Blogbeitrag

Collage mit Stichworten aus Sondierungspapier

eigentlich schon gerettet

21. Oktober 2021

Sonntagsbotschaft zum 24. Oktober 2021, dem 30. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B).  

Gottes sogenannte „Option für die Armen“, seine Vorliebe für Menschen in Not, die er da ‘rausholen will in ein gutes Leben – ist das ein Orientierungsmittel, um zu erkennen, was Seine Botschaft heute möglicherweise sein will?

Immer nur für die „Armen“! Und für uns „normale Leute“, die doch gar nicht klagen können, hat er keine Botschaft???

Doch: Wenn ihr ihm was Gutes zutraut, könnt ihr von ihm hören, dass ihr viele Möglichkeiten habt, mit ihm gemeinsam Tolles zu machen, nämlich Menschen aus Not herauszuholen!

Probieren wir es eben mal – wir, sowohl die in Not als auch die, denen es gut geht – und schauen mal, was in den Bibeltexten dieses Sonntags steckt!

Oh, da geht es los mit einer echten Botschaft für Menschen in Not: Das Volk, mit dem doch sein Gott einen zukunftsträchtigen Bund geschlossen hatte, das Volk im Norden und im Süden, Israel – auch Jakob genannt – und Juda, – das Volk war am Ende, war eigentlich untergegangen. Ihre fähigen Köpfe und viele als billiges Menschenmaterial von den Siegermächten in andere Länder deportiert und in alle Himmelsrichtungen verstreut! Dieses Volk, besser gesagt: der Rest, der davon übriggeblieben ist, dem richtet der Prophet Jeremia jetzt aus, was Gott ihm aufgetragen hat:

So spricht der HERR:
Jubelt Jakob voll Freude zu
und jauchzt über das Haupt der Völker!
Verkündet, lobsingt
und sagt: Rette, HERR, dein Volk,
den Rest Israels!
Siehe, ich bringe sie heim aus dem Nordland
und sammle sie von den Enden der Erde,
unter ihnen Blinde und Lahme,
Schwangere und Wöchnerinnen;
als große Gemeinde kehren sie hierher zurück.
Weinend kommen sie
und in Erbarmen geleite ich sie.
Ich führe sie an Wasserbäche,
auf ebenem Weg, wo sie nicht straucheln.
Denn ich bin Vater für Israel
und Efraim ist mein Erstgeborener.
(Jeremia 31,7-9)

Wie werden sie damals reagiert haben? Vielleicht haben die einen das als zynisch empfunden und voller Zorn als volksverdummende Rattenfängerei abgelehnt. Andere mögen einfach verschlossen bei ihrem Schwanken geblieben sein zwischen der herzzerreißenden Enttäuschung ihrer Sehnsucht und einer zum Selbstschutz angewöhnten Gleichgültigkeit. Ein paar unter den Mächtigen, die von der Situation profitiert hatten, haben vielleicht aufhorchend die Augenbrauen hochgezogen, einen Aufstand witternd.

Aber wie ging es denen, die der Botschaft trauten? Rettung??? Heimkehr aus Babylon??? Sammlung??? Sogar für die Blinden und Lahmen??? Ein geebneter Weg??? Ohne Gefahr zu straucheln??? Und – nach all dem, worüber man nur bitter weinen und seine Tränen vergießen konnte, nach diesem schrecklichen Geschick Zions – Gott soll man so etwas zutrauen können?!

Vielleicht aus der damaligen Zeit stammt der im Gottesdienst dieses Sonntags als unsere Antwort vorgesehene Psalm, der möglicherweise für eine entsprechende aktuelle Situation uns heute zu einer neuen Perspektive anregen kann:

Als der HERR das Geschick Zions wendete,
da waren wir wie Träumende.
Da füllte sich unser Mund mit Lachen
und unsere Zunge mit Jubel.
Da sagte man unter den Völkern:
Groß hat der HERR hat an ihnen gehandelt!
Ja, groß hat der HERR an uns gehandelt.
Da waren wir voll Freude.
Wende doch, HERR, unser Geschick,
wie du versiegte Bäche wieder füllst im Südland!
Die mit Tränen säen,
werden mit Jubel ernten.
Sie gehen, ja gehen und weinen
und tragen zur Aussaat den Samen.
Sie kommen, ja kommen mit Jubel
und bringen ihre Garben.
(Psalm 126,1-6)

Und dann gibt es im Evangelium ein konkretes Beispiel:

Jesus ist mit seinen Jüngern auf dem Weg. Von Galiläa, der Provinz mit den Dörfern um den See Genezareth, ziehen sie nach Jerusalem, wo Jesus seinen Weg vollenden wird. Gerade sind sie aus der Stadt Jericho wieder aufgebrochen. Da sitzt am Weg ein Bettler. Alles was er hat, ist sein Mantel. Der ist sein letzter Rest an Selbstschutz. Warum bettelt er, statt etwas zu arbeiten? Er ist blind. Er kann nicht für sich selber sorgen. Er kann nur betteln. Elende Not in einer Gesellschaft, die noch nicht das Menschenrecht auch von Menschen mit Behinderungen gesetzlich verbrieft hat und noch nicht entsprechende Hilfestellungen der öffentlichen Hand für sie bereithält. Wehe, da ist einer ohne eine Familie, die ihn hält und trägt und auffängt! – Da sitzt er, bettelnd um ein barmherziges Almosen, einer von vielen – damals wie heute – , gedemütigt vom Schicksal, total abhängig von den Zufälligkeiten menschlichen Wohlwollens derer, die vorbeigehen.

Da heißt es im Evangelium:

Als Jesus mit seinen Jüngern
und einer großen Menschenmenge Jericho verließ,
saß am Weg ein blinder Bettler,
Bartimäus, der Sohn des Timäus.
Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war,
rief er laut:
Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!
Viele befahlen ihm zu schweigen.
Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids,
hab Erbarmen mit mir!
Jesus blieb stehen
und sagte: Ruft ihn her!
Sie riefen den Blinden
und sagten zu ihm: Hab nur Mut,
steh auf, er ruft dich.
Da warf er seinen Mantel weg,
sprang auf
und lief auf Jesus zu.
Und Jesus fragte ihn:
Was willst du, dass ich dir tue?
Der Blinde antwortete:
Rabbuni, ich möchte sehen können.
Da sagte Jesus zu ihm: Geh!
Dein Glaube hat dich gerettet.
Im gleichen Augenblick
konnte er sehen
und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.
(Markus 10,46b-52)

Innovativ! Aufbruch! Umfassende Erneuerung! Erlösung! Gesellschaftliche Teilhabe! Zukunft! Soziale Sicherheit!

Es lohnt sich, näher hinzuschauen:

Bartimäus hört, dass da so viele Leute vorbeigehen, weil sie sich für Jesus interessieren, der gerade die Stadt verlässt. Anscheinend hat er schon von Jesus gehört, dass der für die Menschen viel Gutes tut. Also ruft er laut nach ihm. Warum wohl? Was erwartet er sich davon? Wahrscheinlich ein barmherziges Almosen, vielleicht etwas mehr als von anderen Leuten. Er muss schließlich jede Chance nutzen. Aber er scheint irgendwie noch mehr Hoffnung mit Jesus zu verbinden; in seinem lauten Rufen und Schreien nennt er ihn ja „Sohn Davids“. Das ist die alte Hoffnung des Volkes Israel, dass dem abgestorbenen Stammbaum des Königshauses David gerade in Zeiten der größten Not ein neuer Spross entstammen wird, der in Gottes Kraft das Volk befreit zu einem guten Leben. Und mit diesem hell sehenden, politisch brisanten Namen „Sohn Davids“ ruft der blinde Bettler Jesus um Hilfe!

Der vorbeigehenden Menschenmenge geht er damit auf die Nerven. Was in ihnen wirklich vorgeht, kann man nur ahnen: Ist er ihnen einfach lästig mit seinem Lärm? Macht er ihnen ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm nichts geben? Wollen sie den verehrten Jesus vor der Belästigung abschirmen? Fürchten sie, von der römischen Polizei als aufrührerische Demonstranten behandelt zu werden? Ein Spross aus dem davidischen Königshaus, also Selbstbestimmung für das Volk Israel??

Und wie verhält sich Jesus? „Jesus blieb stehen“, heißt es. Der ganze Zug kommt ins Stocken. Wegen diesem blinden Bettler! Jesus lenkt die Aufmerksamkeit der Leute auf ihn: „Ruft ihn her!“ Bartimäus wird zum Mittelpunkt. Als er merkt, dass Jesus auf seinen Hilferuf einzugehen bereit ist, tut er Seltsames: Er wirft seinen Mantel weg – seinen letzten Rest an Selbstschutz! Und er springt auf und läuft auf Jesus zu – ein Blinder! Und die Leute sind plötzlich wie verwandelt: „Hab nur Mut! Er ruft dich!“ Ich sehe geradezu, wie sie ihn stützen und zu Jesus hin schleusen.

Und dann das Verblüffendste: Jesus greift nicht in den Geldbeutel für eine großzügige Spende. Vielmehr fragt er ihn: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Jesus weiß, dass der Mann Geld braucht. Seine Frage an ihn geht weit darüber hinaus. Jesus begnügt sich nicht mit dem Kurieren von Symptomen. Mit seiner Frage konstelliert er den Dialog auf Augenhöhe, stellt die Würde des Menschen wieder her, der nun selbst geltend macht, woran es ihm wesentlich mangelt: „Ich möchte sehen können!“ Erschreckend – diese Unverschämtheit! Jesus nennt das „dein Glaube“ und sagt ihm: „Dein Glaube hat dich gerettet.“

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