Blogbeitrag

Bild von Oleksandr Pidvalnyi auf Pixabay

Er lässt dich nicht allein

3. Oktober 2024

Sonntagsbotschaft zum 6. Oktober 2024, dem 27. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B).

Unterschiede zwischen Menschen nehmen wir häufig wahr als Unterschiede in ihrer Leistungsfähigkeit. Ohne dass wir das wirklich merken, folgen wir da einfach einer Gewohnheit.

Ein solches vorschnell verallgemeinerndes Vorurteil ist lebensgeschichtlich und kulturell bedingt. Es hilft, sich in der Umgebung – jedenfalls vorläufig – zügig zu orientieren, auch wenn die sich verändert.

Wenn wir also etwa Kindern oder Frauen neu oder überraschend begegnen oder auch Menschen mit optisch erkennbarer Herkunft aus einer anderen Kultur, dann schreibt unser Vorurteil ihnen auf Grund der sichtbaren Unterschiede eine unterschiedliche gesellschaftliche Relevanz zu. Wir sehen dann in ihnen eingeschränkte Kompetenzen.

Da kann zum Beispiel Alter, Geschlecht oder individuelles Aussehen meine Haltung darin bestimmen, ob ich einer Person interessiert oder neugierig zuhöre oder nur bemüht-pflichtbewusst oder eben gar nicht.

Das schwächt meine Wahrnehmung ihres mit mir gleichen menschlichen Wesens. Mit mir gleich bleibe ich allein. Es schwächt also die darin liegenden Chancen der Ergänzung und der Solidarität, der Entdeckung ihrer „Ebenbürtigkeit“, ihrer von Geburt an gleichen Art wie ich: „von meinem Bein, von meinem Fleisch“.

Zum oft vernachlässigten Blick für den Mit-Menschen ermutigt die Bibel mit ihrer Botschaft. Die Erzählung dieses Sonntags aus dem Markus-Evangelium macht deutlich, wie Jesus auf die gewohnte Haltung derer einzuwirken versucht, die mit ihm gehen und ihr Leben an ihm orientieren wollen.

Da ist die Rede von einer Situation, in der die Leute sich bei Jesus versammeln. Anscheinend reden sie mit ihm über Dinge, die sie beschäftigen, und wollen hören, was er ihnen sagt. Kein unterhaltsames Freizeit-Event, sondern ernsthafte Gedanken über Wichtiges in ihrem Leben. Und weil es ihnen wichtig ist, wollen sie den Jesus und seinen Geist auch ihren Kindern nahebringen.

Da brachte man Kinder zu ihm,
damit er sie berühre.
Die Jünger aber
wiesen die Leute zurecht.

Was haben seine Jünger dagegen? Sind für sie Kinder generell störend, wenn Erwachsene sich wichtigen Themen widmen?

Wenn Kinder sich in die Kommunikation von Erwachsenen einmischen mit dem, was sie im Augenblick bewegt, dann liegt es Erwachsenen oft erstmal fern, sich davon mitbewegen zu lassen. Vielmehr wollen sie solchen „Störungen“ Einhalt gebieten.

Und wie ist das für Jesus? Stimmt er seinen Jüngern zu, weil auch ihm es wichtig ist, mit den Leuten möglichst ungestört zu reden?

Als Jesus das sah,
wurde er unwillig
und sagte zu ihnen:
Lasst die Kinder zu mir kommen;
hindert sie nicht daran!

Oh, schon wieder dieses „Hindert sie nicht!“ Schon im Abschnitt davor – am letzten Sonntag war das zu hören – sagt Jesus „Hindert ihn nicht!“ zu Jüngern, die mit ihrem Verständnis von Gutwilligkeit dazwischenfahren, als einer mit Berufung auf Jesus Gutes sagt und tut, der aber nicht zu ihrer Gruppe gehört.

Sind diese „Jünger“, die doch eigentlich Jesus anhängen, immer noch so sehr von ihren althergebrachten Gewohnheiten bestimmt, dass sie sich nur halbherzig auf Seine Haltung zu den Mitmenschen einlassen können?

Jesus bremst seine gutmeinenden Jünger. Und natürlich möchte er, dass sie auch verstehen, warum. Er sagt und zeigt ihnen also seine Begründung dafür.

Denn solchen wie ihnen
geh
ört das Reich Gottes.
Amen, ich sage euch:
Wer das Reich Gottes nicht so annimmt
wie ein Kind,
der wird nicht hineinkommen.
Und er nahm die Kinder in seine Arme;
dann legte er ihnen die H
ände auf
und segnete sie.
(Markus 10,13-16)

Ein Mensch, der es akzeptiert, sich von Gott in die Arme nehmen zu lassen – unabhängig davon, ob er schon was geleistet hat – , der öffnet sich dem Reich Gottes, seiner Art der Begegnung, mit der er dem Menschen nahe kommt und ihm seinen guten Segen zuwendet.

Kinder sind dafür noch empfänglich. Und Eltern, die dafür ein Gespür haben, unterstützen das.

Wenn doch seine Jünger und überhaupt alle Menschen – egal, was sie sich bisher geleistet haben – , auch auf solche Weise aufgeschlossen wären für einen solchen Zugang zu Gottes anderer Art einer alles beherrschenden Kraft für ihr Miteinander! Wenn sie doch erkennen könnten, dass von solcher Art „Mensch“ – wie diese Kinder – sie auch selber sind – Fleisch und Blut, Leib und Seele von gleicher Art!

In der ersten Schriftlesung dieses Sonntags wirbt Gottes Botschaft um diese Haltung bei Menschen, die anderen – aus welchen Gründen auch immer – eine Begegnung auf Augenhöhe verweigern, weil sie sich selber allein als „wichtiger“, „größer“, „klüger“, „besser“ oder sonstwie als „mehr Mensch“ erachten.

Gott, der HERR sprach:
Es ist nicht gut, dass der Mensch
allein ist.
Ich will ihm eine Hilfe machen,
die ihm ebenbürtig ist.
Gott, der HERR,
formte aus dem Erdboden
alle Tiere des Feldes
und alle V
ögel des Himmels
und f
ührte sie dem Menschen zu,
um zu sehen,
wie er sie benennen w
ürde.
Und wie der Mensch
jedes lebendige Wesen benannte,
so sollte sein Name sein.
Der Mensch gab Namen allem Vieh,
den V
ögeln des Himmels
und allen Tieren des Feldes.
Aber eine Hilfe,
die dem Menschen ebenb
ürtig war,
fand er nicht. 

Eine Erfahrung, die irgendwann im Leben jeder Mensch macht – „der Mensch“, „ha-Adam“:

Es tut nicht gut, wenn jemand allein an sich selbst die ganze Wichtigkeit, die Würde, das Recht als Mensch sieht.

Es ist nicht gut – so sagt der Schöpfer des Menschen! – , wenn zum Beispiel der Mitarbeiter nur als Objekt gesehen wird, dessen Sinn und Aufgabe ich benenne.

Es tut nicht gut, wenn Kinder nur zu Top-Arbeitskräften und zu künftigen Rentenzahlern gefördert werden.

Wenn arm gemachte Völker nur dazu ausgenutzt werden, dass sie die ihnen reichlich gegebenen natürlichen Ressourcen zu Billigpreisen abtreten an reiche Industrieländer, damit durch die Weiterverarbeitung dort ihre Wirtschaft wächst.

Und es tut überhaupt nicht gut, wenn den Frauen – in Ehe und Partnerschaft genauso wie in der Wirtschaft – die Anerkennung gleicher Würde vorenthalten wird.

Da kann „der Mensch“ über noch so viele Objekte oder Untergebene Verfügungsmacht haben über Sinn und Zweck seines Gegenübers, wozu es für ihn da sein soll – … die ihm ebenbürtige Hilfe, auf die er als Mensch angewiesen ist, die findet er auf diesem Wege nicht!

Dem Menschen, „ha-Adam“, der sich so als „der Mensch“ schlechthin sieht, dem wird das vielleicht am ehesten einleuchten, wenn er merkt, dass er damit schließlich ziemlich allein dasteht.

Nein, es ist nicht gut, wenn der Mensch sich allein gelassen sieht.

Das erkennst auch du, Gott, an.

Und welche Konsequenz ziehst du daraus?

„Ich sehe euer Elend und höre euer Schreien. Ich bin da – für euch. Ich lass euch nicht allein.“ (vgl. Ex 3)

Nein, davor will Gott ihn, den Menschen bewahren, bevor es zu spät ist,.

Gott sprach:
Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt.
Ich will ihm eine Hilfe machen,
die ihm entspricht.
(Genesis 2,18 – Antiphon zum Magnificat in der 1. Vesper von diesem Sonntag)

Da ließ Gott, der HERR,
einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen,
sodass er einschlief,
nahm eine seiner Rippen
und verschloss ihre Stelle mit Fleisch.
Gott, der HERR,
baute aus der Rippe,
die er vom Menschen genommen hatte,
eine Frau
und f
ührte sie dem Menschen zu.
Und der Mensch sprach:
Das endlich ist Bein von meinem Bein
und Fleisch von meinem Fleisch. …
(Genesis 2,18-24)

Das tut gut! Endlich entdeckt und erkennt er das mir „eben-bürtige“ Du, sozusagen „von gleicher Geburt“ wie ich – von gleicher Art wie ich! Wenn auch als Person noch so anders als ich!

„Der Mensch allein“ – das ist nicht das Gelbe vom Ei. Kurzsichtig wie der Mensch ist, riskiert er, das zu übersehen. Erst im ebenbürtigen Miteinander mit dem anderen Menschen erfährt sich „der Mensch allein“ als „ein-seitig“ und als angewiesen auf seine andere, ihm ebenbürtige Seite, die er im anderen Menschen entdeckt: „Endlich Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch!“ Endlich Ergänzung für meine Begrenztheit, die also sein darf! Das Du auf Augenhöhe!

Jesus selber lebt als Mensch ganz dieses Angewiesensein. Sein „Du auf Augenhöhe“ ist Gott, den er „Vater“ nennt und zu dem er enge Beziehung pflegt. Und allen, die ihm zugehören wollen, sieht er sich gleich. Er nennt sie seine „Brüder“ – wir dürfen übersetzen: seine Geschwister. Das betont auch die Zweite Lesung dieses Sonntags:

Denn er, der heiligt,
und sie, die geheiligt werden,
stammen alle aus Einem;
darum schämt er sich nicht,
sie Brüder zu nennen …
(Hebräer 2,9-11)

Wer – bei aller erbrachten Leistung und erworbenen Verdiensten – sich auf solche Weise – eben wie ein Kind – „angewiesen“ sieht und anerkennt, dem öffnet sich weit die Tür zu Gottes Reich, also zu seiner ganz anderen Art zu „herrschen“ – in Zeit und Ewigkeit. Amen.

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