Blogbeitrag

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Eine Sache des Herzens

9. Februar 2023

Sonntagsbotschaft zum 12. Februar 2023, dem 6. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A).

 

Religion – fördert sie das Wohlergehen der Menschheit? Oder zerstört sie alle Bemühungen um Humanität? Manchmal kann man erschrecken, was alles im Namen dieser oder jener Religion geschieht. Auch was sich „christlich“ nennt, kann immer wieder zur Verzweiflung führen. Worauf ist Verlass?

Und wenn ich jetzt sage, das war wohl schon immer so, will ich keinesfalls die aktuellen Probleme verharmlosen. Aber bereits die Bibel bezeugt: Gott selber in seiner Verzweiflung meint, die Menschheit sei nur dadurch zu retten, dass er selber sich mit ihr eins macht und sein eigenes Leben dafür drangibt. (vgl. das Gleichnis von den [bösen] Winzern: Matthäus 21,33-46)

Den Halt, der sich da anbietet, den will ich nutzen. Also frage ich bohrend, was der Gott, der da in dem Menschen Jesus von Nazaret kommt, der Menschheit ans Herz legen will.

Die Bergpredigt von Jesus dürfte sich dafür gut eignen. Auszüge daraus werden jetzt schon am dritten Sonntag in Folge verkündet, um als rettendes „Evangelium“ für die Menschheit neu entdeckt zu werden.

Vor zwei Wochen fing das an mit den sogenannten „Seligpreisungen“. Da hieß Jesus alle die in Gottes befreiendem Herrschaftsbereich willkommen, die sich von der Verhaftung an „Werte“ wie Reichtum, Erfolg, Gewalt und Macht gelöst haben und eine neue Offenheit entwickeln für das Leben, wie es der Schöpfergott angelegt hat.

Und am vergangenen Sonntag hat er genau die Menschen mit dieser Einstellung zu einem Selbstbewusstsein bestärkt als „das Salz der Erde“ und als „das Licht der Welt“.

An diesem, dem 6. Sonntag im Jahreskreis, begegnet er den Anschuldigungen, denen er sich damit aussetzt, er sei ein Anarchist und wolle das „Gesetz“ abschaffen:

Denkt nicht, ich sei gekommen,
um das Gesetz und die Propheten aufzuheben!

Zu Veränderungen hat er ermutigt, ja. Mit seiner befreienden Art, sich Menschen zuzuwenden, konnten sie die Erfahrung machen, wie sehr sie von Gott geliebt sind. An seinem Reden und Tun hatte sie ja schon fasziniert, wie effektiv er deshalb ihnen dazu verhilft, sich selber so zu verhalten und zu organisieren, dass es allen gut geht.

Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben,
sondern um zu erfüllen.
Amen, ich sage euch:
Bis Himmel und Erde vergehen,
wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen,
bevor nicht alles geschehen ist.

Im Lauf der Geschichte war im Volk aber das Gespür dafür abhandengekommen, dass Gott aus liebender Wertschätzung ihnen das Gesetz gegeben hat und dass darin zuverlässig der Weg beschrieben ist, der ein erfülltes Leben für alle eröffnet. Stattdessen fühlten sie sich zunehmend gegängelt, weil ihnen das als Grundlage für ein Miteinander in Gerechtigkeit und Frieden gelten sollte und als ebenso verbindlich vorgegeben wie die Luft zum Atmen und ihr eigener DNA-Bauplan.

So setzt Jesus fort:

Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt
und die Menschen entsprechend lehrt,
der wird im Himmelreich der Kleinste sein.
Wer sie aber hält und halten lehrt,
der wird groß sein im Himmelreich.

Das „Himmelreich“, den Bereich, in dem Gott die herrschende Kraft ist, will Jesus ja gerade ausbauen und fördern und überallhin ausweiten. Natürlich will er nichts an dem ändern, womit Gott liebevoll gesorgt hat für eine Beachtung der Würde und der Rechte aller Menschen. Dass er das angeblich abschaffen will, unterstellen ihm nur die, die den Sinn des Gesetzes und Gottes Absichten damit vernachlässigen und es in seine Einzelteile zerlegt haben, um mit gewaltsamer Durchsetzung ihrer bevorzugten Einzelteile ihr eigenes Süppchen zu kochen und das auch noch als „Gerechtigkeit“ zu verkaufen. In der damaligen Zeit waren das vor allem die einflussreichen Schriftgelehrten und Pharisäer.

Darum sage ich euch:
Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist
als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer,
werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Da jetzt viele Menschen auf dem Berg versammelt sind und neugierig interessiert sind, was er sagt, wirbt Jesus dafür, dass sie sich diese vertrauensvolle Sicht auf Gottes befreiendes Gesetz zu eigen machen.

Hier in seiner „Bergpredigt“ macht er das konkret an einer langen Serie von Beispielen, von denen an diesem Sonntag die ersten zu hören sind für heutige interessierte Hörer des Wortes:

Ihr habt gehört,
dass zu den Alten gesagt worden ist:
Du sollst nicht töten;
wer aber jemanden tötet,
soll dem Gericht verfallen sein.
Ich aber sage euch:
Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt,
soll dem Gericht verfallen sein;
und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!,
soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein;
wer aber zu ihm sagt: Du Narr!,
soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.

Was Gott seinem Volk für seinen Weg in eine befreite Zukunft als Wegweisung geboten hatte, daraus hatten sie ein System von Vorschriften und Strafen gemacht, dem niemand mehr gerecht werden konnte. Man konnte nur noch den Kopf einziehen und die eigenen Fehltritte leugnen – in der Hoffnung, der Strafe zu entgehen. Wohlwollen bei Gott und seinen Beamten zu finden, war eigentlich aussichtslos geworden.

Die Logik, die sich der Suche nach friedlichem Zusammenleben bemächtigt hatte, äußerte sich in der Sprache staatlichen Rechts: Der Übeltäter „soll vor Gericht gebracht werden“, zum Beispiel vor den Hohen Rat in Jerusalem, damit der seinen Richterspruch fällt.

Jesus macht deutlich: Diese Logik, die Hass und Feindseligkeit mit der Androhung von Strafen bekämpft, führt sich selbst ad absurdum. Entweder sie setzt dem Hass eine Grenze nur beim Extremfall der Tötung und überlässt alles Andere dem freien Spiel der Kräfte. Oder sie bestraft jegliche Form von Feindseligkeit, weil ja auch die kleinste Verächtlichkeit das Potential hat, ein friedliches Zusammenleben nachhaltig zu beschädigen. Wer sich von Strafen das Heil der Welt verspricht, entzündet ein Höllenfeuer.

Jesus bringt in Erinnerung, dass alles, was im sogenannten „Gesetz“ festgelegt ist, einem Ziel dient und einen Sinn hat: Gott will, dass alle Menschen einander ihr Leben, ihre Würde und Rechte achten und so seine Liebe erfahren, die in eine glückliche Zukunft führt – eben in sein Reich mit seiner Herrschaft und nicht in die Herrschaft derer, die sich am Elend der Massen bereichern und ihre Lust an der eigenen Übermacht pflegen.

Aus seiner Liebe zu Gott und aus der mit Gott geteilten Liebe zu den Menschen propagiert Jesus einen anderen Weg, auf dem es Gott und den Menschen gelingen wird, dem Leben aller zu dienen.

Hier an diesem ersten seiner Beispiele illustriert er das so:

Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst
und dir dabei einfällt,
dass dein Bruder etwas gegen dich hat,
so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen;
geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder,
dann komm und opfere deine Gabe!

Wahrscheinlich kennt auch Jesus schon damals den Spruch „Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Jesus ist nicht blauäugig. Aber er hat im Blick, worauf es ankommt, um die Chancen zu maximieren.

Wenn Menschen in einer Umgebung groß werden und leben, in der es als selbstverständlich gilt, Versöhnung und Frieden zu suchen und sich daran zu erfreuen, dann sieht die Zukunft anders aus, als wenn jeder auf seinem Recht beharrt und die Reichen auf ihren Vor-Rechten.

Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner,
solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist!
Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen
und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben
und du wirst ins Gefängnis geworfen.
Amen, ich sage dir:
Du kommst von dort nicht heraus,
bis du den letzten Pfennig bezahlt hast.

Eine Politik, die auf die Sehnsucht aller Menschen nach Frieden und Versöhnung baut und wo Schuld nicht bis zum letzten Pfennig „rächend-gerächt“ bezahlt werden muss, riskiert immer Rückschläge. Jesus hat auf diesem Weg – auf dem Weg Gottes mit den Menschen – sogar seinen Tod am Kreuz in Kauf genommen.

Eine Ahnung davon, wie dieser Weg auch heute bei uns aussehen kann, hat das Beispiel Südafrikas gezeigt, das himmelschreiende Unrecht der Apartheid nicht durch „gerechte“ Strafen zu vergelten, sondern die Schuld der Täter und das Leiden der Opfer umfassend und konkret zu benennen und anzuerkennen. Leider ist dieser südafrikanische Weg der „Wahrheitskommissionen“ wieder aufgegeben worden.

Auch in Deutschland gibt es Mordtaten aus rassistischen Motiven, deren überlebende Familienangehörige nicht nach Bestrafung der Täter rufen. Sie verlangen nach Gerechtigkeit in Gestalt einer gerichtlichen Feststellung und Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts und Leids.

Jesus hatte gesagt: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, …“ dann zerstört ihr selber die Chancen auf Erfüllung eurer Sehnsucht nach einer glücklichen Zukunft!

Die Glaubensüberlieferung hat sich natürlich immer wieder bemüht, die Botschaft, die Jesus mit seiner Bergpredigt in die Welt setzt, zu verstehen und umzusetzen. Die Theologie hat die Kontrast-Beispiele, die Jesus gibt, als die „Antithesen der Bergpredigt“ bezeichnet. Das achtet mehr auf die Form als auf ihre inhaltliche Aussage „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: …“ – „Ich aber sage euch: …“  Der Inhalts-Aspekt in dem, was Jesus kommuniziert, steht zurück hinter der Aufmerksamkeit für seine moralische Autorität in der damit angesprochenen Beziehung zu Gott und zum Volk.

Wenn man aber das hochbrisante Gemeinsame in den Inhalten der Beispiele ebenso betonen wollte, wie Jesus das in aller Ausführlichkeit tut, könnte man ihnen die Überschrift geben „Über die nötige Aufmerksamkeit für den menschenfreundlichen Sinn des Gesetzes“. Mit den sogenannten „Antithesen“ spricht ja Jesus – weit hinaus über Verhaltensanweisungen – Menschen in ihrer inneren Haltung an, in ihrer Einstellung zueinander und zu Gott und zu sich selbst. Über alle moralischen oder rechtlichen Regeln hinaus, über die man distanziert und manchmal rechthaberisch diskutieren kann, geht es ihm um eine tiefe Weisheit zum Leben, die sich von Gott selbst und seinem „Geist“ inspirieren lässt.

Wer sich auf ihn gerne und vertrauensvoll einlässt, kann Anregungen bekommen, was man im Leben in welchen Zusammenhängen mit Vorrang beachten sollte, wenn ein erfülltes Leben für alle mehr Chancen bekommen soll.

In den Beispielen, die Jesus hier nennt, weist er deshalb immer wieder darauf hin, dass es dafür nicht ausreicht, bestimmte extreme, mit Strafe bedrohte Handlungen zu vermeiden. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die innere Einstellung, auf die Regungen im Inneren eines Menschen und auf Entwicklungen, die sich aus dem Gefühlsleben ergeben können. Nicht ein strafendes Auge, sondern ein liebevoller Blick – wie er Gott zu eigen ist – darf mein eigenes inneres Ich zur Kenntnis nehmen. Dann wird es mich nicht überrumpeln und ich bleibe eher selber Herr meiner Entscheidungen darüber, wie ich mich konkret verhalte.

Eine solche Einstellung, die Gottes Barmherzigkeit mehr zutraut als meinen Verdiensten, spiegelt die Liturgie des Stundengebets in dem Hymnus der Mittwoch-Laudes:

Blick tief in unser Herz hinein,
sieh unser ganzes Leben an!
Noch manches Arge liegt in uns,
was nur dein Licht erhellen kann.

Eine Einstellung, die im Kontrast steht zum Friedensgebet der Eucharistiefeier, Christus möge doch besser auf den Glauben der Kirche schauen als auf unsere Sünden.

Wirkliche Veränderungen zu einem friedvollen und versöhnten Leben in „Gerechtigkeit“ werden sich ergeben, wenn beachtet wird, was Jesus sagt.

Nach dem Grundmuster des ersten Kontrastbeispiels „Über die nötige Aufmerksamkeit für den menschenfreundlichen Sinn des Gesetzes“ gibt Jesus weitere dieser „Antithesen“:

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist:
Du sollst nicht die Ehe brechen.
Ich aber sage euch:
Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren,
hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. …

Und:

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist:
Du sollst keinen Meineid schwören,
und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast.
Ich aber sage euch:
Schwört überhaupt nicht. …
Eure Rede sei: Ja ja, nein nein;
was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen.
(Matthäus 5,17-37; Kurzfassung nur Verse 20-22a, 27-28.33-34a.37)

Auch hier: Jesus macht Mut, darauf zu achten, was im eigenen Herzen vor sich geht. Nur wenn ich zur Kenntnis nehme, was sich in meinem Inneren regt, kann ich dazu Stellung nehmen und mich für eine Alternative entscheiden, die meiner Einstellung zum Leben besser entspricht. Wenn ich mich in Gottes barmherziger Liebe gegründet weiß, muss ich nicht Regungen in mir verleugnen, die meinen Werten und Zielen widersprechen. Denn auch niedrige Motive, die ich in mir feststelle, können seine wertschätzende Liebe zu mir nicht mindern. Wer ich bin, darf ich bei ihm sein. Ich kann mich aber in dieser Freiheit zu einem anderen Verhalten entscheiden, das besser dem entspricht, was mir am Herzen liegt. Und wenn ich mit dieser wertschätzenden Haltung auch noch andere anstecken kann, – was will ich mehr für diese Welt?

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