Blogbeitrag

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Das seh ich aber anders

16. März 2023

Sonntagsbotschaft zum 19. März 2023, dem 4. Sonntag auf dem Weg zum Osterfest im Lesejahr A. 

„Das seh‘ ich aber anders!“, sagt der eine zum andern. Wenn Sie das hören, wissen Sie: Die beiden haben nicht nur verschiedene An-Sichten, sie verfolgen auch unterschiedliche Ab-Sichten.

Der eine will zum Beispiel, dass alle mitreden dürfen; der andere aber, dass allein die Führenden entscheiden. Beide schauen zwar auf dasselbe, sehen aber nicht das Gleiche und wollen deshalb Entgegengesetztes.

Wovon rede ich? Von der Arbeit im Unternehmen. Von Machtverteilung und Teilhabe in der Kirche. Von der Politik in der Demokratie.

„Das sehe ich aber anders!“ Je nachdem, von wo aus und unter welchem Blickwinkel ich hinschaue, sehe ich tatsächlich Anderes.

Wenn ich mich mit meiner Arbeit ins Unternehmen einbringe, tut die Leitung gut daran, meine Einsicht in Abläufe und meine Urteilsfähigkeit fürs Ganze in Betracht zu ziehen. Andernfalls könnte die Unternehmensleitung sowohl für die Würde ihrer Beschäftigten blind bleiben als auch für wichtige unternehmerische Aspekte. Studien zeigen, dass Unternehmen mit fortgeschrittener Mitbestimmung erfolgreicher arbeiten. Wer aber möglichst schnell in den gewohnten Bahnen vorankommen will, sieht das von Natur aus anders.

Und in der Kirche. „Das sehe ich aber anders!“ Einige Bischöfe bei uns und viele Bischöfe in anderen Teilen der Welt sehen die Kirche in Gefahr, wenn sie ihre Entscheidungsbefugnisse mit anderen Kirchenmitgliedern teilen sollen. Und sie können keinen Gewinn darin sehen, geschweige denn Gottes Willen, auch Frauen eine Berufung zum Priester oder zum Bischof anzuerkennen.

Am 4. Sonntag auf dem Weg, den Christen auf Ostern zu gehen, ist als erlösende Botschaft zu hören, was der Evangelist Johannes erzählt – von einer für Jesus typischen Begebenheit. Er stellt sich dem Problem, wie oberflächlich der Blick von Menschen auf die Wirklichkeit sein kann, wie sehr ihr eigener Blick sich geradezu zwanghaft den Sichtweisen unterwirft, die in ihrer gewohnten Umgebung vorherrschen, und wie sehr dann – Gottes Willen entgegen – Menschen darunter zu leiden haben.

Wie begegnet Jesus diesem Problem?

Er legt sich mit denen an, die ihre Sichtweise zur Norm gemacht haben und jetzt verlangen, dass alle sich an diese Norm halten.

Da ist auf der einen Seite ein Mann, der dasitzt und bettelt. Jesus sieht ihn. Der Mann ist blind. Schon seit seiner Geburt. Außerstande, für sein Leben selber zu sorgen. Abhängig vom barmherzigen Wohlwollen seiner Mitmenschen. Wahrscheinlich sitzt er an einer Stelle, wo viele Menschen vorbeikommen. Sie alle sehen ihn. Und doch sehen sie – wie das Evangelium erzählt – sehr Unterschiedliches:

Die Jünger, die Jesus begleiten, sehen einen, der von Gott gestraft ist. Aber da sie erfahren, dass er schon blind geboren wurde, stellt sich ihnen die Frage, wer denn da gesündigt hat: Er selber? Oder seine Eltern?

Ich ahne, dass Jesus zu seiner Antwort heftig den Kopf schüttelt oder gar mit den Zähnen knirscht: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt!“ Um Strafe und Sünde geht es hier gar nicht! Seine Jünger sind eben auch Kinder ihrer Zeit und gewohnt, die Dinge so zu sehen, wie sie es gelernt haben. Ihnen will er die Augen öffnen. Wie er diesem im Elend lebenden Menschen begegnet, soll zeichenhaft deutlich machen, wie Gott wirklich zu diesem Menschen im Elend steht und mit welchem Blick auch auf ihn schauen wird, wer mit Gottes Augen sehen will. Er sagt zu ihnen: „Die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.“

Und er veranlasst den Mann zu einem Verhalten und zu einem Weg.

Der lässt sich in Bewegung setzen – und dann heißt es: „Als er zurückkam, konnte er sehen.“ Gottes Werk!

„Nein, Teufels Werk!“, sagen auf der anderen Seite die auf ihre Normen bedachten Pharisäer. Für das, was geschehen ist, bleiben sie blind.

Sie können nur sehen: Es ist Sabbat – und der Jesus hat sich als Heiler betätigt, hat also gearbeitet, obwohl doch am Sabbat jegliches Arbeiten verboten ist! Sich mit Gott freuen, dass einer von seinen geliebten Menschen endlich menschenwürdig sein Leben in die eigene Hand nehmen kann – von einer solchen Sicht sind sie weit entfernt! Blind sind sie – für Gott wie für den Menschen! Warum? Solange sie sich festhalten an den üblichen Normen, die ihnen von Geburt an beigebracht werden – samt all den die Welt beherrschenden Regeln, die nur die im Wettbewerb Starken und Fitten belohnen, die Reichen und die Machtgierigen – , solange sind sie blind für die, die für ein menschenwürdiges Leben auf Beistand angewiesen sind. Anders als der, dessen Blindheit offenkundig war, verleugnen sie ihre eigene Blindheit. Sie sind zufrieden mit ihrer Sichtweise.

So fragen sie am Ende Jesus spöttisch: „Sind etwa auch wir blind?“ Und Jesus antwortet: „Wenn ihr ‚blind‘ wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde.“ Sie hatten nämlich gehört, was Jesus gesagt hatte: Er sei gerade deshalb in diese Welt gekommen, damit die nicht Sehenden sehen und die angeblich Sehenden ihre Blindheit erkennen.

Es lohnt sich wirklich, die ganze Geschichte zu lesen – sich dafür gut Zeit zu nehmen – mit offenen Ohren und offenem Herzen. Es ist dabei auch spannend und manchmal zum Lachen, was von den verschiedenen Menschengruppen erzählt wird, wie sie das „sehen“, was da durch Jesus geschehen ist. Und echt interessant zu sehen, wie die jeweiligen An-Sichten der verschiedenen Personengruppen und ihre Ab-Sichten zusammenhängen.

Zum Beispiel sind da Nachbarn, die sich anscheinend aus dem Getümmel einfach heraushalten wollen, die sagen: Der sehend Gewordene ist gar nicht ihr Nachbar, er sieht ihm nur ähnlich.

Und die Eltern des Geheilten: Sie sehen nur sich selber in Gefahr, aus der Gemeinde ausgestoßen zu werden, wenn sie sich froh zur Dankbarkeit gegenüber Jesus bekennen, und sagen deshalb zu den Pharisäern, sie wüssten nicht, was da passiert ist.

Wirklich „sehen“ kann nur der Blinde, der sich durch Jesus hat in Bewegung setzen lassen und dann an sich selber die Heilung seines ganzen Lebens erfahren hat. Was für eine Souveränität legt er jetzt an den Tag! Die Hüter der gesetzlichen Tradition können ihm nichts mehr anhaben. Spöttelnd tritt er ihrer Nachfrage entgegen: Der Jesus soll ein Sünder sein? Wie kann ein Sünder ein solches Zeichen tun! Ihr wisst nicht, woher Jesus kommt? Erstaunlich – wo er mir doch die Augen geöffnet hat! Wenn er nicht von Gott wäre, wäre ihm das sicher nicht möglich gewesen!

Von „Natur“ aus war er blind gewesen. So wie eben auch die Pharisäer. Als er aber mit seinem Elend dem Wort aus dem Mund von Jesus entspricht und sich dem Wasser mit dem Namen „Schiloach – der Gesandte“ anvertraut, da wird ihm das zu einer Taufe in erfülltes Leben hinein: Er taucht wieder auf und ist zwar er selbst und doch geradezu ein anderer: Ihm gehen die Augen auf! Er ist befreit. Gerettet.

Ich bin sicher: Das bevorstehende Osterfest wird er glücklich feiern! Sie auch?

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