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Die Würde des Gegners

20. Februar 2025

Sonntagsbotschaft zum 23. Februar 2025, dem 7. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C), Tag der Neuwahl des Deutschen Bundestags. 

Natürlich ist das ein „Zufall“. Aber eigentlich höre ich in den Bibeltexten des Sonntags Gott selber reden, wie er warnend die Wahlberechtigten dieses Sonntags an Wesentliches erinnert.

Schon am letzten Sonntag hat er denen, die zusammenkommen, um auf ihn zu hören, ihren Blick auf die Menschen gelenkt, deren Notwendigkeiten von den Reichen und Mächtigen links liegen gelassen werden. Bestärkt hat er sie, sich allen Anfeindungen entgegenzustellen, die sie treffen, wenn sie das Augenmerk der Gesellschaft und ihrer Politik entsprechend seinen Prioritäten auf den zu kurz gekommenen Menschen richten. „Selig seid ihr!“, hat er zu ihnen gesagt. Den Konflikt zwischen ihnen und den geschickten Stimmungsmachern, denen die Leute unüberlegt nach dem Munde reden, hat Jesus ausdrücklich verglichen mit dem Konflikt auf Leben und Tod, den es in der Vergangenheit immer wieder gegeben hatte zwischen den echten, wirklich von Gott berufenen Propheten und den im Interesse der Mächtigen bestellten „falschen“ Propheten.

Und dann setzt Jesus – mit dem Evangelium dieses Wahlsonntags – noch einmal neu an und richtet sich an die, von denen es heißt, sie waren gekommen, um ihn zu hören und geheilt zu werden:

Euch aber, die ihr zuhört, sage ich:
Liebt eure Feinde;
tut denen Gutes, die euch hassen!
Segnet die, die euch verfluchen;
betet f
ür die, die euch beschimpfen!
Dem, der dich auf die eine Wange schl
ägt,
halt auch die andere hin
und dem, der dir den Mantel wegnimmt,
lass auch das Hemd!

Ihre Kontrahenten, mit denen sie in solche Schwierigkeiten kommen und die oft die Oberhand behalten, benennt er als die, „die euch hassen“, „die euch verfluchen“, „die euch beschimpfen“, „eure Feinde“. Es geht um Menschen, die – um sich durchzusetzen – ihnen Gewalt antun.

Worauf will Jesus hinaus, wenn er zu ihnen sagt „Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd!“?

Sich schlagen lassen und den Mantel wegnehmen lassen – das hieße: Ich erkenne an, dass du mich beherrschst und ich unterwerfe mich dir.

Wer aber auch noch die andere Wange hinhält und zusätzlich zum Mantel aus eigener Entscheidung auch noch das Hemd hergibt, zeigt damit: Ich sehe, es ist dir sehr wichtig – warum auch immer – , mich zu schlagen und mir meinen Mantel zu nehmen. Aber ich behalte in dem, was mich betrifft, die Entscheidung bei mir.

So verhält sich nur, wer auch unter Druck sich nicht unterwirft, sondern seiner Würde die Kraft zutraut, über sich selbst zu bestimmen.

Wie wird sich mein solches Verhalten auf den Gegner auswirken?

Mir selber, da ich mir – so wie ich mich kenne – wenn es drauf ankommt, eine solche Souveränität eher nicht zutraue, mir macht es Angst, der Gegner könnte das als unterwürfige Schwäche ausnutzen und sich geradezu eingeladen sehen, mir noch Schlimmeres anzutun. Also schaue ich lieber, welche stärkeren Möglichkeiten ich aufbieten kann, um mich zu wehren und ihn zu stoppen. Die Folge, wie mein solches Verhalten sich auf den Gegner auswirkt – ich weiß: Der Kampf setzt sich fort, schaukelt sich immer höher, bis dann doch eine Seite sich schließlich – gedemütigt, zähneknirschend, unterwürfig – geschlagen geben muss.

Wenn aber Menschen ihrer eigenen Würde die Kraft zu solcher Souveränität zutrauen, wie Jesus sie in seinen Worten voraussetzt, und wenn sie sich dann auf sein Wort hin entsprechend ungewöhnlich verhalten, wie wirkt sich das dann tatsächlich auf die Gegner aus?

Erfahrungen aus der Geschichte oder auch aus der Literatur, die ich zur Bestärkung zusammensuchen möchte, sind wahrscheinlich nur sehr eingeschränkt vergleichbar. Für eine Antwort muss ich mich in meine Gegner hineinfühlen. Und ich kann dann nur Vermutungen anstellen. Wird mein Gegner stutzen und innehalten? Wird mein Verhalten ihn verunsichern? Wird er sein eigenes Verhalten ändern? Wird er aufhören, seine Übermacht zu missbrauchen, weil er merkt, dass ich ihm nicht Böses will und sein Interesse im Blick habe? Wird das dann den weiteren Verlauf des Konflikts so verändern, dass eine Lösung entsteht?

Welche Vorstellungen von Jesus verbergen sich hinter seinen Worten? Was meint er, warum Menschen sich so verhalten sollten?

Und beeindruckt uns sein eigenes Beispiel als taugliches Modell?

Geht es da um die „Diplomatie“ als die wertvollere Methode, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu lösen? Geht es um die Anerkennung von Einheit in der Vielfalt bei all den Themen, um die aktuell in Kirche und Politik gelitten und gestritten wird? Oder geht es ihm um Spannungen wie die zwischen Eheleuten, die sich fremd geworden sind?

Was Jesus sagt, ist eine Zumutung für jeden Menschen, dem es mit all seinen kämpfenden Bemühungen im Leben gelungen ist, gut über die Runden zu kommen.

Es ist die Zumutung eines veränderten Blicks auf alle Spannungen, die sich – zu allen Zeiten – zwischen Menschen wie zwischen Völkern oder zwischen Menschengruppen aller Art ergeben.

Es ist die Zumutung eines neuen Blicks auf alle Zusammenhänge zwischen Würde und Recht, zwischen Interessen und Bedürfnissen, Sehnsüchten und Zielen.

Im konkreten Fall geht es um den Blick auf den Menschen und nicht nur auf meine Chancen, mich mit Macht durchzusetzen.

Damit seine Leute besser verstehen, was Jesus meint, weist er als Begründung für seine Impulse auf die Vision von einer besseren Welt hin, die Gott herbeiführt mit denen, die auf ihn hören. Er wirbt bei den Menschen um eine neue Haltung. Menschen, die etwas zu verlieren fürchten, sollen überzeugt werden, dass sie so viel mehr gewinnen können.

Er nutzt ihre bereits weitverbreitet anerkannte Lebensweisheit der Goldenen Regel:

Wie ihr wollt,
dass euch die Menschen tun sollen,
das tut auch ihr ihnen!

Auf den Weg zu einer darüber noch hinausgehenden Veränderung hin zu einer friedvollen und gerechten Welt lädt er ein mit dem ersten Schritt einer neuen Gegenseitigkeit:

Wenn ihr die liebt, die euch lieben,
welchen Dank erwartet ihr dafür?
Auch die Sünder
lieben die, von denen sie geliebt werden.
Und wenn ihr denen Gutes tut,
die euch Gutes tun,
welchen Dank erwartet ihr daf
ür?
Das tun auch die S
ünder.
Und wenn ihr denen Geld leiht,
von denen ihr es zur
ückzubekommen hofft,
welchen Dank erwartet ihr daf
ür?
Auch die S
ünder leihen Sündern,
um das Gleiche zur
ückzubekommen.

Jesus plädiert für die Bereitschaft zu einem ersten Schritt über die Goldene Regel hinaus, zu einem einseitigen Vorschuss an Entgegenkommen, an Vertrauen, an Barmherzigkeit. Immer wieder neu. So bekommt die „Reich-Gottes“-Vision von einem menschlichen Miteinander Chancen zu ihrem Gelingen. Gewähr dafür bietet die erneuerte Haltung, die sich aus der Liebe speist, die Gott zu den Menschen hat und an der Anteil zu nehmen Jesus wirbt:

Ihr sollt eure Feinde lieben
und Gutes tun
und leihen, wo ihr nichts zur
ückerhoffen könnt.
Dann wird euer Lohn gro
ß sein
und ihr werdet Söhne des Höchsten sein;
denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
Seid barmherzig,
wie auch euer Vater barmherzig ist!

Jesus glaubt anscheinend, dass Menschen, die sich von ihm zu einer solchen veränderten Haltung bewegen lassen, auch die beeinflussen können, die nicht auf ihn hören! Ihn erfüllt die Vision, auf diesem Weg eine neue Welt herbeizuführen. Wenn die, die auf ihn hören, dafür sorgen, ist dafür gesorgt – und allen kommt es zugute, natürlich auch ihnen selbst – samt der Freude, dass es sich gelohnt hat, sich dafür einzusetzen:

Richtet nicht,
dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden!
Verurteilt nicht,
dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden!
Erlasst einander die Schuld,
dann wird auch euch die Schuld erlassen werden!
Gebt,
dann wird auch euch gegeben werden!
Ein gutes, volles, geh
äuftes, überfließendes Maß
wird man euch in den Scho
ß legen;
denn nach dem Ma
ß, mit dem ihr messt,
wird auch euch zugemessen werden.
(Lukas 6, 27-38)

Überlasst nicht denen die Macht, die einseitig nur ihr Süppchen kochen wollen! Sorgt für gegenseitige, für allseitige Solidarität, die allen zugutekommt! Weil allen die gleiche Würde eignet. Das darf sich dann auch „christliches Menschenbild“ nennen.

Darauf verpflichtet übrigens auch der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes, der auch mit einer noch so großen parlamentarischen Mehrheit nicht verändert werden darf: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Nicht nur die Würde derer, die – weltweit gesehen – das Privileg haben, in einem Land mit solcher durch Recht abgesicherten Freiheit bereits leben zu dürfen. Solche Würde allen Menschen anzuerkennen und politisch weltweit dafür einzutreten – , das nennt Jesus dann „Barmherzigkeit“.

Uff! Wie kann man das umsetzen?!

Ein bestechendes konkretes Beispiel aus einer eigentlich gewalt-affinen Konfliktkultur präsentiert in den Gottesdiensten des Sonntags die Erste Lesung aus der Bibel.

Da geht es um die Konfrontation zwischen Saul, dem ersten König im alten Israel, und David, den Gott bereits zu seinem Nachfolger bestimmt hat.

Eine Episode aus diesem heftigen Konflikt erzählt das erste Buch Samuel sehr ausführlich, so dass die Dynamik des Geschehens und wie sich das Verhalten der Beteiligten dazu entwickelt, nachvollziehbar wird.

Damit das aber im Gottesdienst nicht zu lange dauert, ist da die Erzählung nur in einer – moralisierend – verzerrenden Verkürzung zu hören.

Hier die ganze Geschichte, die damit beginnt, dass Saul die Information erhält, David versteckt sich vor ihm in der Wüste Sif:

Die Sifiter kamen zu Saul nach Gibea und sagten: David hält sich auf der Anhöhe von Hachila gegenüber von Jeschimon auf. Saul machte sich mit dreitausend Mann, ausgesuchten Kriegern aus Israel, auf den Weg und zog in die Wüste von Sif hinab, um dort nach David zu suchen. Er schlug sein Lager auf der Anhöhe von Hachila am Weg gegenüber von Jeschimon auf, David aber blieb in der Wüste.

Als er sah, dass Saul ihm in die Wüste folgte, schickte er Kundschafter aus und erfuhr, dass Saul mit Sicherheit am Kommen war. Er brach auf und kam zu dem Ort, wo Saul sein Lager hatte. Und David konnte die Stelle sehen, wo Saul sich mit seinem Heerführer Abner, dem Sohn Ners, zur Ruhe hingelegt hatte: Saul schlief mitten im Lager, während seine Leute rings um ihn herum lagen.

Da wandte sich David an den Hetiter Ahimelech und an Abischai, den Sohn der Zeruja, den Bruder Joabs, und sagte: Wer geht mit mir zu Saul ins Lager hinab? Abischai antwortete: Ich gehe mit. David und Abischai kamen in der Nacht zu den Leuten Sauls und siehe, Saul lag mitten im Lager und schlief; sein Speer steckte neben seinem Kopf in der Erde und rings um ihn schliefen Abner und seine Leute.

Da sagte Abischai zu David: Heute hat Gott deinen Feind in deine Hand ausgeliefert. Jetzt werde ich ihn mit einem einzigen Speerstoß auf den Boden spießen, einen zweiten brauche ich nicht dafür.

David aber erwiderte Abischai: Bring ihn nicht um! Denn wer hat je seine Hand gegen den Gesalbten des HERRN erhoben und ist ungestraft geblieben? Und er fügte hinzu: So wahr der HERR lebt: Der HERR möge ihn schlagen, ob nun der Tag kommt, an dem er sterben muss, oder ob er in den Krieg zieht und dort umkommt. Mich aber bewahre der HERR davor, dass ich meine Hand gegen den Gesalbten des HERRN erhebe. Nimm jetzt den Speer neben seinem Kopf und den Wasserkrug und lass uns gehen!

David nahm den Speer und den Wasserkrug, die neben Sauls Kopf waren, und sie gingen weg. Niemand sah und niemand bemerkte etwas und keiner wachte auf; alle schliefen, denn der HERR hatte sie in einen tiefen Schlaf fallen lassen. David ging auf die andere Seite hinüber und stellte sich in größerer Entfernung auf den Gipfel des Berges, sodass ein weiter Zwischenraum zwischen ihnen war. Dann rief er dem Volk und Abner, dem Sohn Ners, zu: Abner, willst du antworten? Abner antwortete und sagte: Wer bist du, um den König anzurufen? David antwortete Abner: Bist du nicht ein Mann, dem keiner in Israel gleicht? Warum hast du deinen Herrn, den König, nicht bewacht? Es ist nämlich einer aus dem Volk gekommen, um den König, deinen Herrn, umzubringen. Das war nicht gut, was du da gemacht hast. So wahr der HERR lebt: Ihr habt den Tod verdient, weil ihr euren Herrn, den Gesalbten des HERRN, nicht bewacht habt. Sieh doch nach, wo der Speer des Königs und der Wasserkrug sind, die neben dem Kopf des Königs standen!

Saul erkannte die Stimme Davids und sagte: Ist das deine Stimme, mein Sohn David? David antwortete: Es ist meine Stimme, mein Herr und König. Dann fragte er: Warum verfolgt eigentlich mein Herr seinen Knecht? Was habe ich denn getan? Welches Unrecht habe ich begangen? Möge doch mein Herr, der König, jetzt auf die Worte seines Knechtes hören: Wenn der HERR dich gegen mich aufgereizt hat, möge er ein wohlriechendes Opfer erhalten. Wenn es aber Menschen waren, dann sollen sie verflucht sein vor dem HERRN; denn sie haben mich vertrieben, sodass ich jetzt nicht mehr am Erbbesitz des HERRN teilhaben kann. Sie sagen: Geh fort, diene anderen Göttern! Doch mein Blut soll nicht fern vom HERRN zur Erde fließen. Der König von Israel ist ausgezogen, um einen einzigen Floh zu suchen, wie man in den Bergen ein Rebhuhn jagt.

Darauf sagte Saul: Ich habe gesündigt. Komm zurück, mein Sohn David! Ja, ich werde dir nichts zuleide tun, weil dir heute mein Leben so kostbar war. Ich sehe ein, ich habe töricht gehandelt und schwere Fehler gemacht. David erwiderte: Seht her, hier ist der Speer des Königs. Einer von den jungen Männern soll herüberkommen und ihn holen. Der HERR wird jedem seine Gerechtigkeit und Treue vergelten. Obwohl dich der HERR heute in meine Hand gegeben hatte, wollte ich meine Hand nicht an den Gesalbten des HERRN legen. Doch denk daran: Wie dein Leben heute in meinen Augen wertvoll war, so wird auch mein Leben in den Augen des HERRN wertvoll sein; er wird mich aus aller Bedrängnis erretten.

Saul sagte zu David: Gesegnet seist du, mein Sohn David. Du wirst es sicher vollbringen, dir wird es auch bestimmt gelingen.

Und David zog weiter, Saul aber kehrte an seinen Ort zurück.

(1 Samuel 26,1-25)

Auf dem weiten Weg der versuchten Umsetzung einer solchen Haltung bis in die heutige Politik hinein fand ich als anregende x. Station den Text von Lothar Zenetti für den Friedensgruß vor der Kommunion:

Dem da
dem andern
dem x-beliebigen
dem wildfremden
der mir wurscht ist
der mich nichts angeht
dem man nicht trauen kann
dem man besser aus dem Weg geht
dem man’s schon von weitem ansieht
dem da
dem Spinner
dem Blödmann
dem Besserwisser
dem Speichellecker
der nicht so tun soll
dem’s noch leidtun wird
der mir’s noch büßen soll
der noch was erleben kann
der sich nicht unterstehen soll
dem ich’s schon noch zeigen werde
dem da
wünsche ich Frieden

„Friedensgruß vor der Kommunion“
aus: Lothar Zenetti, Texte der Zuversicht (1972), S. 105

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