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Adam muss sich nicht mehr verstecken

20. Oktober 2022

Sonntagsbotschaft zum 23. Oktober 2022, dem 30. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C). 

Zwei gehen zum Gotteshaus. Um zu beten.

Der eine „stellt sich hin“ – so schreibt die Einheitsübersetzung der Bibel. Das griechische Neue Testament verwendet dafür das Wort σταθείς. Das trägt in sich auch eine emotionale Färbung: Zusätzlich zum äußeren Vorgang, dass einer sich hinstellt, benennt es etwas von der inneren Einstellung, die sich darin sichtbar zeigt, wie einer sich da platziert und eine Position einnimmt: nämlich mit einem protzigen Gehabe. Ich würde daher übersetzen: Der eine pflanzt sich auf. Mit dem unguten Beigeschmack: Er präsentiert sich. Er stellt sich dar. Und das, „um zu beten“?

Der andere bleibt ganz hinten stehen. Anscheinend fühlt er sich unwürdig und denkt, er muss auf Distanz bleiben zum Heiligen.

Die Rede ist vom Tempel auf dem Tempelberg in Jerusalem. Jesus – so heißt es im Evangelium des Sonntags – dichtet diese Geschichte und erzählt:

Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf,
um zu beten;
der eine war ein Pharisäer,
der andere ein Zöllner.
Der Pharisäer stellte sich hin
und sprach leise dieses Gebet:
O Gott, ich danke dir,
dass ich nicht wie die anderen Menschen bin,
die Räuber, Betrüger, Ehebrecher
oder auch wie dieser Zöllner dort.
Ich faste zweimal in der Woche
und gebe dem Tempel
den zehnten Teil meines ganzen Einkommens.

Wozu geht er in den Tempel? Er sagt: Gott, ich danke dir – und er zählt auf, wofür er dankt. Was er aufzählt, sind seine frommen Qualitäten und seine Leistungen; dabei vergleicht er sich mit dem Zöllner, den er verächtlich unter die Übeltäter einreiht.

Der Zöllner aber
blieb ganz hinten stehen
und wagte nicht einmal,
seine Augen zum Himmel zu erheben,
sondern schlug sich an die Brust
und betete:
O Gott, sei mir Sünder gnädig!

Er ist sich selbst ein Problem und vertraut sich damit Gott an.

Wenn ich diese Geschichte höre oder lese, – was macht das mit mir? Von wo aus betrachte ich, was da erzählt wird? Bin ich da eher beim Pharisäer? Oder beim Zöllner? Oder sehe ich mich als neutralen Beobachter? Was bedeutet mir, was ich da sehe? Und wie reagiere ich darauf?

Die Sprache, in der ich das kommentiere, wird ungewollt zu erkennen geben:

Entweder ich beschreibe – mehr oder weniger einfühlsam – , was ich wahrnehme, und frage vielleicht nach, weil ich besser verstehen möchte: Wie geht es diesem Zöllner eigentlich? Fühlt er sich, da einer Schuld bewusst, minderwertig? Erfüllt ihn Neid auf den Pharisäer? Oder Sehnsucht nach Befreiung von dem, was ihn als „Sünder“ auf Distanz hält? …….

Oder ich bewerte, urteile: Die Verächtlichkeit des Pharisäers, mit der er auf den Zöllner schaut, ist selbstgerecht und scheinheilig. Und da ich eine solche Selbstgerechtigkeit ablehne, mache ich das auch von Anfang an deutlich. Um mir und Gott und allen, die es hören, klarzumachen, dass das nicht meine Art ist, sage ich: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie dieser Pharisäer. Und erschrecke sofort: O Gott, sei mir Sünder gnädig!

Und dann gibt es die Möglichkeit, dieses Risiko von mir abperlen zu lassen: Ich bleibe von vornherein ganz hinten, möglichst klein und mit eingezogenem Kopf: O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die da vorne, die sich wohl als etwas Besseres vorkommen …

Es ist jetzt 25 Jahre her, da sagten einige Gemeindemitglieder auf die Frage, warum sie, wenn sie zum Gottesdienst kommen, ihren Platz in einer der vordersten Bänke wählen: ………….

Eine gewisse Überheblichkeit, mit der ich andere Menschen vorschnell beurteile, das aber brüsk von mir weise, – weil ich doch angeblich nur beschreibe, was ich an ihnen wahrgenommen habe – könnte mich veranlassen, erst einmal verschämt den Kopf einzuziehen und kopfschüttelnd-belämmert mich nach ganz hinten zurückzuziehen – wie der Zöllner.

Gegen Ende einer Psychotherapie in meinen jungen Jahren kommentierte die Therapeutin ein von mir benanntes Problem, das ich mit mir selber hatte: „Aha, als letztes ist jetzt also der Hochmut dran.“ Blitzschnell kam mir damals dazu diese Erzählung vom Pharisäer und dem Zöllner im Tempel in den Sinn.

Mit welcher Absicht erzählt Jesus diese Geschichte? Am Anfang hatte der Evangelist sie eingeführt mit den Worten:

Jesus erzählte einigen,
die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren

und die anderen verachteten,
dieses Gleichnis …

Und was will er damit bei diesen Menschen erreichen? Jedenfalls will er sie mit ihrer verächtlichen Selbstgerechtigkeit nicht bloßstellen und damit kränken. Aber anscheinend möchte er es ihnen möglich machen, davon frei zu werden, möchte sie von dieser Gewohnheit heilen.

Vielleicht will er ja Menschen dazu anstecken, es zu halten wie er. Womöglich sieht er darin sogar – für den Pharisäer wie für den Zöllner, also für alle – eine Art Recht auf Anerkennung der Menschenwürde? Was für eine Rolle nimmt Jesus da ein – denen gegenüber, an die er sich mit dem Gleichnis wendet? Was ist seine Botschaft, die er ihnen rüberbringen will?

Als Fazit sagt er ihnen ja:

Ich sage euch:
Dieser
       
– nämlich der Zöllner –
kehrte als Gerechter nach Hause zurück,
der andere
        – der Pharisäer –
nicht.
 …
(Lukas 18, 9-14)

Was sagt er da? „Als Gerechter“?

Vielleicht ist es wichtig, den Unterschied zu beachten: Heute meinen wir mit dem Wort „gerecht“ meistens ein Verhalten im Sinn von sozialer Gerechtigkeit oder nach Recht und Gesetz. Deshalb kann das Wort von Jesus in unseren Ohren wie ein Urteil klingen. Die Bibel aber versteht unter „gerecht“ darüber hinaus eine glücklich machende Übereinstimmung mit Gottes Bestrebungen:

„Gerecht“ vor Gott dastehen kann kein Mensch, solange er auf dem Weg ist. Eigene Qualitäten, Leistungen oder Verdienste können Meilensteine sein, die meinen Weg markieren. Aber wirklich „okay“ bin ich, so dass ich – mit anderen gemeinsam – darüber selbstbewusst und dankbar jubeln kann, erst wenn mir klar wird, was Jesus am Ende der Geschichte von dem Zöllner sagt, der sich zu seinem Nicht-okay-Sein bekennt:

Dieser
        – anscheinend versöhnt mit sich und Gott und der Welt –
kehrt als Gerechter nach Hause zurück!

Es war ja die Begegnung mit Gott im Gebet, die ihm zum Anlass dafür wurde, dass er sich getraut hat, sich seinem Problem mit sich selbst zu stellen! Da hat er es nicht mehr nötig, sich etwas vorzumachen. Seinen Schatten muss er nicht mehr verdrängen und ausblenden. Er muss nicht mehr Angst um seinen Wert haben. Bei Gott kann er der sein, der er wirklich ist; Adam muss sich nicht mehr vor Gott verstecken.

Er kann den Zusammenhang sehen und aushalten, dass er selber die Ursache für seine Unzufriedenheit und Belastung ist. Jetzt kann er selber sehen, wo er ansetzen kann für eine Heilung seiner Geringachtung für sich selbst.

Um sich menschlicher und persönlicher Größe zu vergewissern, hat er es jetzt nicht mehr nötig, anderen mit Geringschätzung zu begegnen. Denn so – ohne Filter – sich Gott anzuvertrauen – mit all seiner menschlichen Schwäche und Kleinheit – das öffnet ihm die Tür zu neuer Freiheit und zum Bewusstsein seiner Würde.

Wie kommt’s, dass der Zöllner beim Gebet im Tempel diese Befreiung erlebt?

Das lässt sich nur nachvollziehen, wenn man davon ausgeht, dass Jesus eine solche Begegnung mit Gott persönlich verkörpert; mit ihm kann man das erleben.

Jesus sagt ja im Grunde seinen Gesprächspartnern nicht nur etwas. Er teilt sich selber mit und offenbart sich ihnen sinnenfällig als der Ort der Begegnung, wo der Mensch nicht mehr an seinen Leistungen gemessen wird und sich deshalb trauen kann, zur eigenen Wirklichkeit zu stehen und damit sich von Gott beglückend geliebt zu wissen. Was ihn dann natürlich veranlassen wird, dazu beitragen zu wollen, dass möglichst die ganze Welt auch diese Erfahrung macht.

Das Evangelium des nächsten Sonntags wird davon ein sympathisches Beispiel malen.

Vielleicht ist das ja auch das, was Paulus meint, wenn er sagt: Wenn ich schwach bin, dann kann ja um so deutlicher die Kraft von Jesus Christus an mir wirksam werden und sich zeigen. So muss ich keine Angst haben vor meiner Ohnmacht, vor Verfolgungen und vor Nöten aller Art. (vgl. 2. Korinther 12,9-10)

Jedenfalls erzählt Jesus dieses Gleichnis, weil er um Zustimmung wirbt für sein respektvolles, aber Anstoß erregendes Verhalten gegenüber den Geringgeschätzten und Verachteten. Sein Neustart mit dem Menschen möchte eben zur neuen Welt werden.

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