen, die sich nicht uns angeschlossen und bei uns eingefügt haben. Statt sie hindern zu wollen, sie abzulehnen oder zu ignorieren, nehmen wir sie vertrauensvoll zur Kenntnis, kooperieren und koalieren mit ihnen. Das stärkt die Mitbestimmung in demokratischer Zivilgesellschaft. Das dient der fairen Auseinandersetzung. Gottes Vision von gelingender Menschlichkeit in dieser Welt bekommt dann neue Chancen!
Da kann man nur hoffen:
- In jenen Tagen wird es geschehen,
ich gieße aus meinen Geist
über alles Fleisch.
Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein,
eure Alten werden Träume haben
und eure jungen Männer Visionen. - Auch über Knechte und Mägde
werde ich meinen Geist ausgießen
in jenen Tagen.
Ich werde wunderbare Zeichen wirken
am Himmel und auf der Erde. - Dann werdet ihr erkennen,
dass ich der Herr, euer Gott, bin,
Wer den Namen des Herrn anruft,
wird gerettet.
Mein Volk
braucht sich nie mehr zu schämen.
(Joël 3,1-3; 2,27)
Kehrvers:
Sende aus deinen Geist,
und das Antlitz der Erde wird neu!
(vgl. Psalm 104,30)