Unerwartet erhielt ich per Post das Buch „Musik in den monotheistischen Religionen. Reflexionen zur ästhetischen Funktion sakraler Musik“ mit einem Interview der Luzerner Kirchenmusikerin Ulrike Grosch: „Wir betreiben beruflich permanent ‚kulturelle Aneignung‘ ‘‘ (Seiten 217-222)
Neugierig aus der Geschichte unserer freundschaftlichen Verbundenheit im Themen- und Lebensbereich „Singen und Glauben“ las ich zuerst das Interview. In der Freude, dadurch weitergeführt und bestärkt zu werden, bewegte mich dann die Frage nach dem Zusammenhang des ganzen Buches. Ich las also das Vorwort. Schließlich nutzte ich jede freie Stunde für das Lesen des ganzen Buches.
1. Kunst und Lebensvollzug
Zum Hintergrund: Jahrzehnte nach ursprünglicher Bekanntschaft in der Kirchengemeinde trafen Ulrike Grosch und ich 2015 wieder zusammen und kamen ins Gespräch über das Psalmensingen und auf mein Problem der Unterscheidung zwischen „gekonntem Singen“ und „authentisch“ gesungenem Psalmengebet: „Kunstfertigkeit oder Lebensvollzug“. Ich erzählte von meinem durchlittenen Konzertbesuch in der Frankfurter Alten Oper mit „Queen Esther Marrow and the Haarlem Gospel Singers“ (2014). Deren Gesang hatte mich begeistert. Aber – meinen die auch, was sie singen? Oder machen die das „nur“ wegen ihrer Freude am Können, am Applaus und dem Geld, das sie dafür kriegen? Dabei hätte ich mich gerne dem Einfluss hingegeben, mit dem der Gesang an mir rüttelte! Ulrike Grosch lud mich daher nach Luzern ein zum dortigen von ihr gegründeten und geleiteten Collegium Vocale: Vielleicht könne sich mir da die Verbindung von Kunst und Lebensvollzug erschließen. – Das war sehr erfolgreich!
Nun las ich in dem Interview: „Musik, die ich nicht voll und ganz verkörpere – mit der ich mich im Moment der Probe, des Konzerts oder des Gottesdienstes nicht identifiziere –, wird nie überzeugend sein. Es betrifft meiner Ansicht nach die Frage von Kunst und Lebensvollzug …“ (S. 220). Bei der Zusammenstellung eines Konzerts beachte sie auch, inwieweit die singenden Menschen „einen guten Zugang zu den Texten“ haben (S. 217). „Die eigentliche Kunst und das besonders Spannende“ beim Interpretieren „von Komponistinnen und Dichtern mit anderen Weltanschauungen“ sehe sie „im Versuch, ein Stück angemessen zu interpretieren“. Das sei „gewissermaßen beruflich bedingt permanent ‚kulturelle Aneignung‘ … im Bewusstsein der Unterschiede und mit Respekt davor, auch mit Neugier und auf Augenhöhe …“ (S. 218). Im Unterschied dazu: „… in einem Gottesdienst … gestalten wir … Liturgie mit … Mir als Kirchenmusikerin fällt innerhalb der Liturgie damit die Aufgabe einer musikalischen Verkündigung zu, und die versuche ich so überzeugend wie möglich zu vermitteln – und zu leben. Meine spezifische Professionalität erlaubt mir, hierfür auch einen eigenen musikalischen … Zugang zu wählen.“ (S. 219).
Meine Einsicht hieraus, bezogen auf bisherige Erfahrungen und Sichtweisen, die ich jetzt klarer benennen kann:
Ein Konzert – sowohl als Rezipient als auch in „performativer“ Aufgabe – gibt Gelegenheit, das Identifizieren mit dem Gesungenen oder der Musik „auszuprobieren“.
Anders im liturgischen Vollzug eines Gottesdienstes: Da erwarte ich ein „identifiziertes“ Singen damit beauftragter Personen und Gruppen. Wenn ich gemeinsam mit Anderen liturgisch singe, aus deren Art zu singen ich eine entsprechende Haltung verspüre, bewirkt das bei mir als Mitsingendem dann ein neues Rezipieren, auf das ich wiederum reagieren kann – etwa: Wie gut, dass ihr das auch so meint; das bestärkt mich!
Analog erlebe ich das bei meiner Art des Stundengebets als Einzelner und zugleich (in der „Dimension“ der „Ewigkeit“, des „himmlischen Jerusalem“) in großer Gemeinschaft, stellvertretend-symbolisch realisiert um meinen 6-Plätze-Runden-Tisch. Wenn ich da zum Beispiel am Morgen in der Laudes beim Benedictus laut singe – quasi als Vorsänger – „Und du, Kind, wirst Prophet des Höchsten heißen“, kann es sein, dass ich mich als „Lautsprecher“ für Zacharias oder für den durch ihn sprechenden Geist erlebe und sofort als dadurch selbst angesprochen das von mir laut Gesungene „rezipiere“. Was dann mein Selbstverständnis berührt. Wenn danach „die andere Seite“ den nächsten Vers „singt“, was ich still imaginierend höre, „denn du wirst dem Herrn vorangehn und ihm den Weg bereiten“, dann bewegt mich möglicherweise in der „Asteriskus“-Pause nach diesem Halbvers die Frage „Wohin soll ich, sollen wir denn ihm vorangehen? Wo? In Bezug auf welche Situation oder Wirklichkeit?“ …
Im gezielt „gläubigen“ (= aktuell möglichst identifizierten), liturgischen Vollzug des Stundengebets singe ich – jeweils neu – die Psalmen und anderen Gesänge. Nicht systematisch reflektiert, aber ausführlich beschrieben habe ich das in meinem Buch „Mit den Psalmen lebt sich’s anders“ (2016), besonders im Kapitel „Das Leben singend atmen“ (S. 137ff). Im lauten Singen mit entsprechendem Gang des Atems können meine unterschiedlichsten inneren Regungen kommunikative Gestalt annehmen: Dem, den ich da mit Du anspreche, halte ich meine Ungeduld vor oder meine Sehnsucht oder meine Freude, mein Warten und Fragen – manchmal mit der entsprechenden emotionalen Dynamik, zwar im Sprechrhythmus und -tempo, aber diszipliniert gefasst durch den vorgegebenen melodischen Ablauf der Psalmodie – in den Asteriskus-Atem-Pausen verbal-gedanklich sich verbindend mit aktuell mich bewegenden Bildern …
Die Frage nach authentischer Identifikation – mindestens im „Ausprobieren“ –, die auch körpersprachlich Gestalt annehmen will, stellt sich mir auch bei ganz anderen Gelegenheiten: Weder Konzert noch Gottesdienst ist z.B. der alljährliche Empfang beim Frankfurter Oberbürgermeister vor dem „Mahl der Arbeit“, zu dem die in der städtischen Welt der Arbeit Engagierten eingeladen sind. Auch dort erlebe ich ein Beispiel der Herausforderung zu einem „stimmigen“ Verhalten im gegenseitigen Respekt: Da singen jedesmal die Versammelten auf spontane Initiative aus den eigenen Reihen die „Internationale“ – wozu ich gemeinsam mit einer Minderheit nicht aufstehe und wegen der Text-Worte „… es rettet uns … kein Gott …“ nicht mitsinge.
2. Amputierte Kommunikation
„… eine strukturelle Problematik“, spricht Ulrike Grosch in dem Interview an, die mich seit vielen Jahren umtreibt und die ich im pastoralliturgischen Zusammenhang einer zunehmend vernachlässigten „ars celebrandi“ sehe:
„Theologiestudierende haben in ihrem Studium keine obligatorische grundständig musikalische Ausbildung, obwohl sie in ihrer liturgischen Praxis täglich mit Musik zu tun haben, ihren Einsatz planen und verantworten. Immer wieder ist die Klage zu lesen, dass Gottesdienste trivial werden … (S. 221 / 222) … Grob gesagt, kommen Kirchenmusiker und -musikerinnen nicht ohne eine gewisse theologische Kompetenz aus, und Theologinnen und Theologen nicht ohne eine musikalische.“
Und unabhängig davon bestehe die „Notwendigkeit …, dass alle für die Liturgieplanung und -gestaltung Zuständigen zusammenarbeiten sollten, um die gemeinschaftliche Feier des Gottesdienstes auch zu einem gemeinsam gefeierten Gottesdienst werden zu lassen.“
Im Bewusstsein dieser Notwendigkeit habe ich in den vergangenen Jahren seit meiner Pensionierung immer wieder die Erfahrung gemacht, dass manche Kirchenmusiker es als lästig empfanden, andere sich aber ausdrücklich über das ansonsten selten erlebte Ansinnen eines Priesters gefreut haben, wenn ich mich im Vorfeld einer aushilfsweise übernommenen liturgischen Verantwortung für den Sonntags-Gottesdienst einer Gemeinde um Abstimmung der musikalischen Gestaltung mit dem inhaltlichen Fokus der Verkündigung bemüht habe.
Dabei nehme ich den Kernbereich des hier angesprochenen Konfliktfeldes nicht als auf die musikalische Gestaltung von Liturgie begrenzt wahr. M.E. wird die in der Liturgie gemeinte Wirklichkeit häufig in einem Ausmaß einseitig verbal-rational und in unangemessenem Tempo kommuniziert, wie es nicht mehr kompatibel ist mit den „spirituellen“, emotionalen und intuitiv-ästhetischen Wegen der Wahrnehmung. Daraus entstehen rituelle Verhaltensweisen, die als aufgesetzt, als künstlich, als nicht stimmig wahrgenommen oder gar als Zeichen für eine magisch verfasste Haltung verdächtigt werden.
Das kann schon in der Sprechweise von Liturgen beginnen, wenn Tonfall und Inhalt einander widersprechen und so zur „paradoxen Kommunikation“ werden, also lähmen. Ein jubelnder Inhalt, der wie ein klagender Seufzer rüberkommt, bietet keine Möglichkeit zur Identifikation. Und die Sprechweise eines Liturgen, der sich sichtlich begrenzt um ein Verständnis dessen bemüht, was er ausspricht, wird schwerlich eine Identifikation der Rezipienten fördern. Generell wird sprachliche Kommunikation ja nicht nur durch Worte und Sätze transportiert, sondern mit mindestens gleichem Gewicht – der Kommunikation durch Musik vergleichbar – auch durch Sprechmelodie, Tempo, Rhythmus, Pausen, Dynamik der Lautstärke, Mimik, Gestik, … (Deshalb biete ich ja auf meiner Internetseite die wöchentliche „Sonntagsbotschaft“ nicht nur zum Lesen an, sondern als Videopodcast.)
Da ging es z.B. vor kurzem im Sonntags-Evangelium (Markus 6,1b-6 am 14. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr B) um die Begegnung von Jesus mit den Landsleuten in seiner Heimatstadt: „Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, gerieten außer sich vor Staunen …“ Ihre staunenden Fragen werden dann im Evangelium wiedergegeben – natürlich nur schriftlich: „Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist? Und was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen? Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?“ Wer diese schriftlich vorgegebenen Fragen mündlich erzählend als Teil der Botschaft verkündet, muss sich vorher klar machen, um welche Art kommunikativen Geschehens es da geht: Sind das Fragen der Bewunderung für Jesus? Oder sind es Fragen der Empörung und Zurückweisung? Erst danach – möglicherweise ist ja ein Umkippen der Bewunderung in Ablehnung gemeint – heißt es: „Und sie nahmen Anstoß an ihm.“ Dieselben Fragen haben einen sehr unterschiedlichen Klang – je nachdem, ob sie als Bewunderung oder als distanzierende Ablehnung erklingen sollen. „Der Ton macht die Musik!“ Der Priester, der dieses Evangelium verkündete, las zügig und tonlos vor. Was soll ich damit anfangen?!
Ein anderes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, in der liturgischen Kommunikation persönlich präsent zu sein – über rite et recte Vollzogenes und Gesprochenes hinaus: Eine Körpersprache der zu den Angesprochenen hin ausgestreckten Arme mit nach vorn und oben stark abgewinkelten Handflächen, die – jenseits aller verbalen Sprache – unterschwellig die Aussage vermittelt „bleibt mir gefälligst vom Leibe!“, dürfte kaum als Geste für Gottes segnendes Nahekommen taugen – auch wenn der Liturge wortreich begründen kann, warum er Gottes Segen gerade so übermitteln will.
Generell scheint mir, dass die nonverbalen, oft unterschwellig wirksamen Komponenten des kommunikativen Geschehens in der Liturgie zu wenig Beachtung finden. Auch eine Empathie für die Dynamik der Beziehungen zwischen allen an der Liturgie Beteiligten – Gott eingeschlossen – , die das liturgische Geschehen entfaltet, ist häufig „ausbaufähig“.
Hier sehe ich wichtige Ansatzpunkte für die anstehende Erhellung des Problems der „trivialen Gottesdienste“. Ein Blick auf die Liturgie, dem m.E. bisher fatal wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird! Zaghafte Ansätze, Methoden zu entwickeln für eine angemessene „Qualitätskontrolle“ bzw. „Feedback-Kultur“ im Bereich Liturgie lösen so viele Ängstlichkeiten aus, dass sie immer wieder schnell im Sand verlaufen.
3. Musik – religionsübergreifendes Medium?
Mich beeindrucken die in dem Buch gegebenen respektvollen Beschreibungen der – alles andere als „haarspalterischen“, vielmehr menschlich höchst relevanten – Unterscheidung zwischen „multireligiösem“ und „interreligiösem“ Zusammenkommen und Beten! Lesend Anteil zu nehmen, wie die Autoren in angstfreiem Vertrauen einen Weg ertasten, auf dem sie den Weg ihrer eigenen Art der Beziehung zu Gott wahren und leben und zugleich mit verstehen wollender Öffnung für andere Wege anderer Menschen – das klärt meine eigene Orientierung und stärkt mich auf meinem eigenen Weg.
Dabei ist mir noch klarer geworden, ein wie wichtiges Medium der Kommunikation zwischen Menschen und zwischen Menschen und Gott die „Musik“ ist – von der urmenschlichen „Musik“, die ich in der gesprochenen Sprache erlebe, über das Singen in Alltag, Gemeinschaftsbildung und Konzert bis hin zum „geistlichen“ Gesang und gesungener Liturgie.
Ein weiterer Eindruck, der mich sicher weiter beschäftigen wird: Viele Beiträge in dem Buch machen mich ahnen, wie sehr ein fast schon liebevoll zu nennender Respekt gegenüber menschlichen Trägern „anderer“ religiöser Identifikation sich erst dann entfalten kann, wenn die eigene religiöse Orientierung eine authentische Identifikation darstellt; wenn sie – sowohl rational als auch emotional, reflektiert wie auch vertrauend – mit klarem Profil und liebend respektvoll in der eigenen Person verortet ist. Ich frage mich: Tun sich Christen in der modernen Welt damit schwerer als Juden und Muslime? Hat für Christen in der Begegnung mit religiös anders orientierten Personen und Gemeinschaften die apologetische Abgrenzung einen entsprechend hohen Stellenwert? Vielleicht aus einer gewissen Ängstlichkeit um die kollektive Bewahrung christlich geprägter Kultur? Vielleicht auch wegen eines häufigen Abgleitens christlicher Orientierung ins Triviale? So dass deswegen möglicherweise die Chancen christlichen Glaubens auf dem in die Zukunft gehenden Markt der Religionen nicht gut stehen? Wäre ein Lernen von den in „religiöser Musik“ Erfahrenen – wie dieses Buch es anbietet – eine gute Hilfestellung dabei?
Rainer Petrak
18. Juli 2024