Sonntagsbotschaft zu diesem politisch aufgewühlten 10. November 2024, (dem 32. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr B) – zugleich: eine Illustration zum Motto der KAB „sehen, urteilen, handeln“
Aufregende Tage: Doch Trump neuer US-Präsident! Crash der Ampelkoalition! Wer redet jetzt noch vom Jahrestag der Reichspogromnacht oder vom Jahrestag des Mauerfalls oder über so vieles, was dringend zu lösen wäre! Und: Menschen haben sehr unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen zu all dem, was da gerade geschieht!
Ähnlich aufregende Tage müssen das damals gewesen sein, von denen die Bibel erzählt. Markus-Evangelium 12. Kapitel. In Jerusalem. Die Auseinandersetzung spitzt sich zu: Auf der einen Seite Jesus mit seiner Sichtweise, worauf es Gott für die Menschen ankommt. Auf der anderen Seite die Autoritäten mit ihrem religiös etikettierten Machtanspruch. Auf dem Tempelplatz prallen die Sichtweisen aufeinander.
Von Jesus heißt es:
Es war eine große Menschenmenge versammelt
und hörte ihm mit Freude zu.
Jesus sagt:
Nehmt euch in Acht vor den Schriftgelehrten!
Die stehen in irgendwelchen anderen Ecken des Tempelvorhofs und reden auf die Leute ein. „Nehmt euch in Acht vor ihnen!“, sagt Jesus zu denen, die ihm zuhören. Warum? Was ist das Gefährliche an ihnen?
Was sie tun, tun sie, um selber gesehen, angesehen und geehrt zu werden. Und noch schlimmer:
Sie fressen die Häuser der Witwen auf
und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete.
Was für eine schroffe Sprache! Was Jesus hier sagen will, brennt ihm offensichtlich unter den Nägeln!
Typisch für Gott schon im gesamten Ersten Testament ist es ja, dass er besonders die sozial Ungesicherten schützt – die Fremden, Waisen und die Witwen, wie es immer wieder heißt – und ihnen Recht verschafft.
Diese in der Bibel gelehrten Männer aber machen anderen moralische Vorschriften und reißen selber in asozialer Frechheit das an sich, wovon die Witwen leben, die damals ansonsten ohne Schutz waren. Nur zum Schein nehmen sie Gottes Wort aus der Schrift in den Mund. Da sie Einfluss geltend machen wollen, missbrauchen sie scheinheilig Gottes Wort und instrumentalisieren es für ihr eigenes Interesse und für das Gegenteil von dem, was Gott will!
Wer die Augen aufmacht, kann das selber sehen – auch wenn andere das zu verschleiern verstehen. Und wer selber nach Gottes Maßstäben fragt, kann selber hören, was Jesus da als seine Beurteilung ausspricht. Deswegen ruft Jesus den Menschen zu: Nehmt euch in Acht! Lasst euch nicht fromm oder gelehrt Erscheinendes einreden, sondern prüft die Vertrauenswürdigkeit, schaut und hört selber hin und bezieht eigenverantwortlich Stellung!
Und als Kontrastbeispiel macht Jesus dann aufmerksam auf eine arme Witwe, die – wie viele andere auch – Geld in den sogenannten Opferkasten wirft:
… Viele Reiche kamen und gaben viel.
Da kam auch eine arme Witwe
und warf zwei kleine Münzen hinein.
… Diese arme Witwe –
so betont Jesus gegenüber seinen Jüngern – sie
hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen
als alle anderen.
Denn sie alle
haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen;
diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat,
sie hat alles hergegeben, was sie besaß,
ihren ganzen Lebensunterhalt.
(Markus 12,38-44)
Der sogenannte „Opferkasten“ war eine trichterförmige Öffnung zum Einwurf in die sogenannte „Schatzkiste“ des Tempels. Daraus wurden die Bedürftigen in Gottes Namen unterstützt. Da hinein wirft die Frau, die Jesus mit seinem Blick als „arme Witwe“ beachtet, als ihren „Beitrag“ zwei „kleine Münzen“ ein.
Welchen Wert haben die zwei Münzen?
Auch in der heutigen Euro-Währung dürfen die Griechen als einzige EU-Nation die Cent-Münzen abweichend „Leptá“ nennen. Schon in der Antike war ein Leptón der Wert der kleinsten Kupfermünze. Auch heute ist das so wenig, dass Griechen lieber auf- oder abrunden, als Beträge unter 5 Leptá zu kassieren oder zu bezahlen. Von der armen Witwe im Markus-Evangelium wird gesagt, sie hat zwei Münzen zu jeweils einem Leptón eingeworfen.
Den Wert dessen, was sie tut, misst Jesus aber nicht am Geldwert der Münzen, sondern im Zusammenhang ihrer Lebenssituation und ihrer Möglichkeiten. Er nennt es „alles, was sie besaß“ und „ihren ganzen Lebensunterhalt“ – im griechischen Original noch krasser: „όλον τον βίον αυτής“ – wörtlich übersetzt: „ihr ganzes Leben“. Für Gottes Absichten, denen der „Opferkasten“, die „Schatzkiste“ dient, investiert sie also „alles“, man könnte sagen „sich selber ganz und gar“ – in der gleichen Art, wie Jesus selber sich mit seinem ganzen Leben hingibt, um Gottes Absichten zu verwirklichen.
Schriftgelehrte der Art, wie sie hier dargestellt sind, würden mit ihrem Blick vielleicht sagen: Diese Frau erfüllt halt irgendwie ihre moralische Pflicht.
Jesus aber betrachtet, was sie tut, im Zusammenhang mit ihrer ganzen Geschichte. Zu diesem Blick für die persönlichen Gegebenheiten des Menschen, gepaart mit höchster Achtung und Wertschätzung, – zu diesem Blick für den konkreten Menschen bewegt Jesus seine Jünger.
Er warnt die Menschen vor der irreführenden Wirkung, die bei ihnen ein unbedachtes, blindes Vertrauen zu den Schriftgelehrten auslösen könnte. Sie verstehen es ja, den Anschein von Ehrbarkeit und Frömmigkeit zu erwecken, so dass die Menschen ihnen vertrauen. Jesus will die Menschen, die ihn hören, davor bewahren, diesen Schriftgelehrten mit ihrer Sichtweise auf den Leim zu gehen. Er bewegt sie dazu, die Augen aufzumachen und an Hand des Verhaltens der Schriftgelehrten selber neu zu entscheiden, ob sie ihnen vertrauen wollen. Er ermutigt sie dazu, sich nicht blenden zu lassen durch öffentliche Anerkennung oder durch machtgeiles Wahlkampfgetöse oder auch durch zur Schau getragene Frömmigkeit, sondern einen Blick zu entwickeln für das, was Menschen wirklich bewegt, und auch einen Blick zu haben für die Umstände, die ihr Leben bestimmen.
So steckt Jesus zu seiner Sichtweise an, die alle hohle Frömmelei entmachtet und für Gottes Menschenfreundlichkeit von neuem den Weg bereitet.
Das passt natürlich denen nicht, die von der alten Sichtweise profitieren; deshalb muss er ans Kreuz.
Wer aber an seine Auferstehung glaubt, beteiligt sich gerne an seinem Weg. Es ist die Haltung, die aus Liebe zu Gott Jesus „mit Freude“ zuhört und an Gottes Liebe zum Menschen Anteil nimmt, wie sie der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi den Christen ans Herz legt:
Seid untereinander so gesinnt,
wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht:
Er war Gott gleich,
hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein,
sondern er entäußerte sich
und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich
und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der größer ist als alle Namen.
(Philipper 2,5-9)