Blogbeitrag

Älpele plus – „Wen Gott liebt, den …“ (?)

23. August 2020

Gestern habe ich mich und meine Kräfte übernommen. Zum Glück ohne bleibenden Schaden.

Außer einem schönen Muskelkater die einzige für mich wahrnehmbare Nachwirkung: Ich bin erst um 11 Uhr aufgestanden und nutze den heutigen Tag nach einem leckeren Brunch zur Erholung. Und bei diesem „Kaiser-Wetter“ – um 14:30 Uhr strahlend blauer Himmel mit ein paar Schönwetterwolken bei 30°C geht mein einziger Ausgang nach draußen heute etwa ab 17 Uhr durch den Ort und dann der Vils entlang zum Greither Fischweiher, wahrscheinlich für eine Räucherforelle.

Gestern: Mein Plan sah einen Weg mit dezenter Belastung vor – durch den Ort und dann den Forstweg hinauf zum Älpele. Im Rucksack – abgesehen von der obligaten Wanderapotheke – ein Liter Wasser und für alle Fälle die Regenjacke und ein vielseitig verwendbarer leichter Pullover. Als Frühstück genügte mir ein „Haferl“ Kaffee; essen wollte ich ja etwas Zünftiges in der Hütte auf dem Älpele. Der Himmel war noch sehr bewölkt und ich nutzte die mäßige Wärme. Die angekündigte Sonnenhitze schreckte mich nicht, da ich ja wusste, dass der Weg durch Hochwald bis zur Berghütte gut Schatten bietet. Um halb neun Uhr ging ich los – in der Annahme, gegen zwei Uhr zurück zu sein.

Hinter dem noch ruhigen Ort kam ich an den Forstweg zum Älpele hinauf. Da ich mit meinen Kräften schonend umgehen wollte, konnten mich die wenigen mich überholenden jungen Paare, die die gelegentlichen Abkürzungen der Serpentinenschleifen auf dem Fahrweg über den steilen Pfad durch den Wald nahmen, nicht dazu verleiten, es ihnen gleich zu tun. Obwohl ich das ja früher auch gerne gemacht habe. Jetzt finde ich meine Freude darin, mich überhaupt in dieser Landschaft zu ergehen. Der saftig grüne, blühende Waldboden unter dicht stehenden hohen Bäumen zu meinen beiden Seiten hat es mir angetan. Und der zunehmend blaue Himmel über den Bäumen, die immer wieder die Sicht ins Tal und in die Weite frei geben.

An einer Stelle bemerkte ich, halb versteckt neben dem Weg, eine „Wasserversorgungsanlage“, wie ein Schild das an und in den Hang angebrachte Gebäude mit Zufahrtmöglichkeit für ein Auto benannte. Mir fielen dazu die auf Kreta auch in abgelegenen Berglandschaften gängigen „Wasserversorgungsanlagen“ ein und ich musste beim Vergleich lachen. Dort – offen zugänglich – ein paar Metallrohre und Hartgummischläuche mit Zählern und Absperrhebeln, hier ein abgeschlossenes Gebäude. Natürlich, das muss auch bei Schnee und minus 20 Grad funktionieren können und zugänglich bleiben.

Im Lauf der Zeit merkte ich, dass der – bequeme – Weg mir mit seiner durchgängigen Steigung zunehmend Mühe machte. Im unangefochtenen Bewusstsein, dass ich das aber so will, tauchte in mir die Frage auf, was das eigentlich ist, was ich da will. In vergangenen Jahren war mir oft wichtig, Berggipfel zu „bezwingen“ und die Aussicht von oben zu genießen. Da ich ja aber die Gipfelstürmerei drangegeben und mich auf die Freude an der Bewegung „in einem von Gottes schönsten Wohnzimmern“ verlegt habe, musste ich andere Gründe haben. Im Unterschied zu Vorjahren freute ich mich, wenn eine Bank am Weg auftauchte, nicht nur an dem Farbkontrast ihres Rot zum Grün der Umgebung, sondern auch an der Rast, die sie mir ermöglichte, vor allem wenn sie an einem Platz stand, der eine schöne Aussicht eröffnete. Momente, die in mir der Frage wieder Raum gaben: Warum tue ich mir diese Mühe an? Was ist meine Freude daran, über 400 Meter Höhenunterschied hinauf zu gehen und dann wieder hinunter?

Ein ganzes Netzwerk von Fragen, Gedanken, Bildern, Wortbildungen und Wertvorstellungen fiel mir dazu ein und beschäftigte mich längere Zeit auf meinem Weg und in meiner Art, ihn zu erleben:

Wenn eine andere Person mich zu diesem Weg samt seiner Mühe veranlassen würde – vielleicht gar gegen meinen Willen – , wie würde ich darauf reagieren? Wenn ein Vater seinen Sohn zu etwas von dieser Art veranlasst, wie bewerte ich das? Wenn Gott mich dazu veranlasst, wie benenne ich das und was halte ich davon? Und wenn ich das selber bin, wie stehe ich dann dazu?

Schon meine Entscheidung, wie ich einen solchen Vorgang benenne, finde ich geradezu atemberaubend, wenn ich an den anstößigen Satz der Bibel denke „Wen Gott liebt, den züchtigt er.“ (z.B. Hebräerbrief 12, 6 und 7) Wenn ich mit dem, was ich da mit mir treibe, mich selbst sollte „züchtigen“ wollen, dann lass ich das sofort bleiben; ich bin doch schließlich kein Masochist!

Gelegentlich, wenn ich auf irgendeinem Wanderweg in den Bergen einem aufwärts fahrenden Mountain-biker begegnete, habe ich schon anerkennend zugerufen „Sportlich!“ In sportlichen Zusammenhängen gilt „Disziplin“ als unangefochten anerkannter Wert. Eine solche Disziplin – so lange ich sie nicht übertreibe – pflegt meine Gesundheit, fördert meine Möglichkeiten, mein Leben zu leben und auch meinen Freuden nachzugehen.

Nun ist „Disziplin“ offensichtlich ein Fremdwort. Welche Vorstellungen stecken darinnen und dahinter, die Grund dafür sind, dass unsere Sprache dieses Wort als Verständigungsmittel integriert hat?

Im Google-Duden finde ich als Erklärung „das Beherrschen des eigenen Willens, der eigenen Gefühle und Neigungen, um etwas zu erreichen“. Und als „ähnlich“, als Synonym für „Disziplin“ wird mir da angeboten „Ordnung, Zucht, Beherrschtheit, Selbstbeherrschung, Selbstkontrolle, Selbstdisziplin, …“.

Schon in vergangenen Jahren habe ich mich bemüht, das mir Wertvolle, das mit „Disziplin“ gemeint sein könnte, mit einem anderen Wort zu benennen. Denn „Disziplin“ hatte und hat bis heute für mich etwas zu viel an Geschmack nach Zwang und Selbstentfremdung. Mit Hilfe des Etiketts „Disziplin“ kann man von der Erziehung bis in die Arbeitswelt und in die Politik hinein auch so manche fragwürdige oder abzulehnende Fremdbeherrschung bemänteln. So ersetze ich es in meinem persönlichen Wortschatz gerne tastend durch – leider auch wieder alles Fremdwörter – „Konsequenz“, „Authentizität“, „transparente Echtheit“. Dabei ahne ich, dass in der Bibel das Wort „Reinheit“ (z.B. „Selig, die reinen Herzens sind“ – Matthäus 5,8) etwas Ähnliches meint, etwa einen Edelstein, dessen Durchsichtigkeit, also Transparenz sehen lässt, dass da nichts seinem Wesen Fremdes oder Widersprüchliches enthalten ist. In der Tat, wie gerne möchte ich frei sein von Widersprüchen zwischen meinem Reden und Denken und meinem Handeln! Leider taugt das Wort von der „Reinheit“ aber kaum dazu, etwas von seinem eigentlichen Sinn zu kommunizieren, da es in der üblichen Verständigung weitgehend nur noch eingeschränkt verwendet wird als idealisierte Ablehnung sexueller Lust, wonach z.B. „reine Liebe“ eine Liebe ohne Sex sei.

Wie will ich also verstehen und in der Verständigung benennen, was mich „antreibt“, wenn ich mir diesen Weg zum Älpele „antue“, was mir zwar Spaß bereitet, aber doch Mühe macht und nicht notwendig ist?

Mir fällt das Beispiel meines Freundes Andreas Mengelkamp ein, der nach einer Herzoperation auf Grund ärztlicher Empfehlung regelmäßig „Herzsport“ trieb (und trotzdem viel zu früh starb). Was hat er da aus eigener Entscheidung und offensichtlich auch gerne gemacht, was doch nicht ohne Schweiß und Mühe ablief? „Da hab ich Training“, nannte er seinen Grund, warum der Mittwoch bei ihm für Vereinbarungen tabu war. Da musste und wollte er „trainieren“. Weil er sich etwas Gutes tun, antun wollte. Das war für ihn ein Gebot aus einem Mindestmaß an Selbstliebe.

Mütter stecken problemlos ihre Kleinen an mit der Abenteuerlust, das Gehen zu trainieren. „Heute hat er schon zehn Schritte am Stück gemacht!“ Von meinem Platz im Greither Weiher, wo ich heute Abend tatsächlich eine leckere Räucherforelle genoss, sah ich einen etwa 13jährigen Jungen, der auf seinem Fahrrad hin- und herfuhr. Er riss immer wieder das Lenkrad hoch und „trainierte“ Ein-Rad-Fahren. Seine Ausdauer war beachtlich, und selbst mir beim Zuschauen machte Spaß zu sehen, wie lange es ihm gelang, allein auf dem Hinterrad zu fahren. Unwillkürlich zählte ich mit ihm die Zahl der Pedalumdrehungen, die er „schaffte“.

Und wie viel Spaß haben vor allem Väter, gemeinsam mit ihren Kindern Fußball zu trainieren: geschickt zu dribbeln und ins Tor zu treffen – einschließlich Enttäuschung und Ärger und Schweiß bis zu Tränen bei der immer wieder erfolglosen Bemühung!

Nach Einschätzung anderer übertreiben das manche Eltern. Dann wird gesagt, die Eltern „züchten“ ihre kleine Tochter zu einer Ballerina oder ihren Sohn zu einem Hochleistungssportler. Mit der Begründung liebender Sorge um die Zukunft ihres Kindes „züchten“ manche Eltern ihre Kinder zu Musterschülern. Gängiger Sprachgebrauch spricht bei der Begleitung des Heranwachsens von Menschenkindern von Erziehung und lediglich bei Tierjungen von „Aufzucht“. Was mit „Zucht“ und entsprechend mit „züchtigen“ gemeint ist – ähnlich auch „Domptur“ (durch einen Dompteur) und „domptieren“ – oder auch „Dressur“ – , entspricht nach gewachsenem Allgemeinempfinden nicht den Anforderungen an den Respekt vor der Würde eines jeden Menschen. Sogar das „Zucht“-haus wurde abgeschafft. „Zucht und Ordnung“ sind – außer vielleicht bei Rechtsextremisten – eine verpönte Kategorie geworden.

Wie kann dann aber der Satz der Bibel Bestand haben „Wen Gott liebt, den züchtigt er.“?

Was tut denn Gott wirklich nach der Erfahrung von Menschen, die für ihre Lebensorientierung an der Bibel Maß nehmen, wenn er dazu beitragen will, dass sie für das Leben und für die Zukunft „fit“ sind?

Was in den Kirchen traditionell gepflegt wird, ist die Glaubens-Lehre. Schon die Kinder sollen „lernen“ und „wissen“, wie Gott zu den Menschen steht und was er mit ihnen will: dass er sie liebt und sie zum Lieben anleitet. Bescheid wissen, wie man Christ zu sein hat und was deswegen nicht sein darf. Ich räume ein, das mag eine verkürzte Vereinfachung sein. Insofern es aber stimmt, ist es zu vergleichen mit der Frage, auf welchem Weg jemand „fit“ wird, im heutigen Straßenverkehr ein Auto zu fahren. Eine Fahrschule, die nur die Theorie lehrt, wie das Autofahren sein soll und wie es geht, aber das Üben, das Trainieren, die Praxis unter den Tisch fallen lässt, disqualifiziert sich ohne Widerspruch.

Vor Jahrzehnten entwickelten wir in der Pfarrgemeinde ein Konzept, wie wir Jugendliche so begleiten könnten, dass sie ausprobieren und sich selbst erproben und dann eine sich selbst wie auch dem Sakrament gerecht werdende Entscheidung treffen, ob klar sein soll: Ja, wissend, was ich da tue, entscheide ich mich: Ich will mein Leben – in solidarischer Kirchengemeinschaft – aus dem Glauben an Christus gestalten; deshalb will ich durch die gemeinsam gefeierte „Firmung“ mich dazu und darin bestärken (Protestanten sagen „konfirmieren“, also fest und stark machen) lassen. In fortgeschrittener Phase auf diesem Weg fragten wir die Jugendlichen nach ihrem Vorschlag, wie wir das griffig benennen könnten, wenn wir wieder für die Teilnahme Jugendlicher an diesem Weg werben wollten. „Christentraining“, warf eine 16Jährige in den Ring und erhielt die meiste Zustimmung.

Da „Training“ für mich bedeutet: da kann ich etwas ausprobieren, mich erproben, trainieren, einüben, da lässt man mich etwas üben, fällt mir dazu auch eine persönliche Erfahrung ein, die ich in meiner Internetseite Den-Retter-Gott-ranlassen.de unter der Überschrift „Aufgefangen werden“ so erzähle:

Als 4- oder 5-jähriges Kind genoss ich immer wieder dieses Erlebnis beim Spazierengehen mit meiner Mutter. Ein leicht ansteigender Schotterweg führte hinter einem Bahnübergang an einer höher gelegenen ebenen Wiesenfläche entlang, bis er mit der Wiese auf gleicher Höhe war. Dort, wo ich mit einem großen Schritt vom Weg aus auf die Wiese „hinauf“ gehen konnte, fing ich an. Ich „sprang“ hinunter auf den Weg. Danach ging ich ein Stück weiter, wo der Höhenunterschied größer war, und sprang wieder von der Wiese auf den Weg. Ein nächster Sprung folgte, wo der Höhenunterschied noch größer war. Und so weiter. Bis an den Punkt, an dem ich Angst bekam zu springen. Da streckte dann meine Mutter mir die Hände entgegen. Dann sprang ich von noch weiter oben. Ich wurde von meiner Mutter aufgefangen.

Es war für mich ein erregendes Abenteuer, das ich auf unseren Spaziergängen an dieser Stelle immer wieder suchte und herbeiführte: den Sprung wagen und aufgefangen werden.
Als Erwachsener habe ich mich oft daran erinnert, aber niemand sonst war da, der davon gewusst hätte. Meine Mutter war schon bald danach gestorben. Ich hatte immer ein klares Bild von der Stelle auf diesem Weg, musste aber natürlich davon ausgehen, dass das eine unzuverlässige Kinder-Fantasie war. Um so mehr war ich verblüfft, als ich 40 Jahre später zum ersten Mal wieder dort war, dass ich die Stelle genau so vorfand, wie ich sie immer vor meinem inneren Auge hatte. Mir war klar geworden: Da hatte Gott mich schon mal üben lassen. – In undramatischen Situationen schon mal üben können, – das macht die Augenblicke, in denen man ernsthaft-dramatisch fällt, weniger schlimm. Im Lauf der Zeit erkannte ich dann im Rückblick auf meinen bisherigen Lebensweg weitere Situationen, in denen Gott mich üben ließ:

Als frisch gebackener Messdiener, 10 oder 11 Jahre alt, kniete ich mit fromm gefalteten Händen an der Altarstufe. Weihrauch ging mir in die Nase und verursachte mir Übelkeit. Mir wurde schummerig. Ich wusste, jetzt kam es nur darauf an, mich schön gerade zu halten. Sehr bald merkte ich, dass ich die Herrschaft über mich verlor. Aber das machte mir keine Angst. Ich vertraute mich „der Situation“ an. Hier konnte mir ja nichts passieren. Schließlich begann ich, zur linken Seite langsam umzukippen. Ich ließ es geschehen. Und genau in diesem Augenblick fassten zwei Arme von hinten unter meine Achseln. Frau Erb hatte aus der Bank gesehen, wie es mir ging. Sie fing mich auf, nahm mich auf ihre Arme und trug mich raus an die frische Luft. Auf einem Stuhl sitzend, ich auf ihrem Schoß, tätschelte sie mich, bis es mir wieder gut ging.

Mit 17 wurde es dann für mich zum ersten Mal „Ernst“. Erster Liebeskummer. Was tat ich? Ich bin Wochen lang allein durch die Alpen gewandert. Viel gebetet habe ich und Tagebuch geschrieben. Gott ging mit mir. Er fing mich auf.
In viel späteren Jahren – als es in meinem Leben wiederholt ernsthaft-dramatische Situationen gab, war es dann nicht mehr ganz so schlimm für mich, zu fallen und mich auffangen zu lassen. Die Gewissheit, wenn ich falle, aufgefangen zu werden, wird mir inzwischen durch viele Erfahrungen in meiner Lebensgeschichte bestärkt.

Verallgemeinert heißt das für mich: Wenn ich es vorher habe üben können, Mühe und Belastungen zunächst zu ertragen, um sie dann zu meistern, entsteht eine stark machende Gewissheit, wie die französische Redewendung sie benennt „ça vaut la peine“ – „diese Mühe ist es wert“, „das lohnt sich“. Dabei finde ich beachtlich, wie weit die französische Redewendung geht: Was der Goggle-Duden nennt „um etwas zu erreichen“, hier „ça“, wird als lohnenswert benannt „la peine“. Auch ohne Französisch-Kenntnisse ist zu spüren: Hier geht es um „Pein“. Ja, das PONS-Wörterbuch bei Google übersetzt: Kummer, Leid, traurig sein, Schmerz, Strafe, …

Ob ich die erste „Pein“ meines Lebens wollte oder nicht, wurde ich nicht gefragt! Klar, ohne die Schmerzen der Geburt zu erleiden, hätte ich nicht mein Leben in dieser Welt beginnen können. (Ob man durch Kaiserschnitt Geborene darum beneiden oder sie bemitleiden soll, weiß ich nicht. Jedenfalls erleiden auch sie bei der Geburt Kälte, Berührung neuer Art, Atem-„Not“, …)

Es war die erste „Heraus“-Forderung meines Lebens, die Gott mir zugemutet hat. Er hat mich unter Schreien üben lassen; es hat geklappt mit dem Atmen. Vielen weiteren Herausforderungen verdanke ich mein Heranwachsen. Bei welchem Kind verliefe das ohne Tränen! Alleine gehen, ohne dass mich jemand hält, geht nicht ohne immer wieder zu fallen. Den eigenen Willen erfolgreich und angemessen geltend machen, das will gelernt sein und geht nicht ohne Enttäuschungen. … Üben, trainieren, … das muss einem heranwachsenden Menschen ermöglicht werden. Alle, die das Kind lieben, müssen ihm dabei helfen, damit es zunehmend sich das zutraut und fähig wird, sein Leben und seine Welt, so gut es die Rahmenbedingungen zulassen, eigenständig und solidarisch zu gestalten und die unvermeidlichen Rückschläge in Lernerfahrungen umzumünzen.

„Das Beste“ im Leben – so nennt es unter meinem bereits langjährigen Protest die deutsche Einheitsübersetzung der Bibel – „ist nur Mühsal und Beschwer“ und in der revidierten Fassung von 2016 „Mühsal und Verhängnis“ (Psalm 90,10). Nach meiner – gewagten, aber verantworteten – eigenen Übersetzung wird da aber genau das gesagt, was ich mit meinen Erwägungen hier meine: Das Beste im Leben war eigentlich immer erst mal nur Mühsal und Beschwernis! – Aber was dann draus geworden ist! Dank sei Gott und den Freunden!

Zurück zu meinem gestrigen Weg aufs Älpele:

Zwar sehe ich gerne Gott in meiner Nähe und verdanke ihm auch manche Anregungen beim Bergwandern. Wie auch sonst im Leben kann ich ihn als den erkennen, der mich für so manche Herausforderung ermutigt und bestärkt hat, etwa indem er mich aufmerksam hielt für das, was mir daran Freude machte oder wertvoll erschien. Weit davon entfernt ist aber, ihm den damit verbundenen Stress in die Schuhe zu schieben oder ihn für die dazugehörige Mühe, vielleicht auch für entstehenden Schmerz, Durst und Tränen verantwortlich zu machen. Wenn er mich ermutigt, herausfordert und bestärkt, mich zu erproben, zu trainieren, vielleicht dafür bis an meine Grenzen zu gehen, um sie kennenzulernen, und mir so seine Liebe zu mir zeigt und hilft, als sein „Ebenbild“ kreativ und verantwortlich zu leben, dann kann ich das nicht mit Worten benennen wie „züchtigen“, weil das, was es in der deutschen Sprache transportiert, eine zynische Lust an der Gewalttätigkeit atmet, die Gott zuzuschreiben schlicht und einfach Gottes Wesen krass verdunkelt. Die Irreführung bei der Übersetzung der Bibel ist vergleichbar mit dem Wort „auf die Probe stellen“ oder „prüfen“: „Aufgrund des Glaubens hat Abraham den Isaak hingegeben, als er auf die Probe gestellt wurde“ (Hebräer 11,17) Oder: „… wie er diese Männer im Feuer geläutert hat, um ihr Herz zu prüfen, so hat er auch mit uns kein Strafgericht vor, sondern der Herr züchtigt seine Freunde, um sie zur Einsicht zu führen.“ (Judith 8,27) Diese Worte betonen machtlüstern eine Stellung der Vormacht des Handelnden. Aber in der Originalsprache haben die verwendeten Worte eine weitere Palette von Bedeutungen, wie sie auch in den heutigen Sprachen, auch im Deutschen enthalten sind, bei der Übersetzung der Bibel aber traditionell übergangen werden zu Gunsten von machtorientierten, triebhaften und patriarchalischen Facetten des Bedeutungsgehalts: Unter Inkaufnahme von „Pein“ (Erschrecken oder Schmerzen beim Hinfallen) muten Eltern ihrem Kleinkind Gehversuche zu und stärken so sein Selbstvertrauen und seine Fähigkeit, die Welt zu entdecken und dabei unvermeidliche Rückschläge zu verkraften. Damit stellen sie ihr Kind nicht sadistisch „auf die Probe“, sondern eröffnen ihm, sich zu erproben, indem sie es zum Ausprobieren und Üben animieren. Sie „erproben“ es. „Probare“ steht im Lateinischen auch für „beweisen“, derselbe Wortstamm steckt im französischen „épreuve“ = Beweis. Wenn man im Lateinischen für das, was die Eltern da mit ihrem Kind tun, das Wort „probare“ verwendet, kann man das – kompliziert aber präzise – übersetzen mit „sie bewegen das Kind dazu, sich zu beweisen“, also sich und seine Möglichkeiten und die Freude an ihrer Verwirklichung kennenzulernen und sich ihrer zu vergewissern. Dieser Aspekt in Gottes Einstellung gegenüber dem Menschen kommt bei den gängigen Übersetzungen der Bibel einfach zu kurz, weil er bei der Wortwahl vernachlässigt wird, obwohl er in den ursprünglichen Worten sehr wohl enthalten ist und außerdem zu den Darstellungen in der gesamten Bibel von Gottes barmherziger Wesensart viel weniger im Widerspruch stünde.

Bei allem bisher Gesagten will ich nicht meine eigene Begrenztheit verschweigen, mit der ich meine beschriebene Einstellung in der Realität auch umsetze. Denn mein Weg zum Älpele endete nicht mit der köstlichen Buttermilch und der leckeren Käspressknödelsuppe, die es dort gab. Nach meiner wohltuenden Mittagsrast an der Berghütte ging mein Blick in die Runde der Berge, die die muldenförmige Alm umgeben. Der Reiz der Landschaft zog mich an und gaukelte mir vor, der Weg im Bogen hinauf zur Oberen Rossalpe sei für mich durchaus machbar und anschließend gehe es ja sowieso zum Vilsalpsee bergab.

Zwei Jahre zuvor war ich schon mal denselben Weg gegangen. Meine Erfahrungen damit hat meine Erinnerung sehr beschönigt.

Zuerst genoss ich den Weg und ich richtete mein Tempo nach meiner Befindlichkeit; ich hatte ja Zeit und Wasser. Allerdings eröffnete sich schließlich nach jedem Hügel und nach jeder Kurve, wo ich den Sattel zu erreichen meinte, ein neuer Abschnitt, noch steiler und vielleicht noch länger als der vorige. Zurückzukehren legte sich nicht mehr nahe; ich musste doch den höchsten Punkt auf meinem Weg bald erreicht haben.

Zunehmend wurden mir meine Erfahrungen von vor zwei Jahren bewusst. Mühsame Wegabschnitte erkannte ich wieder. Die Freude an der Landschaft war damals schon zurückgetreten hinter dem Stress, den ich mir „auferlegt“ (?) oder „eingehandelt“ (?) und zugemutet hatte. Jetzt, zwei Jahre später, mit – wie mir ja bewusst war – nachgelassenen Kräften hatte ich mir das wieder angetan. Ärgerlich. Was in mir aufkam, könnte ich „Zorn“ über mich nennen. Hatte ich mich selbst überschätzt? Immer öfter musste ich stehen bleiben. Ich nutzte das dann dazu, mich gewollt an der Aussicht zu erfreuen. Was sagst Du, Herr, jetzt zu meiner Lage? Mir fiel Psalm 81 ein: „Ach, dass doch mein Volk auf mich hören wollte! … Da überließ ich sie ihren eigenen Plänen.“ Bedauern? Zorn? Oh, beim Wort „Zorn“ erinnerte ich mich an meine kürzlich gemachte Neuentdeckung von Jesaja 12,1: „Du hast mir gezürnt, Herr. Aber dein Zorn hat sich gewendet und du hast mich getröstet.“ Getröstet??? – Ich merkte: Bei jedem Schritt, den ich tat, brauchte ich neu Luft mit viel Sauerstoff. Und in der Tat: Bei jedem Atemzug war genügend Luft für mich da. Tröstlich. Da oben, ziemlich nahe, musste jetzt (mal wieder?) das Etappenziel des für mich höchsten Punktes liegen! Nach Karte waren das dann nochmal etwa 300 m höher als das Älpele.

Eine der niedrigen Latschenkiefern war so geformt, dass sie einen Flecken Schatten auf dem Boden bildete. Wie der Rizinusstrauch für Jona bei Ninive! Nach einem Schluck Wasser (das in der Flasche immer weniger wurde), breitete ich meinen Mehrzweckpullover auf den Boden, nahm die Regenjacke aus dem Rucksack als Kopfkissen und legte mich zum Kraftschöpfen nieder. Oben blauer Himmel zwischen den grünen Kiefernzweigen! Wie schon mal 2015 am Strongyli auf Kreta! Die Ähnlichkeit der Ereignisse rief mir ein Lachen hervor. Mein Zorn, Sein Zorn hatte sich in Trost gewendet. Nach einer halben Stunde ging ich weiter – mit (ein bisschen) erneuerter Kraft.

Schließlich kam ich tatsächlich auf dem Sattel an. Endlich! In der Erinnerung hatte ich, dass der Weg hinunter zum Vilsalpsee problemlos war; auch auf der Karte ist er durchgehend rot eingezeichnet, als „leichter Wanderweg“. Bis zur Gabelung, wo er sich von dem als „mittelschwer“ markierten Weg über die Rossalpe trennt, zog sich allerdings der Abstieg über den streckenweise durch freigespülte Felsbrocken zur Klettertour mutierten Weg ziemlich in die Länge. Vor zehn Jahren habe ich das noch nicht so gesehen. Aber schon vor zwei Jahren – so kehrte die Erinnerung beim Wiedererleben zurück – war mir das beschwerlich geworden.

An der Weggabelung hatte sich eine Schar Mutterkühe mit ihren Kälbern versammelt. Um bei einem Ausweichen durch das den Wanderpfad umgebende hohe Gras die unübersichtliche Verteilung der „Tretminen“ zu meiden, suchte ich, meine Vorfahrt auf dem Pfad zu erwirken, indem ich freundlich ein Kalb ansprach und mit meinem Stock berührte, das auf dem Pfad mit Ausdauer stehen blieb. Ohne seine Mutter zu verärgern, gelang mir das schließlich.

Nun lag also wirklich der Weg nach unten vor mir. Die dortige Berghütte war sogar geöffnet, so dass ich Rast einlegte und ein Wasser trank – da es keine Buttermilch gab.

Der „leichte Wanderweg“ abwärts bis zum 500 m tiefer liegenden Vilsalpsee wurde für mich zur Tortur. Erst jetzt erinnerte ich mich, dass ich schon letztes Mal gelitten hatte. Wenn ich das als Lernerfahrung genutzt hätte, hätte ich mich vom Älpele aus nicht für diesen Weg entschieden, sondern wäre – wie ursprünglich geplant – denselben Weg wieder hinuntergegangen. So aber gab es jetzt keine Alternative. Über fast die gesamte Strecke in Serpentinen den Hang hinunter – in der Tat ohne jede Kletterei, also „leicht“, um nicht zu sagen „bequem“ – bestand der Schotterbelag des Weges bei diesem starken Gefälle aus sehr beweglichem Geröll. Auch mit den Wanderstöcken, die beim Halten des Gleichgewichts und gegen häufiges Ausrutschen sich als sehr wertvoll erwiesen, eine äußerst anstrengende Angelegenheit. Kaum hatte ich mich erfreut gewundert, dass meine Knie entgegen der Erfahrung von vor zwei Jahren auf diesem Weg gut mitspielten, da begannen die Blitze im linken Knie – wie damals. Nun ja, ich hatte Erfahrung mit den mir möglichen Gegenmaßnahmen. Je nach – zunehmendem – Bedarf blieb ich mal stehen, mal legte ich meinen „Charlie-Chaplin-Gang“ ein, den ich schon auf Kreta als für eine gewisse Zeit lang hilfreich entdeckt hatte auf dem Wanderweg nach Chrysopigi, wo mein Auto auf mich wartete. Die Schmerzen im linken Knie nahmen trotzdem zu. Da ich zum Ausgleich das rechte Bein stärker belastete, machte sich nach einiger Zeit bemerkbar, dass die Kräfte auch in ihm nachließen. Am Ende war ich mir nicht mehr sicher, ob sie ausreichen würden, mich bis nach unten zu tragen. Dem konnte ich nur damit begegnen, dass ich noch langsamer ging. Was war ich froh, als ich – auf den Beinen ziemlich schwankend – nach insgesamt acht Stunden um halb fünf am See ankam. Natürlich bin ich dann mit dem „Alpenexpress“ nach Hause gefahren. Unverletzt und glücklich kam ich an.

Was war mir mit diesem Tag geschehen? – Weder hat Gott mich „gezüchtigt“, noch habe ich mich „erprobt“. Habe ich mich selbst überschätzt? Das einzusehen ist nicht schmeichelhaft. Jedenfalls war ich nachlässig in der Einschätzung dessen, worauf ich mich einließ. Die Lust, da oben zu sein, hat mögliche warnende Stimmen übertönt. Die „Pein“, die ich mir selber zugefügt habe, wird mir helfen, zukünftig in ähnlichen Situationen mir mit dem, was ich hier an mir kennengelernt habe, besser gerecht zu werden. Ich bin froh, dass ich vor einem – schwächebedingten – Unfall bewahrt blieb. Diese Ausdrucksweise in der Passivform habe ich am Ende am Du Gottes klärend festgemacht und – dementsprechend im Aktiv – ausgesprochen: „Du hast mich bewahrt. Danke!“ ‘s war doch ein guter Tag!

21. August 2020, Rainer Petrak

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