„Geistesblitz“ – als Ergänzung zur „Sonntagsbotschaft“ zum 20. Oktober 2024, dem 29. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B).
Wer „herrscht“, hat nach üblichem Sprachgebrauch nicht nur hoffnungsvolle oder zutrauende Erwartungen an andere Menschen, sondern macht daraus Ansprüche. Die, über die er herrscht, haben ihm zu dienen, indem sie seine Erwartungen erfüllen und zu ihrer Durchsetzung beitragen.
Wer „dient“, fügt sich einem Prozess ein, der ein Ziel anstrebt – ein elementar menschliches Geschehen. Wer aber dient, weil er von einem „Herrschenden“ dazu verpflichtet wird, erlebt sich in seiner Menschenwürde, in seinem Recht auf Selbstbestimmung verletzt.
Seine Position zwischen „dienen“ und „herrschen“ klärt Jesus im Evangelium dieses Sonntags gegenüber denen, die mit ihm „herrschen“ wollen:
45 … der Menschensohn ist nicht gekommen,
um sich dienen zu lassen,
sondern um zu dienen …
Dass er damit neue Lust auf Zukunft macht, habe ich kompakt dargestellt in der „Sonntagsbotschaft“ zu diesem Sonntag.
Bei aller Problematik um herrschaftliches Gebaren und um Machtmissbrauch nicht nur in der Kirche dürfte allerdings noch wichtiger sein, worin und wofür er den Menschen dienen will. Dem will ich hier nachgehen:
45 … sondern um zu dienen
und sein Leben hinzugeben
als Lösegeld
für viele.
(Markus 10,35-45)
Von „Lösegeld“ spricht er. Er setzt sein Leben ein, um „viele“ zu befreien. Um was für eine Befreiung geht es?
Inhaltliche Anspielungen klärt die zugeordnete Erste Lesung mit einem Auszug aus einem der sogenannten Gottes-Knechts-Lieder aus dem Jesaja-Buch:
10 … Wenn du, Gott,
sein Leben als Schuldopfer einsetzt, …
11 … Mein Knecht, der gerechte,
macht die Vielen gerecht;
Er lädt ihre Schuld auf sich.
(Jesaja 53,10-11)
Er befreit sie aus der Verhaftung an ihre Schuld.
Bei Umfragen, welche Probleme die Menschen heute am meisten belasten, taucht das Thema „Schuld“ nicht auf. Ist „Befreiung aus Schuld“ also bestenfalls ein Nischenthema?
Über „Schuld“ redet man besser nicht. Einem Menschen oder einer Regierung einen Schuldvorwurf zu machen, gilt als unfein und kann heftige Gegenreaktionen auslösen. Man spricht lieber vom Vergehen gegenüber „Werten“; das hebt eine Enttäuschung über nicht erfüllte Erwartungen aus der Ebene zwischenmenschlicher Beziehung in die Ebene objektiver Verantwortung. Die Emotionen, die das begleiten, geraten zunehmend zu abwertenden Beschimpfungen.
Worum geht es da konkret?
Es gehört zum Alltag, dass Mitmenschen sich anders verhalten, als ich es mir wünsche, erhoffe oder sonstwie von ihnen erwarte.
Wenn mir auf dem Fußweg jemand entgegenkommt und ich gewohnheitsmäßig erwarte, dass wir beide einander nach rechts ausweichen, wenn dann aber der andere auch in die gleiche Richtung ausweicht wie ich, können wir beide lachend einen Weg finden, wie wir aneinander vorbeikommen.
Einem „Gläubiger“, der einem anderen Geld geliehen hat im „gläubigen“ Vertrauen darauf, es zurückzuerhalten, ist dieser andere ein „Schuldner“, bis er die Erwartung auf Rückzahlung erfüllt hat.
Andere Beispiele sind weniger harmlos. Nicht erfüllte Erwartungen gelten schnell als „schuldig gebliebene“ Erfüllung eines Anspruchs, eben als „Schuld“ – auch wenn andere Namen dafür verwendet werden. Und zwischen Einzelpersonen wie zwischen Staaten gibt es immer eine Menge nicht erfüllter Erwartungen. Und wenn Erwartungen im Konfliktfall nicht hinterfragt und abgeklärt werden, sondern zum geradezu selbstverständlichen Anspruch hochgespielt werden, wird „mit aller Macht“ eine Lösung des Schuld-Problems versucht – im Interesse des gestellten Anspruchs. Hier verschränkt sich das Problem der „Schuld“ mit dem des Herrschen-Wollens: Je mehr Macht eine Seite hat, umso mehr Durchsetzungs-Chancen nutzt sie, um die eigenen Erwartungen an die andere Seite zu erfüllen.
In der Arbeitswelt heißt das Verhältnis zwischen denen, die Aufträge erteilen, und denen, die die Aufträge erfüllen, nur bei Richtern, Beamten, Soldaten und Pfarrern „Dienstverhältnis“.
Andererseits nimmt im Wirtschaftsleben der „Dienstleistungssektor“ permanent zu und in vielen Branchen sind die Erwartungen der Kunden an den „Service“ der Auftragnehmer zu einer Anspruchshaltung herangewachsen, die eine Nähe zur ursprünglichen griechischen Bedeutung des Wortes „Diener“, nämlich „ο δούλος“ = „der Sklave“ ahnen lässt.
Das Arbeitszeugnis, das bestätigt, der Arbeitnehmer habe die an ihn gestellten Erwartungen „erfüllt“, und das so den Vorwurf dokumentiert, er sei eine volle Leistung schuldig geblieben, kann vor dem Arbeitsgericht landen mit der Forderung einer Ergänzung durch die Worte „voll und ganz erfüllt“.
Arbeitgeber, die sich weigern, ihren Beschäftigten einen Lohn zu zahlen, den sie um ihrer Menschenwürde willen für ihre Arbeit erwarten, nutzen im Konfliktfall gerne ihre stärkere Macht zur Durchsetzung. Was dann entsprechende Schuldvorwürfe der Gegenseite hervorruft. Worin würde eine Lösung liegen?
Was „schulden“ die Bürger dem Staat? Wie viele Ehen gehen an Schuldvorwürfen zu Bruch? Wer hat welche Schuld an und in den aktuell herrschenden Kriegen?
Und in der Religion hat es sich eingebürgert, in Gottes Beziehung zu den Menschen nicht eine hilfreiche Wegbegleitung zu sehen, die die vielen in den Erwartungen voranbringt, in denen sie sich mit Gott einig wissen. Aus diesen Erwartungen wurden absolut gesetzte „Werte“, für deren Nichteinhaltung man als Schuldiger in Haftung genommen wird.
Nicht erfüllte Erwartungen gehören zum Leben und zu allen seinen Bereichen. So verstandene „Schuld“ unaufgeregt zu benennen und immer wieder nach einer befriedigenden Verständigung darüber zu suchen, ist eine weiterhin unerfüllte Aufgabe der Menschheit. Die Beantwortung von „Schuld“ mit dem Herrschaftsanspruch an die „Schuldigen“, den Herrschenden zu „dienen“, hat die Menschen in einem katastrophalen Ausmaß verletzt. So ist es zum Standard geworden, die zur Verfügung stehenden Mittel des Einwirkens auf andere vorrangig für eine Bewältigung der eigenen Wundschmerzen einzusetzen und für die Heilung der eigenen Menschenwürde.
Wenn mir eine zum abwertenden Kampfbegriff entartete „Schuld“ vorgeworfen wird oder wenn ich nicht mehr anders kann, als meine „Schuld“ anzuerkennen, selbst wenn niemand anderes davon weiß, dann tut das weh. Es verletzt meine Würde. Es vermindert sowohl die eigene Selbstachtung als auch die Wertschätzung der anderen für mich. Versuche zur Schmerzlinderung legen sich nahe: Rechtfertigung, Beschönigung, Abwälzen auf andere, Aufrechnen gegen Wertvolles, was auch auf mein Konto geht, … Dem steht aber die andere Seite gegenüber mit Forderungen, Strafen, Verurteilungen, … Was die Spirale fortsetzt durch weitere Versuche gegen die höllischen Schmerzen erneut verletzter Menschenwürde …
Da spricht die Bibel von der Sternstunde, in der Gott selber, der Schöpfer und Herrscher des Universums – als „Menschensohn“ kommunikabel – den Knoten zerschlägt:
45 … der Menschensohn ist nicht gekommen,
um sich dienen zu lassen,
sondern um zu dienen
und sein Leben hinzugeben
als Lösegeld
für viele.
(Markus 10,35-45)
Von „unserer Krankheit“, „unseren Schmerzen“, „unseren Vergehen“, „unseren Sünden“ und von der „Schuld von uns allen“ spricht das Gottes-Knecht-Lied im Jesaja-Buch (53,1-11), dessen letzter Teil (53,10-11) an diesem Sonntag als Lesung aus der Schrift vorgesehen ist:
10 … Wenn du, Gott,
sein Leben als Schuldopfer einsetzt, …
11 … Mein Knecht, der gerechte,
macht die Vielen gerecht;
Er lädt ihre Schuld auf sich.
(Jesaja 53,10-11)
In Gottes Namen und in seinem Dienst setzt Jesus sein Leben total ein, gibt es hin, opfert es, damit die vielen, die vielfach „schuldig“ sind, wieder als „gerecht“ anerkannt werden, trotz aller „Schuld“ zugleich mit unantastbarer, heiliger Würde. Entsprechend dem Muster der Gottes-Knecht-Lieder im Jesaja-Buch macht Jesus sich von Anfang an Feinde durch seine beglückend befreiende Art, mit der er Menschen begegnet, die als „schuldig“ ausgegrenzt waren aus der Gesellschaft. Von vornherein ist klar, dass eine Welt, die sich angesichts von „Schuld“ eingleisig auf Vergeltung durch Lohn und Strafe beschränkt hat, ein solches „Freikaufen“ der „Schuldigen“ nicht dulden kann. Also macht er sich eins mit den „Schuldigen“, „lädt ihre Schuld auf sich“ und zahlt mit seinem Leben. Im Philipperbrief wird es dann heißen: „Darum hat Gott ihn erhöht …“ (Philipper 2)
Spannend wird das Ganze natürlich auch heute, wenn wir anfangen, unser Miteinander in Kirche und Welt, in der Politik wie im kleinen Alltag mit diesem anderen Geist des Umgangs zu beleben – wo immer Menschen ernsthafte Erwartungen, die wir an sie haben, nicht erfüllen.
Durch viele seelsorgliche Beratungsgespräche dazu veranlasst, schließe ich mit einem Blick auf das Leiden vieler Menschen an ihrer Schuld, die sie erkannt haben oder sich haben einreden lassen:
Was macht ER mit meiner Schuld?
Ich leide mit dir an deiner Schuld und an ihren Folgen für dich selbst und für die, an denen du schuldig geworden bist. Mit der Kenntnis von deiner Schuld liebe ich dich aber nicht weniger. Vielmehr will ich umso mehr dieses dein Leiden beenden. Deswegen fühle ich mit dir und nehme dich in meine Arme. Solidarisch trage ich mit dir Last und Schmerz dieser Situation.
Du wirst froh sein über diese Entlastung und diese erstaunliche, völlig unerwartete Wiederherstellung deiner Würde trotz deiner Schuld. Ja das alles sogar „in Gottes Namen“, ja mit seiner „Vollmacht“!
So frei geworden von dem Schmerzhaften der Schuld, wirst du umso mehr diese Befreiung mit denen teilen wollen, denen du durch deine Schuld Freiheit genommen und Last aufgeladen hast. So wirst du für sie die Folgen deiner Schuld zu mildern oder gar aufzuheben suchen.
So wird Friede.