Sonntagsbotschaft zum 6. April 2025, dem 5. Sonntag auf dem Weg zum Osterfest (Lesejahr C).
Geschieht „Vergeben“ oder „Verzeihen“ dadurch, dass ich sage: Ich verzeihe dir?
Wenn du mich um Verzeihung bittest, ich mich dem moralischen Druck nicht verweigern kann und – mehr oder weniger gezwungenermaßen – nachgebe „Okay, vergeben“, – können so beide beteiligte Seiten das erleben, was „Vergebung“ ist?
Wenn ich Wochen später durch irgendein Verhalten bei dir den Eindruck erwecke, ich hätte immer noch etwas gegen dich, dann riskiere ich deinen Vorwurf „Ich dachte, du hast mir vergeben!“
Dieser Tage las ich (in der Kirchenzeitung „Der Sonntag“, Heft 5 vom 02.03.2025 Seite 15 links unten – in Verbindung mit dem Buch „Mein Gott, warum?“ von Heiko Bauder) über die Geschichte von dem Soldaten, der aus Nachlässigkeit ungewollt seinen Kameraden erschossen hatte. Die Mutter des Getöteten sagte später zu ihm: „Ich weiß, du trägst nicht die Schuld allein. Es gibt viele Seiten, die schuldig geworden sind.“ Ist das Vergebung?
Wenn ich meine Schuld aus irgendwelchen Gründen unrealistisch dramatisiert habe, so dass sie mich in einem Übermaß belastet, dann tut es natürlich gut, wenn jemand – gar eine von meiner Schuld betroffene Person – meine Fehleinschätzung korrigiert, so dass ich meine Schuld auch selber auf ein realistisches Ausmaß begrenzt sehe. Das kann heilsam entlasten, ist aber etwas Anderes als Vergebung.
Das Ziel einer solchen Entlastung haben viele Muster, mit denen ich selbst oder auch Freunde, die mir Gutes wollen, den Druck von Schuldgefühlen von mir nehmen können und deswegen den Eindruck erwecken, mindestens ein hilfreicher Ersatz für echte Vergebung zu sein.
Mit Bildern und mit Humor didaktisch gut aufbereitet, hat vor einem halben Jahrhundert ein Büchlein („Anders geht es besser! Bilderbuch der Schuld“ von Johannes Hansen und Heinz Giebeler, Verlag Junge Gemeinde, 3. Aufl. 1974) eine Reihe von fest eingebürgerten Verhaltensmustern solcher Art beschrieben, mit denen Menschen sich Entlastung von einem großen Brocken Schuld zu verschaffen versuchen:
Mal wird Schuld beschönigt oder mit künstlich herbeigezogenen Argumenten übertüncht, mal kleingeredet oder verharmlost. Oder man versucht, Schuld irgendwie versteckt zu halten oder sie auf andere abzuwälzen oder auch ins Positive zu wenden, …
Ein Mensch allerdings, der unter seiner Schuld leidet, spürt das Gekünstelte. Wenn ich merke, ein mir wohl gesonnener Mitmensch meint, das Ausmaß meiner Schuld unbedingt kleiner machen zu müssen, dann kann mir das sogar Angst machen, dass meine Schuld wohl noch viel größer ist als ich dachte und man mir deshalb die schmerzhafte Einsicht in das „wirkliche“ Ausmaß meiner Schuld meint unbedingt ersparen zu müssen.
Der Soldat, nach den entlastenden Worten der Mutter des getöteten Kameraden, wird zitiert: „Da ist ein Zentner von mir abgefallen. Diese Schuld war wie ein Schatten, der immer mit mir ging, den ich nicht abschütteln konnte. Und auf einmal war er weg. Diese Vergebung zugesprochen zu bekommen, war eine ganz andere Qualität.“
Vielleicht ist in den Worten der trauernden Mutter nicht die rationale Begründung wichtig, sondern das positive Signal, mit dem sie da dem am Tod ihres Sohnes Schuldigen begegnet: ohne Vorwurf, sondern mit der spürbaren Absicht, ihn wohlwollend zu entlasten.
Im Neuen Testament der Bibel zeigt Jesus immer wieder durch sein Verhalten gegenüber schuldig gewordenen Menschen, wie Gott Menschen begegnet, die unter ihrer Schuld leiden. Er redet nicht dem Schuldigen seine Schuld aus, sondern mitfühlend erkennt er die Schuld an – in ihrer realistisch gesehenen Größe. Weder dramatisiert er sie, noch unternimmt er es, sie zu beschönigen oder kleinzureden.
Gleichzeitig lässt Jesus den Schuldigen spüren: Deine Schuld mindert aber nicht meine Wertschätzung für dich! Wo Andere zu Menschen, die als schuldig gelten, jede Nähe meiden und sich von ihnen distanzieren, machen sie mit Jesus die Erfahrung, dass er sich ihnen zur Seite stellt und geradezu ihre Nähe sucht. Obwohl er damit in den Geruch kommt, selber einer von denen zu sein, die nur Verachtung verdienten. Er isst mit ihnen an einem Tisch, nimmt sie in seine Arme, …
Ein Mensch, der sich wegen seiner Schuld nur noch schämt und sich selber nicht mehr achten kann, dem seine Würde, seine Liebenswürdigkeit oder gar sein Lebensrecht in Abrede gestellt wird, – wenn er so Jesus begegnet, dann fängt für ihn geradezu das Leben neu an!
Schon das Alte Testament beschreibt prophetisch, wie Gott zum Menschen steht, der Schuld auf sich geladen hat. Ein Text, der in den Wochen bis Ostern in Liturgie und Gebet der Kirche mehrere prominente Plätze belegt:
Mein Knecht, der gerechte,
macht die Vielen gerecht;
er lädt ihre Schuld auf sich.
Deshalb gebe ich ihm Anteil
unter den Großen,
und mit den Mächtigen
teilt er die Beute,
weil er sein Leben dem Tod preisgab
und sich unter die Verbrecher rechnen ließ.
Denn er trug die Sünden der Vielen
und trat für die Schuldigen ein.
(Jesaja 53,11b-12 –
Lesung in der morgendlichen Laudes an jedem Freitag in den Wochen vor Ostern)
Aber die Schriftgelehrten und die Pharisäer im Evangelium haben keinen Sinn für solche göttliche Vergebung. Wahrscheinlich eifersüchtig auf die sogenannten „Sünder“ werden sie sich kopfschüttelnd fragen: Und wo bleibt dann Gottes Lohn dafür, dass wir uns an alle seine Regeln halten?!
Um unsere ungebremste Sehnsucht wirbt Jesus an diesem 5. Sonntag auf dem Weg zum Osterfest mit einem weiteren Zeichen der Vergebung nach Gottes Art:
Jesus ist schon in Jerusalem. Seine letzten Tage sind gekommen. Im Vorhof des Tempels spricht er zu den Menschen. Viele hören ihm zu. Da wird aus der Situation eine Gerichtsverhandlung:
Die Schriftgelehrten und die Pharisäer
brachten eine Frau,
die beim Ehebruch ertappt worden war.
Sie stellten sie in die Mitte
und sagten zu ihm:
Meister, diese Frau wurde
beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt.
Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben,
solche Frauen zu steinigen.
Was sagst du?
Mit diesen Worten
wollten sie ihn auf die Probe stellen,
um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen.
Ja, die Herren Richter kennen ihn schon. Sie wissen schon: Dieser Jesus möchte am liebsten, dass nicht einmal vor Gericht Schuldiggesprochene bestraft werden, und dass Barmherzigkeit mehr zählt als „Gerechtigkeit“. Und das soll auch noch Gottes Wille sein!
Endlich haben sie diese Gelegenheit, Jesus zu zwingen, dass er sich zu seiner gottlosen Position in aller Öffentlichkeit bekennt – bei dieser Gerichtsverhandlung im Vorhof des Jerusalemer Tempels.
Der Sachverhalt ist zweifelsfrei ermittelt. Und der Tatbestand eines nach „Gottes Recht und Gesetz“ mit der Todesstrafe bedrohten Vergehens steht außer Frage.
Wenn Jesus nun entscheidet „Hinrichtung durch Steinigung“, dann hat er selber öffentlich gemacht, dass alles, was er immer sagt, nur Humbug ist. Dann hat er keinen Einfluss mehr im Volk und sie brauchen nicht weiter zu befürchten, dass er ihnen beim Volk das Wasser abgräbt.
Wenn er aber entscheidet „keine Strafe“, dann hat er öffentlich gemacht, dass er das Volk gegen „Gottes Recht und Gesetz“ aufhetzt und also selber zum Tod verurteilt werden muss.
Wie verhält sich Jesus in diesem Dilemma?
Jesus bückte sich
und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Als sie hartnäckig weiterfragten,
richtete er sich auf und sagte zu ihnen:
Wer von euch ohne Sünde ist,
werfe als Erster
einen Stein auf sie.
Und er bückte sich wieder
und schrieb auf die Erde.
Als sie das gehört hatten,
ging einer nach dem anderen fort,
zuerst die Ältesten.
Jesus blieb allein zurück mit der Frau,
die noch in der Mitte stand.
Die Richterbank leert sich. Während der laufenden Verhandlung. Die Verkündung des Strafmaßes steht an!
Jesus, den sie ungewollt zu einem der Richter gemacht haben, bleibt als einziger Richter übrig – gemeinsam mit der schuldiggesprochenen Angeklagten.
Er richtete sich auf und sagte zu ihr:
Frau, wo sind sie geblieben?
Hat dich keiner verurteilt?
Sie antwortete: Keiner, Herr.
Da sagte Jesus zu ihr:
Auch ich verurteile dich nicht.
Geh
und sündige von jetzt an nicht mehr!
(Johannes 8,1-11)
Jesus, der in Gottes Namen auftritt, wandelt sich vom Richter zum Lebensretter: Weder Hinrichtung noch Liebesentzug – bei Gott nicht! Er richtet – ihr Leben wieder her! Sie kann jetzt neu anfangen. Unbelastet durch ihre Schuld.
Vom Lebensretter lässt man sich gerne sagen: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ Wahrscheinlich wird sie sich gerne daran halten.
Und was wird aus Jesus?
Die beschämten Richter müssen jetzt noch zorniger gegen ihn wüten. Die Fortsetzung des Johannes-Evangeliums erzählt davon. Da folgen weitere Streitgespräche im Tempelvorhof. Dabei provoziert Jesus die Pharisäer mit seinem Wort:
Ihr urteilt, wie Menschen urteilen,
ich urteile über niemanden.
(Johannes 8,15)
Aber da Jesus mit seinem Tun und Reden bei all den Menschen, die sich mit Schuldvorwürfen konfrontiert sehen, ein Bewusstsein der Entlastung hervorruft und viel Sympathie für ihn, müssen seine Gegner ihn erst mal in Ruhe lassen. Der Evangelist erzählt:
Aber niemand nahm ihn fest;
denn seine Stunde
war noch nicht gekommen.
(Johannes 8,20)
Und:
Da fragten sie ihn:
„Wer bist du denn?“
Jesus antwortete:
„Warum rede ich überhaupt noch
mit euch?“
(Johannes 8,25)
Ein paar Verse weiter heißt es dann:
Da antworteten sie ihm:
Sagen wir nicht mit Recht:
Du bist … von einem Dämon besessen?
(Johannes 8,48)
Und die Erzählung von den Streitgesprächen nach der verhinderten Steinigung der Frau endet mit dem Fazit:
Da hoben sie Steine auf,
um sie auf ihn zu werfen. …
(Johannes 8,59)
Die Strafe, die er von der Frau abgewendet hat, hat er jetzt auf sich gezogen. Und sie werden sie bald vollstrecken.
Denn seine Gegner, die meinen, Gottes Strafgericht am schuldiggewordenen Menschen vollstrecken zu müssen, sie stehen natürlich in unversöhnlichem Gegensatz zu einem, der „in Gottes Namen“ den Menschen von der Strafe für seine Sünde befreit. Dafür muss Jesus zahlen!
Diese Art der Begegnung mit Jesus, den der Vater an Ostern für alle Zeiten zum Sieger machen wird (vgl. Philipper 2,6-11), läutet die „Zeitenwende“ ein: Er macht die Umkehr möglich von einem Gott, den sie eigentlich nur noch als „strengen Richter aller Sünder“ kennengelernt hatten, als bedrohlich allmächtig und als erniedrigend – die Umkehr hin zu dem Gott, den der prophetische Ruf vor diesem Evangelium besingt:
… er ist gnädig und barmherzig,
langmütig und reich an Huld.
(Joël 2,12.13)