Blogbeitrag

1. Kerze am Adventskranz

Voller Erwartung

24. November 2020

„Er kommt!“ Irgendeiner von uns hat es immer mitgekriegt – an der Tür vom Klassenzimmer zum Flur. Dann übertönte er mit seinem Ruf den Lärm, der das Klassenzimmer am Ende der Pause erfüllte. Die miteinander raufend am Boden lagen, ließen voneinander ab. Alle flitzten an ihre Plätze. Stille trat ein. Manchmal im letzten Moment. Und dann kam er.

Die Plätze in der Alten Oper sind gut besetzt. Spätankömmlinge werden gerade noch hereingelassen. Das Orchester hat die Instrumente schon gestimmt. Alles ist in Erwartung. Und dann kommt er.

Dieses Jahr habe ich meine Balkonpflanzen so lange draußen wie noch nie. Der erste Frost lässt auf sich warten. Und dann ist es schließlich so weit: Er kommt.

Erste Wehe! Er kommt!

Und vieles „kommt“, ohne dass ich es erwartet hätte. Wenn das irgendeine Veränderung bringt, reagiere ich. Unwillig oder erfreut oder verunsichert oder neugierig – je nachdem.

Manches ist schon „gekommen“, was mich ganz und gar auf dem falschen Fuß erwischt hat. Weil ich es nicht erwartet hatte. Weil kein Anlass zu sehen war, mich auf so etwas einzustellen.

Wer weiß, was da überhaupt noch auf mich zu kommt! Und auf uns! Zu-kunft?

Was haben wir zu erwarten?

So fragen sich viele Menschen. Oder alle?

Ähnlich und doch unterschieden ist eine andere Frage:

Die (tief in mir sitzende!) Sehnsucht „alles wird gut“ – kommt das wirklich? Viele Namen hat sie: „Glück“, „Gerechtigkeit“, „Frieden“, „Freiheit“, …. Erwartungen an die Zukunft sind vielfältig: Fortschritt, Versöhnung, Heilung, … Träume und Visionen sind sehr persönlich und machen sich oft an Personen fest. Völker und Religionen haben schon immer eine gute Zukunft von ihren Göttern erwartet.

Die alte jüdische Gemeinschaft, die ihrer Strukturen als Gottes Volk Israel beraubt war und von fremden Machthabern beherrscht wurde, wartete auf die Befreiung durch den von Gott gesandten Messias aus den eigenen Reihen, nämlich aus dem Stammbaum ihres alten Königs David.

Zu manchen Zeiten beunruhigte viele Christen, was sie nach dem Sterben zu erwarten hätten: Himmel oder Hölle.

Und heute stehen elementare Lebenserwartung und krisenhafte Bedrohungen einander gegenüber. Klima, Terror, Pandemie, Demokratie, Migrationsdruck, …  „Was kommt da auf uns zu?“

Die Bibel – und mit ihr viele Christen heute, die von ihrer Botschaft überzeugt sind – tut eigentlich nichts anderes, als diese Frage zu beantworten: Lasst euch das Ruder nicht aus der Hand nehmen!

Aha?

Unter dieser Rücksicht sich der Botschaft der Bibel zu stellen, dürfte sich lohnen. Immerhin ist das ein elementarer menschlicher Zusammenhang, der uns allen vertraut ist. Ob es der Lehrer ist, der nach der Pause ins Klassenzimmer kommt, oder der Orchester-Dirigent oder der erste Frost oder … – es gehört zur menschlichen Logik: Was ich erwarte oder zu erwarten habe, darauf stelle ich mich ein. Und je wichtiger mir ist, worum es da geht, um so mehr Zeit und Energie und Fantasie investiere ich, um meine Möglichkeiten der Teilhabe an der Gestaltung des „Kommenden“ zu nutzen.

Da, wo Menschen in ihrer Not hilflos nur noch ein Schreckgespenst auf sich zukommen sehen, vergewissert die Bibel mit ihrer Botschaft von Jesus Christus allen, die sich darauf einlassen: „ICH bin es.“ So zum Beispiel in Matthäus 14,26.

Und der Mensch, der, durch den Hass seiner Feinde in Todesnot, zu Gott um Hilfe schreit, sieht zuerst nur Gottes Zorn, der mit Blitz und Donner Himmel und Erde erschüttert, bevor er merkt: Er „kommt“ auf diese Weise und „griff aus der Höhe herab und fasste mich, zog mich heraus … entriss mich meinem mächtigen Feind und meinen Hassern … Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich …“ (Psalm 18,5-20)

Und die Botschaft der Bibel betont: Selbst, wenn die Sterne vom Himmel fallen sollten, – ICH bin es, der Menschensohn, der mit Macht und Herrlichkeit kommt! So zum Beispiel das Evangelium dieses Sonntags – jedenfalls in seiner unverkürzten Langfassung:

1. Adventssonntag / Lesejahr B (am 29. November 2020)

Voller Erwartung

Die folgenden Gedanken dazu schauen anders, hören anders hin, als viele es kennen gelernt haben. Das Ungewohnte, was ich noch nicht so gesehen habe, wirkt anstrengend bis fremd. Sich dennoch damit zu beschäftigen, fällt manchmal leichter, wenn man es zugleich lesen und hören kann. Die Gelegenheit dazu bietet sich hier:

Der Podcast hier zum (Mit-)Lesen

– und darunter geht es danach weiter

Und dieser Bibeltext soll mit unserem Advent zu tun haben? Das soll „frohe Botschaft“ sein für den Start in diese Zeit vor Weihnachten?

Ja, die Kluft ist krass! Und schon sie beschreiben zu wollen, stellt vor Schwierigkeiten. Zwar sprechen alle beteiligten Seiten von „Erwartung“ und von der entsprechenden Vorbereitung auf das Erwartete, beziehen das aber auf sehr unterschiedliche Lebenswirklichkeiten:

Für die einen ist das Ziel der Erwartung das Weihnachtsfest mit dem entsprechenden Brauchtum, das vorbereitet sein will – mit Familie, Baum, Geschenken, Lichterketten, …

Andere greifen die in der Bibel vorausgesetzte Vorstellung von einem bereits damals bevorstehenden Weltende auf, dessen Erwartung Ängste auslöst, aber auch spannende Hoffnung auf Erlösung derer, die zu dem dann kommenden Menschensohn gehören – vorausgesetzt, sie verschlafen nicht den richtigen Moment.

Wieder andere haben die Vorstellung von einem bevorstehenden, von Gott inszenierten Weltende verworfen und beziehen die Aussagen der Bibel über das Ende der Welt und das damit verbundene Kommen des Menschensohnes auf das eigene Lebensende. Je nach persönlicher Ausrichtung des Glaubens kann das eine befreiende Erlösung auf Vollendung hin erhoffen und zu einer solidarischen Lebenshaltung bewegen. Oder es löst Angst vor dem bevorstehenden Gericht aus. Beide Facetten richten ihre Aufmerksamkeit jedenfalls auf den Tod und was dann kommt.

Das in der Bibel zugesagte „Kommen“ des „Menschensohnes“ erkennen wiederum andere als immer wieder neu sich ereignend. Grund für ihre Sicht ist das Neue Testament, insofern es in Jesus von Nazareth den versprochenen Menschensohn sieht, der gekommen ist, um die Menschen zu retten und alles wieder gut zu „richten“, der also Gottes Herrschaft, das „Reich Gottes“ aufzurichten schon damals begonnen hat – und über unser Heute hinaus weiterführen wird – was wir erwarten dürfen!

Diese unterschiedlichen Sichtweisen bestehen alle nebeneinander  in den Reihen der heutigen Christen und inmitten der Kirchen. Deswegen gibt es auch die verschiedenen Wege, wie mit dem „Evangelium“ des 1. Adventssonntags umgegangen wird:

Wer in einer Gemeinde die Verkündigung von Gottes Botschaft in der Feier dieses Sonntags verantwortet, muss erst einmal entscheiden, ob die (eigentlich vorgesehene) Langfassung verlesen wird oder die Kurzfassung. Da ist man in Corona-Zeiten fein raus, wenn die Kälte in der Kirche wegen abgeschalteter Heizung und permanenter Lüftung danach verlangen, sich eben kurz zu fassen.

[[ Wer allerdings dafür „wachsam“ ist, dass „der Menschensohn“ mit seiner Botschaft aktuell in diese Sonntagsfeier hinein „kommt“, wird sich durch entsprechend warme Kleidung darauf „vorbereiten“, ohne auf eine beschleunigte Kurzfassung angewiesen zu sein. Und eh kein Thema ist das für alle, die im Corona-slowdown sich in ihrer Wohnung der Botschaft stellen – vor dem Fernseher oder lesend-betend – in der Wohngemeinschaft oder allein. ]]

Eine Entscheidung zwischen Kurz- und Langfassung, die sich an der Verantwortung orientiert, Gottes Botschaft auszurichten für das Leben der Gemeinde in der heutigen Zeit, wird berücksichtigen, was sich aus beiden Fassungen als Akzent ihrer Aussage darstellt:

Die Kurzfassung des Evangeliums sind lediglich die Verse, mit denen die Langfassung schließt. Sie fordern auf zur Wachsamkeit für ein unverhofftes „Kommen“ (des „Hausherrn“) und begründen die Dringlichkeit der Forderung. Das eignet sich natürlich als Mahnung zur Achtsamkeit für jegliches Anliegen, das angebracht erscheint.

Die Langfassung, von etwa dreifacher Länge, greift zunächst das in den antiken Religionen verbreitete („apokalyptische“) Bild vom beängstigenden Weltende auf und korrigiert es durch die Trostbotschaft vom Kommen des Menschensohnes (Verse 24 bis 27).  Die folgenden Verse (28 bis 29) ermutigen zu einer Sichtweise, die sich darauf einstellt und deshalb auch Anzeichen dafür sieht. Dann (Verse 30 bis 32) wird betont, dass das „Kommen“ nicht auf bestimmte Zeitpunkte festgelegt und begrenzt ist, auf die man sich vorher berechnend einstellt, sondern dass ER in jedem Moment „kommen“ kann. Daraus ergibt sich dann logischerweise als Konsequzenz die Aufforderung zur Wachsamkeit, die in der Kurzfassung – isoliert und ohne diesen Zusammenhang der eigentlichen „froh machenden“ Botschaft (= Evangelium) – der einzige Inhalt ist, der sich dann – wieder einmal – gut für moralisierende Zwecke eignet.

macht hoch die Tür

Diese Unterschiedlichkeit der Sichtweisen selbst ist nun nicht eigentlich das Problem. Zum Problem wird, wenn jede dieser Sichtweisen sich als die einzig richtige absolut setzt, statt sich mit den anderen auseinanderzusetzen und – je nach aktuell gegebenen Situationen, in die ER „kommen“ will – gegenseitig anzuregen, zu befruchten, zu ergänzen – bis hin zu einer neuen Integration von Baum und Geschenken. Davon würde dann auch die allgemeine „Wachsamkeit“ profitieren!

Im Sinne solcher ergänzenden Anregung zur Advent-Frage, was wir denn erwarten können, dürfen, sollen, wollen, verdient die 2. Lesung dieses Sonntags (aus 1 Korinther 1) Aufmerksamkeit. Dort wird die für Christen typische Erwartungshaltung benannt, dass „ihr auf die Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus wartet“ (Vers 7). Im gleichen Sinn formuliert das Stundenbuch die Einleitung der Bitten für die Laudes am 1. Adventssonntag: „Gepriesen sei Gott, der uns die Gnade schenkt, das Erscheinen unseres Herrn Jesus Christus zu erwarten.“ Natürlich greift es zu kurz (bei all meiner Sympathie für diese Idee), daraus schließen zu wollen, dass der Advent nicht das Weihnachtsfest als Ziel habe, sondern das Erscheinungsfest am 6. Januar. Die Worte „erwarten“ und „Erscheinen“ meinen ja nicht verkürzt ein Kalenderdatum, sondern dass Christus als der Herr „erscheint“. Diese im Hebräischen wurzelnde Vorstellung bedeutet, präzise übersetzt: „sich sehen lässt“, der also sinnenhaft und sozial erlebt werden kann – im aktuellen Geschehen, im Duktus der Weltgeschichte, im Lebenslauf eines Menschen, …

Bis hierher geht der Podcast

Zwei der bis heute bekanntesten Adventlieder bieten sich übrigens in sehr hilfreicher Weise für die Ausrichtung der Aufmerksamkeit an: um welche „Erwartung“ es da geht und was es mit Seinem „Kommen“ auf sich hat:

Macht hoch die Tür, …!

Dieses Lied besingt die gegenseitige Aufmunterung, Tür und Tor weit aufzumachen – nicht  etwa – klingelingeling – fürs Christkind (gar den Weihnachtsmann) mit seinen Geschenken, sondern für den, der jetzt neu (als „König“) herrschen will und soll – mit Heil und Leben …

O Heiland, reiß die Himmel auf

Ein Aufschrei aus dem kollektiven Wahn der Hexenverbrennung (Friedrich Spee!) ebenso wie angesichts sexualisierter Gewalt gegen Kinder … ebenso wie im als selbst verschuldet beklagten Elend des Gottesvolkes, das den Propheten in der 1. Lesung dieses Sonntags ausrufen lässt: „Hättest du doch den Himmel zerrissen und wärest herabgestiegen, sodass die Berge vor dir erzitterten!“ (Jesaja 63,19b)

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