Blogbeitrag

Ein Kaugummi als Zündfunke (1948)

3. Februar 2015

Mai 1948. Meine Mutter war gerade gestorben.

Das eröffnete uns – meinem Vater mit uns drei Kindern – die Möglichkeit, aus Dresden nach Karlsruhe zu ziehen, wo Verwandte uns weiter halfen. Mein Vater ging mit mir zur Schule, um mich fürs zweite Schuljahr anzumelden. Fragen waren zu beantworten. „Religion?“ „Alt-katholisch.“ In der Tat, ich war getauft. Aber das war’s dann auch. In meiner Familie kamen Kirche, Religion, Glaube, … nicht vor. Im Sekretariat der Karlsruher Gutenbergschule kannte man das: alt-katholisch. „Da musst du immer am Mittwoch Nachmittag zum Pfarrer gehen. Dort findet der Religionsunterricht statt.“

Pfarrer Johne war ein lieber „alter Mann“. Man musste damals nicht viele Jahre auf dem Buckel haben, um in meinen Augen „alt“ zu sein. Die Religionsstunden bei ihm waren angenehm. Wir waren etwa sechs, sieben Kinder aus verschiedenen Jahrgängen und saßen mit dem Pfarrer zusammen um einen runden Tisch in seinem Wohnzimmer.

Die Stunden fingen immer damit an, dass Pfarrer Johne in seine Brusttasche griff und ein Büchlein herauszog. Er blätterte mit einem Stift in der Hand. Sein Blick ging in die Runde von einem Kind zum andern. Mit leiser Stimme, eigentlich nur laut denkend: „Aha, du warst am Sonntag wieder in der Kirche.“ Strich ins Buch. „Ja, und du auch.“ Strich. Wer nicht in der Kirche war, wurde freundlich angeschaut, und der Blick des Pfarrers ging unauffällig weiter. „Oh, du warst jetzt schon fünfmal in der Kirche!“ Griff in die Jackentasche und streckte dem Kind die Hand entgegen: einen in blaues Papier gepackten amerikanischen Kaugummi. Wer fünfmal in der Kirche war, bekam einen Kaugummi! 1948! – Ich bekam nie einen Kaugummi.

Eines Tages kam ich nach dem Religionsunterricht nach Hause. „Ich will am Sonntag in die Kirche!“, heulte ich heftig. Da der Weg durch die Stadt weit war, wurde meine 11-jährige Schwester Karin dazu verdonnert, mich am Sonntag in die Kirche zu begleiten.

Irgendwann bekam ich meinen ersten Kaugummi. Ich war selig. Ich ging gerne – so oft wie möglich – sonntags in die Kirche!

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