Virologen, Politiker, Händler, Eltern, junge Leute, Menschen im Pflegeheim, Gastronomen, Zulieferer, Du und Ich, Querdenker, … Was wichtig ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Was aber alle betrifft – die einen so, die anderen anders und insgesamt unübersichtlich – , da muss es im Gemeinwesen Regeln geben, an die alle sich halten. Selbst wenn die Regel-Gebung in völlig neuer Situation mangels Erfahrung ein mit Fehlern behafteter Lernprozess ist. Und zugleich müssen die allgemein gültigen Regeln Sorge dafür tragen, dass niemand durch die Maschen der Unaufmerksamkeit in wirtschaftliche oder soziale Existenznöte fällt.
Was ist das Wichtigste?
Das Leben jedes Menschen und seine Unversehrtheit?
Die Würde des Menschen? (Und wer macht die woran fest?)
Madeleine Delbrêl: „… wird Gott für uns zum Allerwichtigsten; wichtiger als alles andere, wichtiger als jedes Leben, selbst und vor allem das unsrige.“
Viele bewundern Menschen wie Friedrich Spee, Damian Deveuster, Maximilian Kolbe, Oscar Romero, oder wie den türkischen Moslem Alptug Sözen, die ihr Leben für andere riskiert und verloren haben, und da insbesondere Jesus. Menschen, denen offensichtlich anderes noch wichtiger war als das (eigene) Leben.
Das weinende Kind, dessen Kindergarten im Lockdown geschlossen blieb: „Ich will nicht mehr leben; ich kann meine Freunde nicht mehr sehen.“
Am 28. Juni, im Sonntagsgottesdienst in der Bischofskirche von Ierapetra, habe ich wahrgenommen: Jeder 2. Stuhl trug ein Absperrband. Der Priester wollte in seiner ausführlichen, kommunikativen Predigt anscheinend etwas vom Verhältnis zwischen Vertrauen und Verantwortung in der Krisenzeit rüberbringen. Menschen küssten Ikonen, berührten sie mit ihren Lippen. Eine gebückt und, in ihrer Bewegung beeinträchtigt, auf einen Stock gestützt gehende, deutlich alte, samt Kopftuch schwarz gekleidete Frau verneigte sich langsam und erstaunlich tief vor einer Ikone, bekreuzigte sich und trat heran, fand die Bewegung, die ihr das Berühren der Ikone mit ihrem Mund ermöglichte … Die Kommunion, an der für einen orthodoxen Gottesdienst erstaunlich viele Menschen teilnahmen, legte der Priester allen – in der traditionellen Weise – mit demselben Löffel in den Mund … Ich ahnte und verstand ein wenig, was diese Menschen damit zeigten, was ihnen wichtig ist und am wichtigsten ist: Sich (und andere) nicht möglicherweise mit dem Virus anzustecken und damit einer vielleicht tödlich verlaufenden Erkrankung auszusetzen, war offensichtlich nicht das Wichtigste. Und ihnen Unkenntnis der Risiken zu unterstellen, unterschätzt den hohen Stellenwert dieses Themas sowohl in den öffentlichen Medien als auch in den verbreiteten, Generationen übergreifenden Gesprächen in den griechischen Familien. Diese Unterstellung bewahrt allerdings vor einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der Herausforderung, mit der „an Wissenschaft und demokratischer Ordnung orientierte Menschen“ sich durch die hier zeigende praktizierte Wertehierarchie konfrontiert sehen. Mich stellt diese Erfahrung somit vor eine weitere Frage: Was ist mir wichtig und am wichtigsten?
(aus Urlaubsnotizen Sommer 2020)