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Neuer Klang für taube Ohren

5. September 2024

Sonntagsbotschaft zum 8. September 2024, dem 23. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B).

Eigentlich kenne ich das Bild anders. Auf der Suche im Internet stieß ich auf eine ganze Menge von Abwandlungen dieses Motivs. Anscheinend ist vielen das Problem bewusst, und der bildhafte Humor ist beliebt bei dem Versuch, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Nicht nur in Diktaturen verbreitet, um sich nicht noch mehr Schwierigkeiten einzuhandeln.

Taub, blind und stumm – eigentlich ein Elend. Wie schlimm muss dann jemand dran sein, wenn er aus eigener Initiative sich Ohren, Augen und Mund zuhält! Wie kommt man da wieder raus?

Auch in der Bibel ist das Problem ein verbreitetes Motiv. Dort werden „taub, blind, stumm“ oft noch ergänzt durch „gelähmt“. An diesem Sonntag ist das geradezu das Thema.

Die erste Schriftlesung knüpft an eine aussichtslose Lage des Volkes an. Politisch und militärisch stehen sie unter dem Druck mächtiger Nachbarn. Teile des Landes sind schon verödet, verwüstet. Rache und Vergeltung können sie sich gar nicht mehr leisten, Gerechtigkeit scheint es für sie doch nicht zu geben.

Im Gegenteil: Sie fliehen vor der Realität, verschweigen einander die Wahrheit. Sie können nur noch

… die Ohren verstopfen,
um nichts von Bluttaten zu hören,
und die Augen verschließen,
um nichts Böses zu sehen.
(Jesaja 33,14-15)

Ziemlich verzagt sind sie. (vgl. Jesaja 33 bis 34)

Da macht der Prophet Jesaja dem Volk Mut:

Sagt den Verzagten:
Seid stark,
fürchtet euch nicht!
Seht, euer Gott!
Die Rache kommt,
die Vergeltung Gottes!
Er selbst kommt
und wird euch retten.
Dann werden die Augen der Blinden
aufgetan
und die Ohren der Tauben
werden ge
öffnet.
Dann springt der Lahme
wie ein Hirsch
und die Zunge des Stummen
frohlockt,
denn in der W
üste
sind Wasser hervorgebrochen
und Fl
üsse
in der Steppe.
Der gl
ühende Sand
wird zum Teich
und das durstige Land
zu sprudelnden Wassern.
(Jesaja 35,4-7a)

Wie gesagt: ein verbreitetes Motiv in der Bibel:

Mose hatte beklagt, das Volk habe doch selber erlebt, wie Gott sie aus Ägypten befreit und auf dem Weg durch die Wüste geführt hat:

Aber einen Verstand,
der wirklich erkennt,
Augen, die wirklich sehen,
und Ohren, die wirklich hören,
hat der HERR euch
bis zum heutigen Tag nicht gegeben.
(Deuteronomium 29,3).

So klagt er.

Dann ebenso die Propheten:

Jeremia ruft:

Du törichtes Volk ohne Verstand:
Augen haben sie und sehen nicht;
Ohren haben sie und hören nicht!
(Jeremia 5,21)

Und Ezechiel:

Haus der Widerspenstigkeit,
das Augen hat, um zu sehen,
doch sie sehen nicht,
das Ohren hat, um zu hören,
doch sie hören nicht;
denn sie sind
ein Haus der Widerspenstigkeit.
(Ezechiel 12,2)

Aber wie immer – auch wenn Uneinsichtigkeit oder Widerspenstigkeit noch so sehr Gottes Zorn auslösen können – immer wieder erbarmt er sich und hilft den Menschen, die ihnen doch gegebenen Möglichkeiten wirklich zu nutzen.

Die Evangelien verkünden Jesus als den, der diese Zuwendung Gottes zu den Menschen voll verkörpert. Er wird einer von ihnen und kommt ihnen nahe in einer Weise, dass sie zu einem gelingenden Leben zurückfinden.

Mit der heute zu hörenden Erzählung soll der Evangelist Markus anscheinend auch unsereins gerade dafür Augen und Ohren öffnen:

In jener Zeit
verließ Jesus das Gebiet von Tyrus
und kam über Sidon
an den See von Galiläa,
mitten in das Gebiet der Dekapolis.
Da brachten sie zu ihm einen,
der taub war und stammelte,
und baten ihn,
er möge ihm die Hand auflegen.
Er nahm ihn beiseite,
von der Menge weg,
legte ihm die Finger in die Ohren
und berührte dann die Zunge des Mannes
mit Speichel;
danach blickte er zum Himmel auf,
seufzte
und sagte zu ihm: Effata!,
das heißt: Öffne dich!
Sogleich öffneten sich seine Ohren,
seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit
und er konnte richtig reden.
Jesus verbot ihnen,
jemandem davon zu erzählen.
Doch je mehr er es ihnen verbot,
desto mehr verkündeten sie es.
Sie staunten über alle Maßen
und sagten: Er hat alles gut gemacht;
er macht, dass die Tauben hören
und die Stummen sprechen.
(Markus 7,31-37)

Warum hat Jesus verboten, jemandem davon zu erzählen, und der Evangelist Markus erzählt es trotzdem? Was ist dem Erzähler, dem Evangelisten daran wichtig? Welche Wirkung will er bei den Hörenden auslösen?

Beim ersten schnellen Hinschauen ergibt sich der Eindruck, auch wir sollten staunen über die unglaubliche Fähigkeit von Jesus, mit der er kranke Menschen gesund gemacht hat.

Allerdings löst das dann weitere Fragen aus:

Warum sollte uns das heute wichtig sein, so dass wir es uns anhören?

Was bedeutet es den Menschen damals, wenn einer jemandem die Hand auflegt, wie sie es von Jesus für diesen Mann erbitten? Ist damit einfach eine Geste tröstender oder freundlicher Zuwendung gemeint? Oder ist es eine magische Geste?

Und das Wort „Effata!“: Warum in diesem übersetzten Text hier plötzlich ein Wort in der aramäischen Ursprache? Klingt auch wie eine magische Formel. Soll Jesus uns als Zauberer dargestellt werden? Warum geht er dann aber mit dem Mann von der Menge weg? Da können ja die Leute gar nicht sehen, was er mit ihm macht! Ein Magier, von denen es damals viele gab, macht doch aus seinen Kunststückchen immer eine Vorführung, so dass die Leute mehr Gesprächsstoff haben, um die Bewunderung für ihn auszubreiten! Jesus nicht. Er nimmt ihn von der Menge weg.

Und wer war dann trotzdem dabei, um die Details erzählen zu können?

Was bedeutet sein Blick zum Himmel?

Und seltsam: Er berührt die Zunge des Mannes mit Speichel – anscheinend doch mit seinem eigenen Speichel – von Jesus. Wie? Mit dem Finger? Oder gar mit seiner eigenen Zunge? Jedenfalls für unsereins sehr ungewöhnlich, vielleicht eklig oder peinlich. Das muss einen Grund haben, muss etwas zu bedeuten haben – aber was?

Allen möglichen diversen Kommentierungen dürfte eine Vorstellung gemeinsam sein: Es geht hier jedenfalls um eine weitgehende persönliche Zuwendung. Vielleicht kann man es „Intimität“ nennen? Das würde dann dazu passen, dass Jesus dieses Geschehen den gaffenden Blicken der Menge entzieht.

Die therapeutische Wirkung für den Menschen ist enorm: Jetzt behindert ihn nichts mehr, seine ihm gegebenen Möglichkeiten zu einem erfüllten Leben zu entfalten: „Er konnte richtig reden!“

Die staunenden Leute werden zitiert mit „Er hat alles gut gemacht.“ Eigentlich ein Wort, mit dem der Schöpfer angebetet wird. Und mit dem Satz „Er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen!“ Hier war ja nur von einem die Rede. Der Evangelist will offensichtlich allen die Augen und die Ohren dafür öffnen, dass mit Jesus Gott endlich die alte Verheißung des Propheten Jesaja wahr macht:

Sagt den Verzagten: Seid stark, …
Seht, euer Gott! …
Er selbst kommt und wird euch retten. …

Verzagt und verbittert sind auch die, denen Jesus Gottes Erbarmen zuwendet. Er seufzt, Jesaja zitierend::

… das Herz dieses Volkes
ist hart geworden.
Mit ihren Ohren hören sie schwer
und ihre Augen verschließen sie,
damit sie mit ihren Augen nicht sehen
und mit ihren Ohren nicht hören
und mit ihrem Herzen
nicht zur Einsicht kommen
und sich bekehren
und ich sie heile.
(Matthäus 13,15)

Wiederholt ruft Jesus deshalb auf:

Wer Ohren hat, der höre!
(z.B. Matthäus 11,15 und 13,9)

Was dann später der Seher Johannes im Buch der Offenbarung wiederholt den christlichen Gemeinden insgesamt ans Herz legt:

Wer Ohren hat, der höre,
was der Geist den Gemeinden sagt.
(Offenbarung 2,7.11.17.29; 3,6.13.22)

Christ werden heißt, nicht nur das Licht der Welt erblicken, sondern die Ohren öffnen für Sein „Wort“, um in Seinem Licht mit eigenen Augen zu sehen, was Gott in dieser Welt tut. „Effata!“ Öffne dich!, lautet daher die Devise bei der Taufe. Öffne dich seinem Wort, seinem Licht, seinem Atem! Und mit all dem öffne dich gemeinsam mit ihm dem Menschen in deiner Welt!

Dann beginnt auch heute wieder die Zeit, in der Er die alte Sehnsucht und Verheißung erfüllt:

Dann werden die Augen der Blinden aufgetan 
und die Ohren der Tauben werden geöffnet.
Dann springt der Lahme wie ein Hirsch
und die Zunge des Stummen frohlockt. …
(Jesaja 35,4-6a.10)

Befreiung des Menschen zu sich selbst und zu seinen Möglichkeiten für ein gelingendes Leben in dieser Welt!

Neue Klänge für taube Ohren, neue Farben für blinde Augen, neue Stimme für stumme Lippen, neue Kraft für lahme Glieder!

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