Blogbeitrag

Provokation (2014)

19. November 2014

Es gibt Wichtigeres!

Wenn ihr euch um Leib und Leben kümmert, dann begnügt euch nicht mit der Sorge um euer eigenes Essen und Anziehen! Schließlich gibt es Wichtigeres im Leben. Wenn ihr mir verbunden seid, muss es euch zuerst um Gottes Wirken und um seine Art der Gerechtigkeit gehen!

Die Herausgeforderten

Mit aufweckenden Rippenstößen solcher Art ruft Jesus in seiner „Bergpredigt“ (Matthäus-Evangelium, Kapitel 5 bis 7) heraus aus dem gewohnten Trott und aus dem üblichen Denken von damals und von heute. Das ist dieselbe Stimme, die schon Abraham herausgerufen hatte aus allem, was ihm vertraut war, und aus sattem Wohlergehen (1. Buch Mose = Genesis, Kapitel 12). Aufmerksam zu sein dafür, wie es dem Rest der Welt geht, gehört nicht zum Naturell des Menschen. Und ein offenes Ohr zu haben für Gottes aktuelle Einflüsterungen, zählt auch bei „guten Katholiken“ nicht unbedingt zu dem, was für sie typisch ist. Nein, für uns heute klingen solche „Heraus-Forderungen“ (im wahrsten Sinn des Wortes) ebenso wie für Abraham und auch für die Begleiter von Jesus als Provokation. Kein Wunder, da ja das lateinische „provocare“ auf Deutsch „herausrufen“ heißt. Im Unterschied allerdings zu diesem emotional negativ besetzten Wort definiert sich – jedenfalls in der griechischen Ursprache – die Gemeinschaft derer, die sich Jesus verbunden wissen, als „ekklesía“, also als die „Gemeinschaft der Herausgerufenen“, zu Deutsch „Kirche“.

Was für ein Segen!

Ja, Christen (leider wahrscheinlich nicht alle) halten sich an die Segenszusage, an das Heilsversprechen, das sich aus solchen Herausforderungen ergibt. Sie trauen dem Wort, das Abraham hört: „Ein Segen sollst du sein. … Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.“ Und ebenso den sogenannten „Seligpreisungen“, die Jesus denen zuruft, die sich auf ihn einlassen: „… Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit …“

Geld regiert die Welt

Nicht nur in den Zeiten von Abraham und von Jesus war der Alltag beherrscht von der Sorge um Nahrung und Kleidung. Diesem Erfordernis sehen sich auch heute viele Menschen ausgeliefert und unterworfen. Auf unsere Zeit hin aktualisiert und in den heutigen globalen Zusammenhängen wahrgenommen, stellt sich das, um das sich mehr oder weniger alles dreht, als das Kapital dar und als die Sorge um sein Wachstum – im Interesse von ganz wenigen, in das aber alle eingespannt sind durch Strukturen und Ideologien. Dass das Geld der Wirtschaft diene und die Wirtschaft dem Menschen, also der Allgemeinheit, wird zwar immer wieder betont oder eingefordert. Aber auch in unserer angeblich modernen Welt muss die Realisierung dieses eigentlich selbstverständlichen Grundsatzes immer wieder und erst noch erkämpft werden. Denn der inzwischen altmodisch klingende Satz „Geld regiert die Welt“ gilt weiterhin in unserer Gesellschaft: Nachdrücklich herrschende Kraft ist das Kapital und das Interesse seiner Eigentümer, alle gesellschaftlichen Kräfte so zu instrumentalisieren, dass sie für sein Wachstum sorgen.

Beim Namen genannt

Demgegenüber steht allerdings das ganz andere „Sorgen“, zu dem (nicht nur) Anhänger von Jesus sich „herausgefordert“ sehen. Christen benennen den Stellenwert, der da „dem Kapital“ in der Gesellschaft samt ihrer Politik zugebilligt wird, als einen „Götzen“, der regelrecht angebetet wird, da die Unterwerfung unter seinen Willen durchgesetzt wird. Obwohl unsere Gesellschaft als demokratisch verfasst gilt, wird immer wieder von den „Anbetern“ dieses „Götzen“ erfolgreich eingefordert, der Staat habe sich gefälligst aus der Wirtschaft herauszuhalten.

Gottes andere „Herrschaft“

Die Botschaft der Bibel, aus der Christen in solidarischer Gemeinschaft der „Herausgeforderten“ (= Kirche, siehe oben) Orientierung, Kraft und Ausdauer für die Auseinandersetzung tanken, spricht in diesem Konflikt eine klare Sprache. Sie ermutigt alle, die sich um Jesus scharen, sich auf eine andere herrschende Kraft einzustellen. Sie hören immer wieder sein aufmunterndes Wort: „Euch muss es zuerst um Seine [Gottes] Herrschaft und um Seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Matthäus 6,33) Glaubende Christen sehen sich ermutigt, sich nichts und niemandem zu unterwerfen außer Gott und seinem Willen, der von aller einschränkenden, ungerechten, unmenschlichen Herrschaft befreit. „Gottes Reich“ ist ihnen zum Synonym für „gelingendes, sinnvolles, erfülltes Leben“ geworden, das zu jeder Zeit und in allen Lebensbereichen neu zu gestalten ist – im Interesse der Allgemeinheit!

Den Unterschied zwischen beiden „Herrschaften“ kann man vielleicht so beschreiben:

  • Die Botschaft vom Heil durch wachsendes Kapital lastet Linderung von Not
    – einseitig und die Kapitalvermehrer schonend – der Nächstenliebe des Einzelnen an, der, wenn ihm das zu wenig vorkommt, sich ja mit anderen zu Wohlfahrtsverbänden zusammenschließen kann.
  • Die Botschaft vom Heil durch göttlich-liebende Sorge ums Gemeinwohl verteilt die Lasten der Mehrung von Gerechtigkeit und Leben für alle auf alle je nach ihrer Leistungsfähigkeit – wofür es der Allgemeinheit obliegt, die entsprechenden Strukturen jenseits der Abhängigkeit von paternalistisch herrschender Willkür herbeizuführen.

Ablenkungsmanöver

In dieser Auseinandersetzung konnte sich in unserer Zeit wieder einmal die Herrschaft des Kapitals einen mächtigen Vorteil erkämpfen: Die Anhänger der Herrschaft Gottes wurden in entscheidendem Ausmaß diskreditiert. Ihr Glaube an den Gott, für den Jesus steht, wird weiterhin als im Widerspruch zu einem „vernünftigen“ Leben in dieser Welt festgehalten, obwohl die Debatte im 19. und 20. Jahrhundert die These vom Konflikt zwischen Glauben und Wissen längst als gegenstandslos gezeigt hat. Aber die verbreitete, dem Kapital unterworfene Denkweise konnte mit Hilfe der das allgemeine Bewusstsein prägenden Machtmittel weite Bevölkerungsschichten an diese Sichtweise binden. Damit ist es ihr gelungen, die Aufmerksamkeit abzulenken von dem anderen, wirklich brisanten Konfliktfeld zwischen der Herrschaft des Geldes und der Herrschaft Gottes: zwischen Knechtung und Befreiung, Entfremdung und Menschwerdung. Eingeräumt sei dabei durchaus, dass die real existierende Kirche einen mächtigen Beitrag dazu sich als eigene Sünde verbuchen muss.

Heiliger Geist

Glücklicher Weise gibt es in christlich-kirchlichen Feldern durchaus kräftige Bewegungen und Impulse, die man eigentlich nur Gottes auch heute großzügig ausgegossenem Heiligem Geist verdanken kann und muss.

Aus der gegebenen Vielfalt sei hier hingewiesen auf die KAB = Katholische Arbeitnehmerbewegung Deutschlands. Zu ihrem 2014er-Jahresthema „Sinnvoll leben“ hat sie im entsprechenden Arbeits- und Lesebuch Wegmarkierungen gesetzt. Unter dem Stichwort „Aufbrüche zu einem besseren Leben“ starten die Anregungen mit einem Gedanken von Urs Eigenmann:

                                                                 „Weder heißt es
                                  ‚Suchet zuerst das Kapital und seine Vermehrung’,
                                                                          noch
                     ‚Suchet zuerst die Kirche und ihre hierarchisch-klerikale Ordnung’,
                                                                      sondern
                            ‚Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit’ –
                   in der gläubigen Hoffnung, dass alles andere dazugegeben wird.“

Am 28.10.2014 sprach Papst Franziskus vor sozial engagierten Katholiken über das „Wirtschaftssystem, das tötet“, hier über das „Wirtschaftssystem, das sich um den Götzen Geld dreht“:

„Einige von euch haben gesagt: ‚Dieses System ist nicht mehr zu ertragen.’ Wir müssen es ändern. Wir müssen die Würde des Menschen wieder ins Zentrum rücken und dann auf diesem Grund alternative gesellschaftliche Strukturen errichten, die wir brauchen. Das müssen wir mit Mut, aber auch mit Intelligenz betreiben. Hartnäckig, aber ohne Fanatismus. Leidenschaftlich, aber ohne Gewalt. Und gemeinsam, die Konflikte im Blick, ohne uns in ihnen zu verfangen, immer darauf bedacht, die Spannungen zu lösen, um eine höhere Stufe von Einheit, Frieden und Gerechtigkeit zu erreichen. Wir Christen haben etwas sehr Schönes, eine Handlungsanleitung, ein revolutionäres Programm, könnte man sagen.“

Aufbruchzeichen wie die von KAB und Papst münden in die zentrale Bitte des Vaterunsers: Dein Reich komme!

Rainer Petrak am Bezirkstag der KAB Rhein-Main am 8.11.2014 in Flörsheim
(Predigt in der Eucharistiefeier, hier leicht redigiert)

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