Blogbeitrag

EU-Parlament Bild von Florian Pircher auf Pixabay

Maßstab der Freiheit

6. Juni 2024

Sonntagsbotschaft zum 9. Juni 2024, dem 10. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B).

Als ich geboren wurde, stand schon ein ganzer Lebensraum bereit! Eine Menge Möglichkeiten war mir vorgegeben für eine gute Entfaltung meines Lebens – mitten in einem Gemisch aus Bedingungen, von denen die einen dafür förderlich waren und andere eher hinderlich.

Ist das nicht immer so?

Gefragt, welche Kleidung ich tragen oder in welchem Haus ich wohnen will, wurde ich – wenn überhaupt – erst viele Jahre später.

Aber wenn das mit dem Leben klappen sollte, dann musste ich ebenso wie die Personen um mich herum einiges unbedingt beachten. Man erzählte mir, erst ein Klaps auf den Po brachte mich dazu, unter Schreien eine erste Portion Luft einzuatmen.

Später habe ich aus den mir vorgegebenen Erfahrungen und Einsichten von Generationen von Menschen gelernt, zu lesen, zu schreiben und zu rechnen und in den vorgegebenen Wirklichkeiten selber neue Entdeckungen zu machen und meine eigenen Beiträge für das Ganze in meiner Umgebung zu entwickeln.

Ist das nicht immer so?

Der Spaß, den viele am Fußball finden – egal ob als aktive Sportler oder als Fans – , kommt nur zustande, weil da Regeln vorgegeben sind, die unbedingt eingehalten werden müssen.

Eine bekannte Erzählung in der Bibel beschreibt diesen Zusammenhang mit einem sympathischen, einleuchtenden Bild:

Gott, der HERR,
pflanzte in Eden, im Osten, einen Garten
und setzte dorthin
den Menschen, den er geformt hatte.
Gott, der HERR,
ließ aus dem Erdboden
allerlei Bäume wachsen,
begehrenswert anzusehen
und köstlich zu essen,
in der Mitte des Gartens aber
den Baum des Lebens
und den Baum
der Erkenntnis von Gut und Böse. …
Gott, der HERR, nahm den Menschen
und gab ihm seinen Wohnsitz
im Garten von Eden,
damit er ihn bearbeite und hüte.
Dann gebot Gott, der HERR,
dem Menschen:
Von allen Bäumen des Gartens
darfst du essen,
doch vom Baum
der Erkenntnis von Gut und Böse
darfst du nicht essen;
denn am Tag, da du davon isst,
wirst du sterben. …
(Genesis 2,8-9.15-17)

Ein ganzer Lebensraum, dem Menschen vorgegeben. Wie könnte er auch leben, wenn er die Luft zum Atmen erst noch in einer chemischen Fabrik herstellen müsste! Er braucht nicht selber zu erkennen und festzulegen, was alles er zum Leben braucht. Er muss nur den Zugang dazu erkennen und nutzen – und erkennen und vermeiden, was dem Leben schadet.

Ein Regelverstoß beim Fußball, etwa ein Foul im Strafraum des Gegners, schadet dem eigenen Vorankommen zu einem Sieg.

Von allen Bäumen des Gartens
darfst du essen,
doch vom Baum
der Erkenntnis von Gut und Böse
darfst du nicht essen;
denn am Tag, da du davon isst,
wirst du sterben.

Du darfst dich im öffentlichen Straßenverkehr frei bewegen. Doch unachtsam nur darauf zu achten, was du willst, darfst du nicht. Auf deinem Grabstein könnte stehen „Er hatte die Vorfahrt.“

Was von all dem, was uns vorgegeben ist, ist denn so wichtig, dass wir – bei aller Freiheit, die fürs Leben wesentlich ist – nicht dagegen verstoßen dürfen?

Der hier zentrale Satz klingt bei oberflächlichem Hinhören sehr missverständlich: „Vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen.“

Oft hat man ja verkürzt formuliert: Vom „Baum der Erkenntnis“ zu essen, komme dem „normalen Menschen“, dem „kleinen Mann“ nicht zu. Über den Zugang zu Bildung und Wissenschaft haben die Mächtigen verfügt, um ihre Macht zu erhalten. Ihnen war ja klar: Wissen ist Macht.

Und eine religiös verbrämte Entscheidung, was im Verhalten anderer Menschen „böse“ war oder ist, das wurde erst in unseren Tagen als Missbrauch spiritueller Macht demaskiert.

Kritik an solcher Verkürzung des Bibeltextes konnte schnell abgebügelt und verächtlich gemacht werden. Es leuchtete ja ein, man kann doch nicht dem Menschen verbieten, nach „Erkenntnis von Gut und Böse“ zu streben. Schließlich soll doch jeder Mensch gerade lernen, erkennen und einhalten, was er als Recht und Unrecht, als Gut und Böse verstehen kann. Diese „Erkenntnis“ ist ja ein Lernprozess, der wahrscheinlich das ganze Leben hindurch sich fortsetzt.

In diesem Sinne jedenfalls richtet das Tagesgebet, das für diesen Sonntag vorgesehen ist, die Bitte an Gott:

„Schenke uns deinen Geist,
damit wir erkennen, was recht ist,
und es mit deiner Hilfe auch tun.“

Was die Bibel an dieser Stelle – jenseits aller Missdeutungen – wirklich aussagt, wird deutlich in der Sprache von Gerichtsurteilen unserer Zeit. Da heißt es regelmäßig: „Das Gericht hat für Recht erkannt, …“ – und so weiter. Jeder versteht, dass dieses „Erkennen von Recht und Unrecht“, diese „Erkenntnis von Gut und Böse“ nicht auf Stärken oder auf Forderungen beruht, die eine der streitenden Parteien mitbringt, um sich durchzusetzen. Vielmehr wird hier eine Vorgabe geklärt und bekräftigt, die für alle Beteiligten gilt.

Wo immer Menschen sich trotzdem die Kompetenz anmaßen, den Maßstab zu bestimmen über die Unterscheidung von Recht und Unrecht, von Gut und Böse, führt das unweigerlich zum Tod von Menschen.

Es ist sehr heilsam, wenn allgemein anerkannt ist: Der menschliche Lebensraum ist kein „rechtsfreier Raum“, wo jeder entscheiden könnte, was zu tun und was zu lassen ist.

Wo Wirtschaftswachstum willkürlich zum höchsten Gut erklärt wird, an dem sich alle politischen Entscheidungen zu messen haben, wird eine Zunahme der Autounfälle und der kriegerischen Auseinandersetzungen, der Sachbeschädigungen und der Krankheiten unversehens zum hochgelobten Wachstum der Autobranche und der Rüstungsindustrie, des Handels und der Pharma-Industrie.

Allen unabänderlich vorgegeben ist das seiner Würde entsprechende Recht eines jeden Menschen. Jeder andere angemaßte Maßstab führt nur zu Mord und Totschlag – zwischen Staaten wie zwischen Einzelnen.

Das ist Teil der grundsätzlichen Verfassung des Menschen, die er sich – ebenso wie sein Angewiesensein auf Atmen, Essen und Trinken – nicht selber macht, sondern die ihm als Begrenzung und zugleich als Chance für seine Autonomie mitgegeben ist.

Der Mensch muss anerkennen, was ihm als Maßstab von Gut und Böse vorgegeben ist, und es in all seinem Tun in Wirklichkeit umzusetzen versuchen. Diesen Maßstab selber neu setzen zu wollen und sich damit über die vorgegebene Schöpfung und Menschenwürde hinwegzusetzen, gefährdet alles.

Unrechts-Regime und sonstige Mächtige bis ins kleine Alltagsleben hinein verschleiern oder verdrehen gerne dieses für das Zusammenleben der Menschen elementare Gebot.

Die biblische Botschaft ruft es in Erinnerung – mit besonderem Nachdruck darauf, dass es dabei um Leben und Tod geht.

In Bezug auf den Schöpfer des Menschen, den monotheistisch Glaubende anerkennen, macht die Fortsetzung des Bibeltextes auf einen weiteren Aspekt aufmerksam:

Beide, der Mensch und seine Frau,
waren nackt,

aber sie schämten sich nicht voreinander.

Warum sollten sie sich auch schämen, wenn sie einander sehen wie sie sind – mit den ihnen vorgegebenen Unterschieden, dank derer sie sich ergänzen können. Sie erfahren sich als

„ebenbürtig“,

als

„Bein von meinem Bein
und Fleisch von meinem Fleisch“.
(Genesis 2,20-25)

So wie sie wirklich sind und mit ihren Unterschieden zeigen sie sich gegenseitig. Kein Kragen und kein Hut verdeckt etwas vor ihren Augen. Dass sie nackt sind, ist kein Thema, solange sie ihre dadurch sichtbaren Unterschiede nicht zum Instrument der Macht übereinander missbrauchen. Da brauchen sie sich nicht voreinander zu verstecken.

Aber dann ändert sich etwas – so beschreibt die Bibel das zentrale Problem:

Die sogenannte „Schlange“ reizt den Menschen dazu, sich selber zum Maßstab zu machen und „für Recht zu erkennen“, was Gut und Böse sei, also an der verbotenen „Erkenntnis von Gut und Böse“ zu naschen.

Zuerst versucht sie, Gott mies zu machen, er hätte ihnen angeblich alles verboten, was der Garten an leckeren Früchten bietet.

Die Schlange war schlauer
als alle Tiere des Feldes,
die Gott, der HERR, gemacht hatte.
Sie sagte zu der Frau:
Hat Gott wirklich gesagt:
Ihr dürft
von keinem Baum des Gartens essen?
Die Frau entgegnete der Schlange:
Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen;
nur von den Früchten des Baumes,
der in der Mitte des Gartens steht,
hat Gott gesagt:
Davon dürft ihr nicht essen
und daran dürft ihr nicht rühren,
sonst werdet ihr sterben.

Nach diesem ersten gescheiterten Versuch probiert die „Schlange“ es im zweiten Anlauf mit dem direkten Widerspruch, mit dem sie Gott als Gegner des Menschen diffamiert und das Naschen an der verbotenen Frucht als „köstlich“ und „begehrenswert“ erscheinen lässt:

Darauf sagte die Schlange zur Frau:
Nein, ihr werdet nicht sterben.
Gott weiß vielmehr:
Sobald ihr davon esst,
gehen euch die Augen auf;
ihr werdet wie Gott
und erkennt Gut und Böse.
Da sah die Frau,
dass es köstlich wäre,
von dem Baum zu essen,
dass der Baum eine Augenweide war
und begehrenswert war,
um klug zu werden.
Sie nahm von seinen Früchten und aß;
sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war,
und auch er aß.
(Genesis 3,1-6)

Das Ergebnis:

Da gingen beiden die Augen auf
und sie erkannten, dass sie nackt waren.
Sie hefteten Feigenblätter zusammen
und machten sich einen Schurz.
Als sie an den Schritten hörten,
dass sich Gott, der HERR,
beim Tagwind im Garten erging,
versteckten sich
der Mensch und seine Frau
vor Gott, dem HERRN,
inmitten der Bäume des Gartens.
(Genesis 3,7-8)

Wenn der andere sehen kann, wie ich anders bin, wird ihnen das plötzlich zur Bloßstellung! Sie verstecken sich.

Hier setzt die Botschaft dieses Sonntags an, die Licht bringen kann und will in so viele Probleme von Kirche und Menschheit unserer Tage.

In der Fortsetzung dieser Erzählung beschreibt der erste Bibelabschnitt des Sonntags (Genesis 3,9-15) die unvermeidlichen Konsequenzen, die das Überschreiten der Grenze menschlicher Verfasstheit nach sich zieht:

Aber Gott, der HERR, rief
nach dem Menschen
und sprach zu ihm: Wo bist du?
Er antwortete:
Ich habe deine Schritte gehört im Garten;
da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin,
und versteckte mich.
Darauf fragte er:
Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?
Hast du von dem Baum gegessen,
von dem ich dir geboten habe,
davon nicht zu essen?

Woher plötzlich die Angst vor Gott? Woher das angsterregende Bild von sich selbst, zu dem ihm „die Augen aufgegangen“ sind? Welches neue Problem oder Problembewusstsein veranlasst den Menschen, sich verstecken zu wollen?

Der Mensch antwortete:
Die Frau, die du mir beigesellt hast,
sie hat mir von dem Baum gegeben.
So habe ich gegessen.
Gott, der HERR, sprach zu der Frau:
Was hast du getan?
Die Frau antwortete:
Die Schlange hat mich verführt.
So habe ich gegessen.

Ein Urteil steht im Raum. Der Mensch selbst als erster hat es gefällt. Über sich selbst. So hat er über „Gut und Böse erkannt“: Schuldig! Das verbirgt er hinter Worten wie: „Furcht“, „nackt“, „versteckt“. Er setzt den ganzen Mechanismus der Verschleierung und der Abwälzung in Gang: Die Frau ist schuld. Die „Schlange“ ist schuld – Symbol für das Böse, das der Mensch an sich selber nicht erträgt und auf ein Gegenüber außerhalb von sich projiziert: Teufel, Satan. Schuld? Jedenfalls nicht ich!

Schließlich ist Gott an allem schuld: „die Frau, die du mir beigesellt hast“.

Feindselige Distanzierung greift um sich, allgemeines Unwohlsein und Misstrauen. Das Problem und seine Folgen wird sich jetzt vererben.

Wer hat Schuld an der Gewalt zwischen Israel und der Hamas? Wer hat Schuld an der Klima-Krise? Wer hat Schuld an der Gefährdung der Demokratie in Europa? Wer hat Schuld am Zerbrechen der Ehe von Hans und Maria? …

Die erste Schriftlesung aus dem Buch Genesis endet:

Da sprach Gott, der HERR, zur Schlange:
Weil du das getan hast,
bist du verflucht
unter allem Vieh
und allen Tieren des Feldes.
Auf dem Bauch wirst du kriechen
und Staub fressen alle Tage deines Lebens.
Und Feindschaft setze ich
zwischen dir und der Frau,
zwischen deinem Nachkommen
und ihrem Nachkommen.
Er trifft dich am Kopf
und du triffst ihn an der Ferse.
(Genesis 3,9-15)

Kampf und Krieg sind vorprogrammiert. Davon muss Gott sich distanzieren. Damit sich zufrieden geben kann er nicht. Ihm kommt es zu, über Gut und Böse, über Recht und Unrecht zu „erkennen“. Er muss es richten. Mit einem ganzen Volk von Menschen, die das wollen und es ihm zutrauen, hat er dafür einen Bund geschlossen.

Aber immer wieder drängt „es“ Menschen – oder ist „es“ „nur“ „die Schlange“? – , zu „sein wie Gott“ und selber – für das eigene Interesse – über Gut und Böse, über Recht und Unrecht zu „erkennen“.

Die ganze Geschichte fasst Jesus zusammen in seinem Gleichnis von den sogenannten „bösen Winzern“ (Matthäus 21,33-39) – der Erzählung in Genesis 3 sehr ähnlich; statt im Garten Eden spielt es in einem Weinberg. Die Konsequenz, die Gott nach dem Gleichnis von Jesus da zieht? Da Gott sich nicht zufrieden geben kann mit dem, wie es läuft, kommt er selber – in seinem Sohn – , um den gordischen Knoten zu zerhauen. Selbst wenn es ihn Kopf und Kragen kostet.

Natürlich wollen sie – wie der Mensch von Anfang an – ihm für alles die Schuld in die Schuhe schieben. Er ist es ja, der „alles das Böse zulässt“!

Der Bibelabschnitt, der an diesem Sonntag zum Evangelium, zur Freudenbotschaft werden will, erzählt konkret von den Schwierigkeiten, die Jesus hatte bei seinem werbenden Bemühen um die Menschen, dass sie doch Gottes befreienden Willen anerkennen und in ihr Leben und Handeln hineinlassen.

Jesus ging in ein Haus
und wieder
kamen so viele Menschen zusammen,
dass er und die Jünger
nicht einmal mehr essen konnten.
Als seine Angehörigen davon hörten,
machten sie sich auf den Weg,
um ihn mit Gewalt zurückzuholen;
denn sie sagten: Er ist von Sinnen.
Die Schriftgelehrten,
die von Jerusalem
herabgekommen waren,
sagten: Er ist von Beelzebul besessen;
mit Hilfe des Herrschers der Dämonen
treibt er die Dämonen aus.
Da rief er sie zu sich …

Und dann erzählt der Text, wie Jesus argumentiert, um auch seine amtlichen Gegner zu überzeugen. Und da mitten hinein platzt dann seine Familie:

Da kamen seine Mutter und seine Brüder;
sie blieben draußen stehen
und ließen ihn herausrufen.
Es saßen viele Leute um ihn herum
und man sagte zu ihm:
Siehe, deine Mutter und deine Brüder
stehen draußen und suchen dich.
Er erwiderte:
Wer ist meine Mutter
und wer sind meine Brüder?
Und er blickte auf die Menschen,
die im Kreis um ihn herumsaßen,
und sagte: Das hier
sind meine Mutter und meine Brüder.
Wer den Willen Gottes tut,
der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
(Markus 3,20-35)

Und das ist nur eine Momentaufnahme aus seinem ganzen Weg. Zum Glück konnten Menschen mit ihm Gott neu kennenlernen. Bis heute hat er nicht lockergelassen mit seiner Botschaft vom Ausweg aus allem, woran Menschen unvermeidlich schuldig werden, und von dem Fest des Lebens, das immer wieder dann neu zustande kommt, wenn wir ihn anerkennen als den, der den Maßstab vorgibt für das, was zu tun und zu lassen sei.

Hier können Sie meinen Beitrag weiter empfehlen: