Sonntagsbotschaft zum 1. September 2024, dem 22. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B).
Spaß einer eigenen Art macht es, Anderen so etwas anzukreiden: Da predigt einer Einschränkungen, um das Klima zu retten, fährt selber aber einen protzigen SUV und fliegt jedes Jahr zum Urlaub in die Ferne. Besonders peinlich, wenn ein Pfarrer immer wieder zu großzügigem Spenden auffordert, selber aber alles Geld hortet. „Anderen Wasser predigen und selber Wein trinken“ heißt oft ein solcher Widerspruch zwischen dem, was einer sagt und was er tut.
Besser wäre es eigentlich, Wein zu predigen und dafür zu sorgen, dass alle ihn sich leisten können.
Unbeschadet aller modernen „Großzügigkeit“, mit der wir angeblich jedem seine Freiheit lassen, möchten wir alle doch gerne immer wieder mal andere dazu bewegen, ein Verhalten zu ändern – im Privaten wie in der Politik; in der Kirche vielleicht noch mehr. Gründe, warum das nötig sei, können wir meistens problemlos benennen.
Warum hält man uns dabei nur dann für glaubwürdig, wenn unser Reden und unser Tun zueinander passen?
Das Volk, das sich im verheißenen Land mitten unter anderen Völkern ansiedelte, bekam von Mose etwas ins Stammbuch geschrieben, was auch uns heute zur anregenden Antwort auf solche Fragen werden kann:
… Israel, hör
auf die Gesetze und Rechtsentscheide,
die ich euch zu halten lehre! …
Ihr sollt sie bewahren
und sollt sie halten. …
Und er nennt mehrere Gründe dafür:
Dann wird es tatsächlich werden:
… ihr werdet leben …
in dem Land, das Gott euch gibt!
Und das wird an euch geschätzt werden als
… eure Weisheit und eure Bildung
in den Augen der Völker. …
Sie werden sagen: In der Tat,
diese große Nation
ist ein weises und gebildetes Volk.
Und sie werden staunen, wie gut es bei euch zugeht, und über unseren Gott staunen, wenn ihr euch auch wirklich daran haltet. Sie werden sagen:
… welche große Nation
hätte Götter, die ihr so nah sind,
wie der HERR, unser Gott, uns nah ist,
wo immer wir ihn anrufen?
Oder welche große Nation
besäße Gesetze und Rechtsentscheide,
die so gerecht sind
wie alles in dieser Weisung …?
(Deuteronomium 4,1-2.6-8)
Mich erinnert das an unseren Stolz über das deutsche Grundgesetz in den Fünfziger- und Sechziger-Jahren mit seinen wunderbaren Regeln über Menschenrechte und Demokratie. Wir hielten uns ja auch dran. Vielen galt es weltweit als die beste demokratische Verfassung!
In das gleiche Horn bläst an diesem Sonntag der Jakobusbrief:
… Werdet aber Täter des Wortes
und nicht nur Hörer,
sonst betrügt ihr euch selbst …
(Jakobus 1,22)
und macht daraus eine „Lebenslüge“!
Warum verhalten sich Menschen oft selber doch ganz anders, als sie es im Brustton der Überzeugung der Allgemeinheit zur dringend notwendigen Norm machen wollen?
Im Evangelium des Sonntags (Markus 7,1-8.14-15.21-23) geht es um dieses Thema:
In jener Zeit
versammelten sich die Pharisäer
und einige Schriftgelehrte,
die aus Jerusalem gekommen waren,
bei Jesus.
Was sind das für Leute?
Vorsicht! Wenn unsereins das Wort „Pharisäer“ hört, klingt sofort das Wort „Heuchler“ mit. Festmachen kann man das an dem friesischen Kaffee-Cocktail und der Legende von seiner Entstehung:
Ein strenger Pastor, in dessen Anwesenheit man besser keinen Alkohol trank, wurde beim gemeinsamen Kaffeetrinken nach einer Tauffeier überlistet: Er selber bekam den normalen Kaffee mit einer Sahnehaube. Aber bei dem „Kaffee“ der anderen hielt die Sahnehaube geschickt dessen Rum-Duft in Schach. Als der Pastor das mitkriegte, soll er ausgerufen haben: „Ihr Pharisäer!“ Und seither, sagt die Legende, hat das Getränk diesen Namen.
Aber die Pharisäer in der Zeit von Jesus wollten ernsthaft und so konsequent wie möglich in ihrem Verhalten genau dem entsprechen, was ihr Glaube war.
Allerdings wurde ihnen ihre perfektionistische Haltung zur Falle. Denen unter ihnen, die als schriftgelehrte Theologen allen anderen viele ins Einzelne gehende Vorschriften machten, wie sie – perfekt den Geboten entsprechend – zu handeln hätten, denen war es gelungen, in Sachen Religion und Moral eine führende Stellung zu erlangen – mit Amtssitz in Jerusalem. Unter ihrer Autorität hatten viele Menschen zu leiden.
Leute dieser Sorte sind aus Jerusalem gekommen, wahrscheinlich um Jesus zu kontrollieren und um ihn der widergöttlichen Gesetzwidrigkeit zu überführen.
Sie sahen, dass einige seiner Jünger
ihr Brot mit unreinen,
das heißt mit ungewaschenen Händen aßen.
Um klarzustellen, dass es denen dabei nicht mehr um eine ursprünglich vernünftige Hygiene ging, sondern nur noch um einen verkümmerten rituellen Brauch, erläutert der Erzähler:
Die Pharisäer essen nämlich
wie alle Juden nur,
wenn sie vorher
mit einer Handvoll Wasser
die Hände gewaschen haben;
so halten sie
an der Überlieferung der Alten fest.
Auch wenn sie vom Markt kommen,
essen sie nicht,
ohne sich vorher zu waschen.
Noch viele andere überlieferte Vorschriften
halten sie ein,
wie das Abspülen von Bechern,
Krügen und Kesseln.
Diese Leute also machen Jesus die Vorhaltung:
… Warum halten sich deine Jünger
nicht an die Überlieferung der Alten,
sondern essen ihr Brot mit unreinen Händen?
Er antwortete ihnen:
Der Prophet Jesája hatte Recht
mit dem, was er über euch Heuchler sagte,
wie geschrieben steht:
Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen,
sein Herz aber ist weit weg von mir.
Vergeblich verehren sie mich;
was sie lehren,
sind Satzungen von Menschen.
Dann setzt Jesus fort mit dem Vorwurf:
8 Ihr gebt Gottes Gebot preis
und haltet euch
an die Überlieferung der Menschen.
Hier allerdings unterbricht die Leseordnung den Bibeltext. Die Verse 9 bis 13 werden ausgelassen und die Fortsetzung setzt bei Vers 14 wieder an. Dabei ist das gehörte Beispiel mit dem Händewaschen zwar typisch, aber vergleichsweise noch harmlos. Das in den weggelassenen Versen genannte Beispiel ist viel brisanter.
Jetzt sieht dieser Vorwurf in Vers 8 so aus, als gebe Jesus damit eine zusammenfassende Wertung dessen, was vorher erzählt wurde. Dann ist zwar nachvollziehbar seine Vorhaltung, dass sie es mit all dem menschlich überlieferten Brauchtum übertreiben. Aber nicht plausibel bleibt sein Vorwurf, sie gäben damit Gottes Gebot preis. Inwiefern denn?
Der Bibeltext geht weiter:
9… Sehr geschickt setzt ihr
Gottes Gebot außer Kraft,
um eure eigene Überlieferung aufzurichten.
10 Denn Mose hat gesagt:
Ehre deinen Vater und deine Mutter!
und: Wer Vater oder Mutter schmäht,
soll mit dem Tod bestraft werden.
11 Ihr aber lehrt:
Wenn einer zu seinem Vater
oder seiner Mutter sagt: Korbán –
das heißt: Weihgeschenk sei,
was du von mir
als Unterstützung erhalten solltest – ,
12 dann lasst ihr ihn
nichts mehr für Vater oder Mutter tun.
13 So setzt ihr
durch eure eigene Überlieferung
Gottes Wort außer Kraft.
Und ähnlich handelt ihr
in vielen Fällen.
Man muss sich das mal praktisch vorstellen! Anselm Grün beschreibt das Korbán-Beispiel in seinem Buch über die Zehn Gebote so:
Gott wollte, dass die alten Eltern noch eine gute Lebensgrundlage haben. Das, was die Söhne den Eltern schulden, ist die Sorge für ihren Unterhalt. Nun hatten die Pharisäer einen Trick erfunden. Ich brauche das Geld, das ich den Eltern schulde, nur als Opfergabe für Gott zu erklären, dann bin ich frei von der Verpflichtung, für die Eltern zu sorgen. Man benutzte Gott, um den Eltern ihr Recht und ihre Ehre zu nehmen. Doch damit verfälschten die Pharisäer Gottes Absicht. (Anselm Grün, Die Zehn Gebote [2006], Seite 85-86)
Sie halten sich zwar an den Buchstaben des Gesetzes, verdrehen es aber so, dass ihr entgegengesetztes Verhalten legitimiert erscheint.
So illustriert Jesus drastisch seine Aussage „Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen.“
Ein Befund, der ans Eingemachte geht, wenn Evangelium verkündet und Moral gepredigt wird. Wir kommen nicht daran vorbei, vor allem, wenn wir Christen und Kirche sein wollen, uns in unseren Tagen durch diese Botschaft der Bibel selber anfragen zu lassen. Hat womöglich der hier von Jesus angesprochene Widerspruch mit dem aktuellen Abbau der Kirche zu tun, weil ihre Glaubwürdigkeit gelitten hat? Wäre es besser, den „Wein“ zu predigen, den das Evangelium meint, und dazu beizutragen, dass alle ihn trinken können?