Blogbeitrag

Streit um den Sonntag – Positionspapier

12. Dezember 2016

Rainer Petrak

Streit um den Sonntag
Worum geht es?

1. Die öffentliche Meinung stellt sich verbreitet so dar:

  • Leuten soll doch ihre Freiheit geachtet werden, wenn sie am Sonntag entspannt einkaufen wollen.
  • Damit die Städte ihre Attraktivität und Lebendigkeit fördern und zeigen können, sollen doch Besucher auch durch verkaufsoffene Sonntage geworben und bedient werden können.
  • Der örtliche Einzelhandel leidet unter der Konkurrenz nicht nur von sonntäglichen Ladenöffnungen in benachbarten Städten und (Bundes-) Ländern, sondern besonders auch durch den Online-Handel mit seinem unbehinderten Sonntagsbetrieb.
  • Den Beschäftigten im Einzelhandel, die gerne auch am Sonntag arbeiten, sollte man den Sonntags-Zuschlag zu ihrem eh nicht üppigen Lohn doch gönnen.
  • Wenn 4mal im Jahr die Läden offen sind, weil viele das inzwischen so wollen, dann geht die Welt nicht unter. Den Aufwand mit dem „Anlass“ samt Besucher-Prognose kann man sich doch einfach sparen. Alle Beteiligten hätten dann auch mehr Rechtssicherheit und Klarheit für ihre Planungen.
  • Teile der Kirchen und der Gewerkschaften verursachen seit einiger Zeit mit ihren Klagen Frust und finanzielle Schäden. In ihrer willkürlichen Auswahl der verkaufsoffenen Sonntage, gegen die sie vorgehen, sind sie unberechenbar.
  • Und sie sperren sich gegen jedes Angebot, einen Kompromiss auszuhandeln.
  • Und dann kommen die Klagen und Urteile im letzten Moment, so dass alle Personalplanung und Waren-Dispositionen kosten- und ärgerträchtig für die Katz‘ waren.
  • Deutschland (Hessen, Frankfurt, …) zeigt sich ganz schön provinziell: Überall in der Welt kann man sonntags shoppen …

2. Eine ganz andere Wahrnehmung dessen, worum es hier geht, haben wachsende Bevölkerungsgruppen, deren Position durch die in der „Allianz für den freien Sonntag“ zusammengeschlossenen Verbände, Gewerkschaften, Kirchengliederungen, … vertreten wird.

Hier meine persönlich verantwortete Darlegung dieser Position:

Diejenigen in der „Allianz …“, die sich als Christen verstehen, gehen auf den biblischen Spuren der Propheten und des Jesus von Nazaret davon aus, dass das Heiligste auf dieser Erde der Mensch ist: seine höchste Würde samt seinen elementaren Lebens- und Freiheitsrechten.

Die Gewerkschafter in der Allianz sehen sich der Tradition der Arbeiterbewegung verpflichtet, die durch ihre Kämpfe den Rechten und Interessen der Beschäftigten nachhaltig Geltung verschafft hat und die zu pflegen und zu fördern es gilt.

Gewerkschafter und Christen verbindet daher als gemeinsame starke Schnittmenge das Engagement für ein wichtiges Prinzip: Die Grundrechte des Menschen haben im Konfliktfall Vorrang vor den wirtschaftlichen Interessen von Unternehmern und Investoren.

Darin wissen wir uns eingebunden in die Sozialkultur unserer Gesellschaft und in die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Staates, die durch das Grundgesetz garantiert werden und deren vorrangiger Schutz allen staatlichen Organen zur Pflicht gemacht ist. Aus dieser legitimierten Perspektive setzen wir uns, so weit unsere Kräfte reichen, gegen alle Bestrebungen ein, die dem staatlich zu gewährleistenden Schutz des Sonntags als dem wöchentlichen gemeinsamen arbeitsfreien Ruhetag zuwider laufen.

Dabei stellen wir einen fatalen Trend fest. Eine falsch verstandene Wirtschaftsförderung und der Einfluss von nachdrücklich vorgebrachten Forderungen finanzkräftiger Teile des Einzelhandels führen zunehmend zu einer Praxis – in der Sprache der Gerichte – „offensichtlich rechtswidriger“ Genehmigungen für verkaufsoffene Sonntage. Kommunale Behörden unter politischer Verantwortung beachten dabei nicht ausreichend ihre vorrangige Pflicht zum Schutz der Grundrechte. Oberste Landes- und Bundesgerichte haben den Zusammenhang zwischen rechtswidrigen Sonntagsöffnungen und der Verletzung von (der Menschenwürde nächst liegenden) Grundrechten in ihren einschlägigen Urteilen detailliert dargelegt.

3. Daraus ergibt sich für die in Ziffer 1 aufgeführten Punkte eine sehr andere Bewertung und im Zusammenhang damit auch andere Schwerpunkte der Realitäts-Wahrnehmung:

  • „Freiheit für mein lustvolles (oder auch an anderen Tagen schwer zu organisierendes) Sonntags-shopping“? – Das hohe Gut der Freiheit – eine Binsenweisheit – ist immer begrenzt durch das Freiheitsrecht der Anderen, hier
    1. durch das Recht aller auf einen öffentlich so wahrnehmbaren wöchentlichen Ruhe- oder Erholungstag (in der Sprache der Verfassung „zur seelischen Erhebung“),
    2. durch das Recht möglichst* aller auf einen verlässlich gemeinsam freien Tag in Familie, Freundeskreis, Verein, Kirche, Kultur, bürgerschaftlichem Engagement, ……
    3. durch das Recht möglichst* aller Erwerbstätigen (übrigens auch der Selbstständigen!) auf einen Tag der (öffentlich synchron getakteten!) Arbeitsruhe (für Muße, Erholung, spontane Betätigung, …)

* „möglichst aller“ heißt dabei in unserer Kultur-, Freiheits- und
Rechtsordnung: mit den Einschränkungen durch Arbeiten, die – begründet durch entsprechend vorrangige, verfassungsrechtlich vorgegebene Kultur-, Freiheits- und Rechtsgüter – notwendig sind:
1. „Arbeiten für den Sonntag“, die den „Sonntag“ in seiner rechtlich geschützten Sozialkultur erst möglich machen: Gewährleistung des öffentlichen Verkehrs und der Telekom-munikatikon, Kultur- und Sportbetrieb, Gastronomie, Sonntagsgottesdienst, Freizeitgestaltung, …
2.  „Arbeiten trotz des Sonntags“, die an jedem (!) Tag gebraucht werden – z.B. Polizei und Feuerwehr für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auch an Sonntagen, häusliche wie stationäre Kranken- und Altenpflege, Notdienste aller Art, …

Entgegen aller Willkür in der Interpretation dieses „möglichst aller“ listen Gesetze und Verordnungen die Ausnahmen der Sonntagsarbeit auf, die unserer Kultur-, Freiheits- und Rechtsordnung entsprechen.

Zu der Frage, wie es kommt und wie man es bewerten möchte, dass seit einigen Jahren zunehmend Menschen gerne „in freier Entscheidung“ zu Zeiten einkaufen gehen, in denen früher die Geschäfte selbstverständlich geschlossen waren, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 1.12.2009 in bemerkenswerter Weise die hier wirkenden Machtverhältnisse angedeutet: Über die neuen zusätzlichen Ladenöffnungszeiten spricht es als von „Zeiten“, „die früher dem Familienleben und der Wahrnehmung sozialer, gesellschaftlicher oder sportlicher Aktivitäten vorbehalten waren“, und meint, die Liberalisierung „beeinflusst auch das soziale Verhalten potenzieller Kunden“, denen das „in der Werbung als besonderes Freizeitvergnügen schmackhaft gemacht wird“. Und es fügt an, wie wichtig es sei, „durch möglichst strikte Einhaltung der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen“ einen Ausgleich für die „zunehmende Kommerzialisierung bisheriger Freizeit zu gewährleisten, um dem Einzelnen die Möglichkeit der selbstbestimmten physischen und psychischen Regeneration“ an diesen Tagen zu geben.

  • Auch bei aller Hochschätzung für die Bestrebungen, die Attraktivität und Lebendigkeit der Städte zu fördern und auch auswärtigen Besuchern zu zeigen, kann in unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung dieses Interesse keine Sonntagsöffnung rechtfertigen, auch nicht ausnahmsweise – selbst nicht, wenn es nur 1mal im Jahr sein sollte. Da müssen sich Kommunen und Einzelhandel andere Wege einfallen lassen.
  • Eine ausnahmsweise Ladenöffnung an einem Sonn- oder Feiertag kann nur gerechtfertigt sein, wenn im Interesse eines im Verfassungsrang höherwertigen Gutes sich die Notwendigkeit dazu ergibt. Nach Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1.12.2009 kann jedenfalls irgendein wirtschaftlich begründetes Interesse aus dem Einzelhandel oder das Shopping-Interesse in der Bevölkerung keine Rechtfertigung für sonntägliche Ladenöffnungen sein. Für eine Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen müssen andere Wege gesucht werden. Da dies ein wirtschaftliches Interesse des Einzelhandels ist, taugt der Weg über sonntägliche Ladenöffnungen jedenfalls nicht. Aus verfassungsrechtlichen Gründen kann auch der Gesetzgeber in den Ländern nichts daran ändern.
  • Der Wettbewerb mit dem Internet-Handel ist eine Herausforderung des stationären Einzelhandels durch den aktuellen Strukturwandel, auf die viele Einzelhändler sich längst durch eigene Beteiligung am Online-Handel eingestellt haben.
    Eine Beendigung des sonntäglichen Online-Handels hat die Allianz für den freien Sonntag längst in die Wege geleitet: Ihrer (für alle Bundesländer exemplarischen) Klage gegen die Hessische Bedarfsgewerbeverordnung u.a. wegen der Erlaubnis von Sonntagsarbeit in Callcentern hat das Bundesverwaltungsgericht in letzter Instanz stattgegeben; eine ministerielle Arbeitsgruppe aus allen Bundesländern ist – wenn auch sehr zögerlich – damit beschäftigt, das Verbot der Sonntagsarbeit im Online-Handel umzusetzen. Das angedrohte Ausweichen ins Ausland ist bekanntermaßen wegen der zu erwartenden, teils bereits sichtbaren Qualitätsmängel ein fragwürdiges Argument.
  • Abgesehen von der Unterstellung, Beschäftigte könnten eh den Hals nie voll genug kriegen, macht jede Äußerung – egal, von welcher Seite – , Sonntagsarbeit werde durch den üblichen Lohnzuschlag „attraktiv“ und von vielen Beschäftigten „freiwillig gewollt“, deutlich, dass die Höhe des tatsächlichen Lohns offensichtlich zu niedrig ist. Daraus ergibt sich jedes Mal logischerweise die Forderung: Lohnerhöhung statt „einträglicher“ Sonntagsarbeit!
  • Zum Argument „nur viermal im Jahr …“ sei auf die Geschichte der Arbeitszeit in Deutschland hingewiesen, deren Trend sich in der aktuellen Forderung des Einzelhandelsverbands HDE fortsetzt, es sollten bundeseinheitlich 10 verkaufsoffene Sonntage festgelegt werden.
  • Und grundsätzlich: Von wichtigen Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens abzuweichen, auch ausnahmsweise, setzt immer einen entsprechend wichtigen Anlass voraus: Auch nicht nur 1mal im Jahr darf ich mit 100 km/h durch die Stadt fahren! Es sei denn, ich habe ein entsprechend ausgestattetes Fahrzeug und die entsprechende Fahrerlaubnis und den Anlass einer notwendigen lebensrettenden Maßnahme oder einen Anlass im Interesse der öffentlichen Sicherheit oder der staatlichen Souveränität …!
  • Der Arbeitsaufwand mag ja lästig sein, eine solide Prognose der Besucherströme zu erstellen und den nachvollziehbaren Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer sonntäglichen Ladenöffnung darzulegen, wie das von den Gerichten verlangt wird. Aber da beim verkaufsoffenen Sonntag Grundrechte von Menschen betroffen sind, wird jeder Befürworter unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sagen: Das ist durchaus diesen Aufwand wert. Schließlich sind – aus eher nachrangigen Gründen des Tourismus wie des Marketings – weder kommunale Behörden noch Einzelhandel ungeübt in den erforderlichen Erhebungen.
  • Es mangelt wahrlich nicht an Rechts- und Planungssicherheit bei der Entscheidung, ob und mit welchen Gestaltungsmerkmalen ein verkaufsoffener Sonntag vorgesehen werden kann. Gerichtsurteile haben mit ihren Details zur Präzisierung gesetzlicher Vorgaben so genaue Beurteilungskriterien gegeben, dass manche Stimmen schon von Erbsenzählerei sprechen. Unsicher ist lediglich, inwieweit kommunale Genehmigungsbehörden sich daran halten.

     

  • Zunehmend sehen wir uns in der Allianz für den freien Sonntag Vorwürfen, ja  Beschimpfungen ausgesetzt, mit denen wir für – durchaus nachvollziehbaren – Frust und teils erhebliche finanzielle Schäden der Händler und Kunden verantwortlich gemacht werden. Geradezu grotesk ist es, wenn von denen, die das gemäß Gerichtsurteil „offensichtlich rechtswidrige“ Geschehen veranlasst haben, der „schwarze Peter“ denen in die Schuhe geschoben wird, die auf dem Rechtsweg dagegen vorgehen. Lustig, wenn der „Allianz“ dann Wettbewerbsverzerrungen vorgeworfen werden, weil sie so unberechenbar und willkürlich gegen die eine Stadt klagt und gegen die andere nicht.
  • Bemerkenswert wird der Vorwurf aus hessischen Städten wie auch von Politikern, die Allianz für den freien Sonntag sei nicht bereit, Kompromisse auszuhandeln – etwa in der Frage, ob eine Stadt auf 3 oder 2 jährliche Verkaufssonntage zurückgehen sollte und die Allianz dafür bereit wäre, auf eine Klage zu verzichten. Städtische Vertreter, die so sprechen,
    1.   gehen also davon aus, wissentlich Rechtswidriges zu planen, und es geht nur darum, Klagen zu vermeiden, damit das Rechtswidrige ungestört realisiert werden kann;
    2.   wollen rechtserhebliche Entscheidungen mit Verbandsvertretern aushandeln, die über kein öffentliches Mandat verfügen. Das kann schon einige Fragen auslösen hinsichtlich ihres Verständnisses von Rechtsstaat und Demokratie.

     

  • An Dreistigkeit kaum zu überbieten ist es dabei, Klägern wie der Gewerkschaft Verdi oder der Katholischen Arbeitnehmerbewegung oder dem einen oder anderen evangelischen Dekanat Vorhaltungen zu machen, warum so spät der Rechtsweg beschritten wird. Da wird – logischerweise erfolgreich – aus taktischen Gründen Stimmung gemacht gegen alle, die hier das Einhalten von kulturellen und rechtlichen Regeln einfordern. Durchschauen kann das nur, wer weiß: Ein erster Schritt auf dem Rechtsweg kann gegen einen verkaufsoffenen Sonntag erst dann begangen werden, wenn die Kommune die entsprechende „Allgemeinverfügung“ veröffentlicht hat. Wenn das aber, nachdem alle Vorbereitungen samt öffentlicher Werbung längst laufen, erst knapp vor dem betreffenden Sonntag geschieht, liegt hier die Verantwortung dafür, dass eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung oft erst ärgerlich knapp vor dem Termin ergeht. Dann braucht man nur noch in den Medien entsprechende Stimmung gegen die Kläger zu machen, um die öffentliche Meinung für eine weitergehende Liberalisierung der Sonntagsöffnung einzustellen.
  • „Überall in der Welt kann man sonntags shoppen …“ Das ist öfter von Menschen zu hören, die das im Urlaub „selbst gesehen“ haben – eben im Urlaub, in Orten des Fremdenverkehrs, in Orten, in denen auch die Gesetzgebung in Deutschland sonntägliche Ladenöffnungen erlaubt … Ein Fakten-Check täte gut: In welchem österreichischen Urlaubsort, in welcher griechischen Stadt … ist tatsächlich sonntags der Supermarkt geöffnet? Und selbst wenn – wie in den USA oder in Dubai – ohne Rücksicht auf Verluste 24×7 permanent geöffnet ist, ist das ein Unterschied in der Sozialkultur, den trotz aller Globalisierung aufrecht zu erhalten unserer Gesellschaft mit ihrer Verfasstheit wichtig ist. Weitgehend unbekannt sind auch die in vielen Ländern Europas zunehmenden Bestrebungen zum Sonntagsschutz, die seit einigen Jahren zusammenkommen in der „European Sunday Alliance“.

18.11.2016 – verantwortlich: Rainer Petrak, Pfarrer i.R., Frankfurt am Main, Vertreter der Katholischen Arbeitnehmerbewegung KAB in der Hessischen Allianz für den freien Sonntag und in der Allianz für den freien Sonntag Frankfurt-RheinMain

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