Sonntagsbotschaft zum 21. April 2024 (dem 4. Ostersonntag im Lesejahr B).
Wenn kein Mensch und kein Staat mich schützt, bin ich dann eine wehrlose Beute für alle Wölfe der Geltungssucht und Habgier? Oder muss ich dann, um zu überleben, auch zum Wolf werden? Oder …?
Eine vorschnelle Antwort lautet „Das Leben ist eben ein Kampf“ und „Der Mensch ist dem Menschen eben ein Wolf“ und „Wenn es dir dreckig geht, bist du selber schuld.“
Die Bibel bezeugt Erfahrungen, aus deren Summe sich auf diese Frage eine Antwort eigener Art ergibt. Sie will entdeckt und vertrauensvoll ausprobiert werden, um sich als hilfreich zu erweisen.
Zugänge öffnen sich, wo der willkommen ist, der sich da anbietet.
Mit dem Evangelium dieses Sonntags klopft er an. Da stellt Jesus sich vor als der gute Hirt, dem am Wohlergehen seiner Schafe alles liegt und der sich deshalb auch dem Wolf entgegenstellt, wenn der sie reißen will.
So fasst er alles das zusammen, was er mit seinen Worten und seinem Tun von Gott her unter die Menschen bringt.
Die Bibel erzählt davon ganz konkret an Hand vieler typischer Szenen.
Da ist zum Beispiel eine herrschende und übliche Einstellung – auch bei frommen Bibelkennern damals in Kafarnaum ebenso wie heute bei vielen Menschen, die sagt: „Wer für eigene Schuld mit der Lähmung seiner Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bestraft ist, der muss eben büßen.“
Da erzählt aber das Markus-Evangelium (2,1-12; parallel auch Lukas 5,17-26) von dem unverschämten Beispiel des Gelähmten, für den vier Männer das Dach demolieren, weil sie ihn trotz der gedrängten Menschenmenge unbedingt direkt an die Seite von Jesus bringen wollen. Und da Jesus darin ein enormes Vertrauen erkennt, befreit er ihn von dem Zwang, die ihn fesselnde Lähmung hinzunehmen: „Deine Sünden sind dir vergeben. … Steh auf, … und geh nach Hause!“ Mit diesem Schritt stellt sich Jesus zwischen den seiner Freiheit beraubten Gelähmten und diejenigen, die ihn weiterhin für seine Schuld bestraft sehen wollen. Wie ein Anwalt. Wie der Hirt, dem das Schaf gehört, dem der Wolf das Leben nehmen will. So riskiert er, die „Strafe“ auf sich zu ziehen: „Er lästert Gott“, meinen drohend die, gegen die er angetreten ist, um den Menschen zu retten und zu heilen.
Oder – ein anderes Beispiel: An einem Sabbat geht Jesus durch Kornfelder. Unterwegs reißen seine Jünger Ähren ab, zerreiben sie mit den Händen und essen sie. Da sagen einige Pharisäer zu ihm: „Das ist am Sabbat verboten!“ Ja, sie sehen darin eine Arbeit, die man am Sabbat zu unterlassen hat. Aber seine Jünger haben Hunger! Jesus stellt sich also schützend vor sie und wehrt den Angriff der Pharisäer ab: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Markus 2,23-28; parallel auch Matthäus 12,1-8 und Lukas 6,1-5) Hm! – Sie werden ihn ausschalten müssen!
Oder: Jesus ist in Jerusalem. (Johannes 8,1-11) Aus seiner Anwesenheit im Tempelvorhof wird unversehens eine öffentliche Gerichtsverhandlung. Sie bringen eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden ist. Ihre Schuld ist unbestritten. Und ebenso, dass darauf die Todesstrafe durch Steinigung steht. Aber für Jesus ist etwas Anderes wichtiger. Voll mitfühlend, stellt er sich zwischen die Angeklagte und ihre Richter. Sie veranlasst er, die Strafe nicht zu verhängen. Die Frau kommt frei. Zähneknirschend trollen sich die Richter davon. Und am Ende der sich anschließenden Diskussionen wollen sie Jesus steinigen (Johannes 8,59).
Ein weiterer Schritt von Jesus auf seinem Weg, der ihn schließlich ans Kreuz bringen wird: Mitten im Sabbat-Gottesdienst. Da sitzt ein Mann mit einer verkrüppelten Hand. Die Hüter von Frömmigkeit und Ordnung fragen Jesus provozierend: „Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen?“ Sie suchen nämlich nach einem Grund, ihn anzuklagen. So erzählt das Matthäus-Evangelium (12,9-14; parallel Lukas 6,6-11). Jesus wirbt um ihre Zustimmung mit seinem Hinweis, dass doch auch sie es richtig finden, ihr einziges Schaf sofort aus der Grube herauszuziehen, wenn es am Sabbat hineingefallen ist. Also sagt er zu dem Mann: „Streck deine Hand aus!“ Er streckt sie aus und die Hand wird wiederhergestellt, gesund wie die andere. Wie reagieren darauf die Pharisäer? Sie gehen hinaus und fassen den Beschluss, Jesus umzubringen.
In anderen Beispielen geht Jesus dazwischen – nicht um einen akuten Angriff auf einen Menschen abzuwehren, sondern um eine feste Mauer niederzureißen, mit der die allgemeine Stimmung niedergedrückte Menschen am Aufleben hindert.
Nehmen wir etwa die Szene im Lukas-Evangelium (7,36-50), in der eine in der Stadt als „Sünderin“ verrufene Frau in das Gastmahl beim Pharisäer Simon hereinplatzt und sich mit ihrer Verzweiflung Jesus zu Füßen wirft. Sehr feinfühlig bemüht er sich, bei Simon die Mauer der Verachtung für diese Frau zu überwinden. Ob bei ihm Gespür und Sympathie dafür wachsen kann, ihr eine positive Veränderung ihres Lebens zu ermöglichen? Da Jesus – schützend – ihren wortlosen Hilfeschrei annimmt, statt sich von ihr zu distanzieren, breitet Simon erst einmal seine Verachtung auch über ihn aus.
Ähnlich im 9. Kapitel des Johannes-Evangeliums (9,1-41). Da geht es um einen blinden Mann. Blindheit, mit der man nur viel schwieriger durchs Leben kommt als sehende Menschen, das galt – unangefochten – als Strafe für irgendeine schwere Schuld. Nun war aber dieser Mann schon von Geburt an blind. Um wessen Bestrafung geht es da? Diese Frage seiner Jünger wird für Jesus zum Anlass, sich ihm zuzuwenden. Da der sich auf diese Begegnung vertrauensvoll einlässt, kann er nun sehen. Der Mann ist glücklich. Allerdings sind da auch die Pharisäer. In ihrer Blindheit für sein Glück, zu dem Jesus ihm verholfen hat, sehen sie nur: Es ist Sabbat, und Jesus hat da gearbeitet. Das ist verboten! In der Kontroverse reagieren die Menschen sehr unterschiedlich. Alles spitzt sich auf die Frage zu, ob man – durch die religiöse Strenge der Pharisäer eingeschüchtert oder verängstigt – lieber den Kopf einzieht oder ob man in Jesus den sieht, der mit seinem – dem Blinden zum neuen Leben verhelfenden – Verhalten ein Zeichen setzt für den liebenden Gott, der – wenn es nur irgendwie geht – den Menschen befreien will. Dieser Vorfall wird für die Gegner von Jesus zu einem weiteren Anlass, seinen Tod zu wollen.
Und unmittelbar daran schließt dann das Johannes-Evangelium (Johannes 10,11-15) die Rede von Jesus an, in der er sich als der „gute Hirt“ vorstellt – der Evangeliums-Abschnitt dieses Sonntags:
Wenn Menschen bedroht sind – hier „Wolf“ genannt – , „lässt ein bezahlter Knecht“ die von der Gefahr Betroffenen – hier „Schafe“ genannt – „im Stich und flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt“. Solange also in einer Krise nur wirtschaftliche Aspekte zählen, bringt jeder sich lieber selber in Sicherheit, als sein Leben für die bedrohten „Schafe“ zu riskieren. Jesus aber, er und seine sogenannten „Schafe“ gehören zusammen. Er tut alles, was immer nur möglich ist, für den Schutz der ihm Anvertrauten, für den Schutz ihres Lebens, ihrer Interessen, ihrer Rechte. Wenn sie sich gefährlicher Angriffe nicht ohne Beistand erwehren können, geht er dazwischen. Ihr Recht macht er zum eigenen Interesse. Als ihr Anwalt lenkt er alle Angriffe auf ihre Unversehrtheit ab und riskiert so, selber zur Zielscheibe zu werden. Da stellt er sich dem sogenannten „Wolf“ entgegen, wenn der die Schafe angreift: „Der gute Hirt gibt sein Leben hin für seine Schafe.“ Wer sich die vielen Beispiele vor Augen hält, die in den Evangelien erzählt werden, wie Jesus dazwischengetreten ist, wenn Menschen angegriffen oder unterdrückt werden sollten, versteht, wovon Jesus redet.
Und in der Tat: Sein Einsatz für den Menschen, für seine Würde und sein Recht hat ihm das Leben gekostet. Was für eine wertschätzende Liebe zum Menschen! Göttlich eben!
Dem aggressiven Machtanspruch einer frommen Ideologie entgegen, springt Jesus den Menschen bei, die sich selber nicht wehren können. Den Lehrern der religiösen Ordnung schleudert er den Ruf entgegen:
Weh euch Gesetzeslehrern!
Ihr ladet den Menschen
unerträgliche Lasten auf,
selbst aber rührt ihr die Lasten
mit keinem Finger an.
(Lukas 11,46)
Immer wieder erregt Jesus Anstoß, weil er sich schützend vor Menschen stellt, denen die Anerkennung ihrer Würde und ihr Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verweigert wird. Die Kritik seiner Gegner fasst das Lukas-Evangelium (15,1-2) mit den Worten zusammen:
„Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm,
um ihn zu hören.
Die Pharisäer und die Schriftgelehrten
empörten sich darüber
und sagten:
Dieser nimmt Sünder auf
und isst mit ihnen!“
Mit seiner Antwort stellt Jesus sich ihren Angriffen auf ganze Teile der Bevölkerung entgegen und versucht, seine Kritiker zu einer Änderung ihrer Sicht zu bewegen. Drei bildhafte Beispielgeschichten erzählt er ihnen mit dieser Zielsetzung.
Im bekanntesten der drei Gleichnisse geht es um einen jungen Mann, der sich tatsächlich selber um seine Lebens-Chancen bringt, indem er sich sein Erbteil auszahlen lässt, abhaut und alles Geld in den Sand setzt. Jesus verharmlost in seinem Gleichnis nicht die eigene Schuld des Mannes an seinem Elend. Aber in der Gestalt des Vaters illustriert er die große Freude, dass er seinem Sohn nach dessen sozialem Tod jetzt wieder einen erfüllenden Lebensraum bieten kann. Dem hält der ältere Sohn entgegen: Dass für „den da“ ein so großes, aufwändiges Fest gefeiert wird – nein, eine solche „Barmherzigkeit“ ist für ihn höchst ungerecht! Ob die Kritiker von Jesus sich in diesem älteren Sohn wiedererkennen werden?
In dem Vater, der sich den Angriffen seines älteren Sohnes auf den zurückgekehrten Bruder entgegenstellt, malt Jesus von sich selber das Bild, mit dem er seine Kritiker zu versöhnen sucht.
Mit seinem Verhalten erfüllt Jesus die Hoffnung, die Menschen schon in den alten biblischen Psalmen auf Gott gesetzt haben: Da jubeln die Betenden über Gott, der „seine Feinde“, „die Frevler“, in ihre Schranken weist. Sie nennen ihn den „Anwalt“, der für sie „eintritt“ und ihnen zu ihrem Recht verhilft:
Ein Vater der Waisen,
ein Anwalt der Witwen
ist Gott in seiner heiligen Wohnung.
Gott bringt Verlassene heim,
führt Gefangene hinaus in das Glück; …
(Psalm 68,7-8)
Und:
Wach auf, tritt ein für mein Recht,
erwache, mein Gott und mein HERR,
um für mich zu streiten!
Verschaff mir Recht
nach deiner Gerechtigkeit,
HERR, du mein Gott!
(Psalm 35,23-24)
Unter den Psalmen, die davon singen, genießt Psalm 23 auch bei heutigen Menschen die größte Beliebtheit:
Muss ich auch wandern
in finsterer Schlucht,
ich fürchte kein Unheil,
denn du bist bei mir;
dein Stab und dein Stock
geben mir Zuversicht. …
Du deckst mir den Tisch
vor den Augen meiner Feinde,
du salbst mein Haupt mit Öl,
du füllst mir reichlich den Becher. …
Der Herr ist mein Hirt,
er führt mich an Wasser des Lebens. …
(Psalm 23,4.5.1)
Und der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Christen-Gemeinde in Rom seine begeisterte Zusammenfassung christlicher Hoffnung:
Wenn nun Gott für uns ist,
wer will dann gegen uns sein!
Er hat seinen eigenen Sohn
nicht verschont,
sondern ihn für uns alle hingegeben. …
Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen?
Gott ist es, der gerecht macht.
Wer kann sie verurteilen?
Christus Jesus,
der gestorben ist,
mehr noch: der auferweckt worden ist,
er sitzt zur Rechten Gottes
und tritt für uns ein!
(Römer 8,31-34)
Und im letzten Buch der Bibel, im Buch der Offenbarung (12,10-11) hört Johannes in seiner Vision eine laute Stimme den Sieg bejubeln, den Jesus mit dem tödlichen Einsatz seines Lebens herbeigeführt hat:
Gestürzt wurde
der Ankläger unserer Brüder,
der sie bei Tag und bei Nacht
vor unserem Gott verklagte.
Jetzt also gelten bei Gott Schuldvorwürfe nicht mehr. Für Anklagen ist er nicht mehr zu haben. Er richtet nicht mehr hin, er richtet auf!
Durch sein anwaltliches Eintreten für den Menschen bei Gott hat Jesus die alte Verheißung und Sehnsucht erfüllt, die schon der Prophet Jesaja punktuell erfahren hatte:
„Du hast mir gezürnt, o Herr.
Doch dein Zorn hat sich gewendet
und du hast mich getröstet.“
(Jesaja 12,1 – mit den Worten der Einheitsübersetzung von 1980)
Mit diesen Worten des Jesaja betet die Kirche bis heute alle vier Wochen donnerstags in der morgendlichen Laudes mit dem Staunen: Dass immer mehr Menschen diese Erfahrung machen, dafür hat der Sohn Gottes (!) mit seinem menschlichen Leben bezahlt!
Wo immer überlieferte Regeln in einer Weise auf Menschen eine Macht ausüben, die ihnen das Leben unnötig einschränkt, da greift Jesus ein und ergreift Partei für sie, verteidigt sie. Da macht er sich zu ihrem Anwalt – wie ein guter Hirt, der dazwischengeht.
Auch heute?
Werden seine Christen sich von seiner Haltung anstecken lassen und dazu beitragen? Werden sie sein Tun verkörpern?
- Vielen erwerbstätigen Menschen – bei uns und weltweit – wird eine Lohnhöhe vorenthalten, die ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen würde. Dem Interesse der Steakholder und Investoren wird stattdessen Vorrang gegeben. Geht er da nicht dazwischen?
- Viele Menschen kommen trotz hoher Belastungen ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung nach, durch Steuern und Beiträge ihren Anteil beizusteuern für gesellschaftliche Aufgaben. Aber zugleich entziehen sich findige, viel leistungsfähigere Superreiche dieser Aufgabe und genießen dabei – dank erfolgreicher Lobbyarbeit – den Schutz durch den Staat – zu Lasten der Schwächeren, die deswegen einen viel höheren Anteil beisteuern müssen. Klar, welcher Seite Jesus als Anwalt zur Seite springt!
- Ausreichender Schutz vorenthalten wird vielen Bevölkerungsgruppen. Zahlreiche Medienberichte und auch eigene Erfahrungen legen den Finger in die Wunden vernachlässigter Schutzaufgaben: Schutz vor Altersarmut, Verbraucherschutz, Patientenschutz, Sonntagsschutz, Kinderschutz, Frauenschutz, Schutz vor Mietwucher, vor Diskriminierung wegen Hautfarbe, Geschlecht, Behinderung … – Der „gute Hirt“ wird sich für diese Menschen einsetzen!
Wenn es drauf ankommt – der „Gute Hirt“ riskiert sein Leben: nicht nur sein Geld, seine Freiheit, seine Beliebtheit, seine Gesundheit riskiert er, auch sein Image, seinen gesellschaftlichen Status, … ohne Rücksicht auf eigene Gefährdung, die er mit seinen Interventionen eingeht – im Interesse und zum Schutz aller, an denen einfach sein Herz hängt! Er tritt für sie ein – als Anwalt ihres Rechtes, wie ein Eigentümer für sein Eigentum, … Er macht sich ihr Bedürfnis, ihr Interesse, ihr Recht zu eigen. „Wehe, einer will euch was antun!“
Und Menschen, die ihm anhängen, werden selbstverständlich dafür Sorge tragen, dass die Allgemeinheit allen Angriffen auf Menschen und ihre Würde einen Riegel vorschiebt. Und sie werden auch im eigenen Verhalten darauf achten, dass sie solche Ungerechtigkeiten nicht mittragen.
Sende aus deinen Geist –
und das Antlitz der Erde wird neu!