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Glauben gegen die Fesseln

13. Oktober 2022

Sonntagsbotschaft zum 16. Oktober 2022, dem 29. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C). 

„Dein Glaube hat dich gerettet!“ So hatte Jesus zusammengefasst, was geschehen war: Von den insgesamt zehn Geheilten hatte der Samaritaner, der „Ungläubige“, als einziger gecheckt, dass seine Begegnung mit Jesus ihm die Fesseln gesprengt hat. Aus der Isolation, zu der seine Krankheit ihn verdammt hatte, kehrt er zurück ins Leben. Göttlich!

In Fortsetzung von der letzten Woche konfrontiert Jesus an diesem Sonntag wieder mit dem Thema „Glauben“. Wenn ja der Glaube „rettet“, lohnt es sich wohl, sich schon wieder damit zu beschäftigen.

Ein Gleichnis, das er dafür erzählt, will wieder einmal zum „Evangelium“ werden:

In einer Stadt lebte ein Richter,
der Gott nicht fürchtete
und auf keinen Menschen Rücksicht nahm.
In der gleichen Stadt lebte auch eine Witwe,
die immer wieder zu ihm kam und sagte:
Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher!

Die im antiken orientalischen Kulturkreis prekäre Situation der Witwen ist in der Bibel immer wieder ein Thema. Da nur Männer Rechte hatten, war eine Frau ganz schnell rechtlos, wenn der Ehemann gestorben war. Wenn sie auch keinen Sohn hatte, war, wenn es darauf ankam, niemand da, ihr zu ihrem Recht zu verhelfen.

Die Bibel hat das von Anfang an korrigiert: Dann macht sich eben Gott selber zum Anwalt der Witwen. Ein starker Impuls für die Rechtsgeschichte bei einem Volk, das in Gott die maßgebende Instanz sieht!

So kommt in der Bibel immer wieder das Motiv vor, dass Witwen ihr Recht einfordern – bei Gott und bei Menschen, denen Gott als Garant des Rechts für die Rechtlosen gilt:

Ein Vater der Waisen,
ein Anwalt der Witwen
ist Gott in seiner heiligen Wohnung.
(Psalm 68,6)

So in Psalm 68.

Er verschafft Waisen und Witwen ihr Recht.

Deuteronomium 10,18.

Und der Prophet Jesaja ordnet es der Korruption und der Unterdrückung zu, wenn den Witwen ihr Recht vorenthalten wird:

Deine Fürsten sind Aufrührer
und eine Bande von Dieben,
ein jeder liebt Bestechung
und jagt Geschenken nach.
Dem Waisen verschaffen sie kein Recht
und der Rechtsstreit der Witwe gelangt nicht vor sie.
(Jesaja 1,23)
Lernt, Gutes zu tun!
Sucht das Recht!
Schreitet ein gegen den Unterdrücker!
Verschafft den Waisen Recht,
streitet für die Witwen!
(Jesaja 1,17)

In diesen Zusammenhängen stehen die Waisen und die Witwen immer zugleich auch für die Fremden und für die Armen, für alle, denen die gesellschaftliche Realität menschenwürdige Lebensbedingungen vorenthält, den nötigen Anteil an den Ressourcen verweigert, sie ausschließt aus der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Für sie alle steht in dem Gleichnis, das Jesus erzählt, die Witwe, die bei dem Richter ihr Menschenrecht einklagt.

Und der Evangelist Lukas zeichnet Jesus in der Rolle, von der der Prophet Jeremia Gottes Verheißung ausgesprochen hatte:

In jenen Tagen und zu jener Zeit
werde ich für David
einen gerechten Spross aufsprießen lassen.
Er wird Recht und Gerechtigkeit wirken im Land.
(Jeremia 33,15)

Also setzt Jesus sein Gleichnis fort und sagt von dem fragwürdigen Richter:

… er wollte lange Zeit nicht.
Dann aber sagte er sich:
Ich fürchte zwar Gott nicht
und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht;
weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt,
will ich ihr Recht verschaffen.
Sonst kommt sie am Ende noch
und schlägt mich ins Gesicht.

Mit der Kluft zwischen der Rechtlosigkeit der Witwe und der Verkommenheit dieses Richters, der nur aus Angst vor ihrer Gewalttätigkeit nachgibt, zeichnet Jesus die groteske Absurdität der Situation.

Und er kommt aus der Bildebene des Gleichnisses zurück in die Aktualität seiner Zeit:

… Hört, was der ungerechte Richter sagt!
Sollte Gott seinen Auserwählten,
die Tag und Nacht zu ihm schreien,
nicht zu ihrem Recht verhelfen,
sondern bei ihnen zögern?
Ich sage euch:
Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen.

Und jetzt kommt der atemberaubende Schlusssatz. Mit ihm konfrontiert Jesus alle, die die entgegengesetzte Realität Gott in die Schuhe schieben und seine Botschaft als unglaubwürdig beschimpfen:

Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt,
den Glauben auf der Erde finden?
(Lukas 18, 1-8)

Sein Gleichnis zeigt, was er mit „Glauben“ meint, ohne den die Rettung des seines Rechts beraubten Menschen nicht gehen wird.

Das Verhalten der Witwe ist der Schlüssel: Immer wieder, so hatte Jesus gesagt, fordert sie ihr Recht ein. Mit dem Nachdruck ihres Wissens um ihr Recht, den Jesus „Glauben“ nennt.

Wenn nun schon dieser ungerechte Richter auf solchen Nachdruck eingeht, wie könnt ihr dann meinen, der gerechte Gott würde sich nicht mindestens ebenso zuverlässig auf den Notschrei um Recht einlassen!

Aber die „Gläubigen“ aller Zeiten schoben schon immer durch Menschen zugefügtes Leid und Unrecht Gott in die Schuhe, der dann auch noch – mindestens von „Glaubenden“ – erwarte, seine leidvollen Fügungen demütig hinzunehmen. Immer wenn er kommt, um dem Recht des Menschen zum Durchbruch zu verhelfen, muss er die Erfahrung machen, dass sie sich allzu gehorsam den bei ihnen herrschenden Göttern unterwerfen.

Deswegen klagt Jesus – und ich höre geradezu seine verzweifelt bebende Stimme – : Wird er denn, wenn‘s drauf ankommt, bei den Menschen überhaupt einen „Glauben“ – nämlich einen wie den der Witwe – vorfinden??? Verlangen Menschen nach ihrem Recht und trauen sie es Gott zu, dass er sich dessen annimmt?

Wenn er heute kommt, um denen „zu ihrem Recht [zu] verhelfen“, die „Tag und Nacht zu ihm schreien“, – wonach wird er dann bei uns suchen, wenn er bei Menschen „Glauben“ finden will?

Um nicht „sich zu streiten“ oder gar zu „schreien“, geben sich viele zufrieden mit einem sogenannten „Recht“, das nur in Abhängigkeit vom Wohlwollen anderer anerkannt wird und wenn es den Mächtigen gefällt.

Allerdings zerstört das die Würde des Menschen, den Gott – wie es in Psalm 8 heißt – „nur wenig geringer gemacht hat als Gott“ und dem der Christus Jesus sich gleich gemacht hat, der doch „Gott gleich war“ – wie es der Hymnus in Philipper 2 sagt!

Den Mächtigen, die andere Götter vertreten, erscheint solches, der Menschenwürde entsprechendes Beharren auf den Menschenrechten als ungehörig und als schädlich für die Ordnung, die sie meinen. Kompromisse, mit denen sie sich zufriedengeben sollen, sind für ihre anderen Bestrebungen nur lästige Einschränkungen. Menschenrecht wird ihnen zur bürokratischen und wachstumshemmenden Fessel, die abzuwerfen sie alle ihre Möglichkeiten einsetzen.

Ein Beispiel – in der Frankfurter Rundschau vom 5. Oktober macht Stephan Hebel darauf aufmerksam in seinem Beitrag mit der Überschrift „Humus für den Nationalismus“: Ende September habe der stellvertretende FDP-Vorsitzende Johannes Vogel gefordert, das Inkrafttreten des Lieferkettengesetzes von Anfang 2023 auf mindestens 2024 zu verschieben. Denn das Gesetz, das zu einer besseren Beachtung der Menschenrechte in Produktion und Handel verpflichtet, lege dem Handel „bürokratische Fesseln“ an!

Oder: Die Fernsehsendung „Monitor“ vom 6. Oktober berichtet: Trotz des Rüstungsexportverbots in Kriegs- und Krisengebiete habe die Bundesregierung die Lieferung von Teilen und Munition für Eurofighter und Tornado an Saudi-Arabien genehmigt, das seit Jahren Krieg im Jemen führt. Und warum? „Monitor“ titelt: „Öl statt Menschenrechte?“

Psalm 2 in der Bibel spricht von „nichtigen Plänen“, mit denen „die Großen sich zusammentun gegen den HERRN und seinen Gesalbten“ und legt ihnen die Worte in den Mund: „Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke!“ (Ps 2,3). Sie warnt der Psalm vor Gottes Widerstand.

Und den verkörpert Jesus, der dafür sein Leben riskiert und der Menschen finden will, die sich von ihm anstecken lassen und an Gott glauben.

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