Blogbeitrag

2007-09 Bernadette und Gerold

Fremd – na und?

17. August 2023

Sonntagsbotschaft zum 20. August 2023, dem 20. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A). 

Immer wieder mal auf Abstand gehen. Denn die täglichen Aufgaben zehren an den Kräften. Das braucht Erholung. Urlaub. Auszeit.

Jesus geht es nicht anders:

In jener Zeit
zog sich Jesus in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück.

So heißt es im Evangelium dieses Sonntags. Er macht es wie wir: Tapetenwechsel. Der Trubel um ihn ist doch heftig geworden. Also verlässt er Galiläa, gemeinsam mit einer Gruppe seiner Jünger. Er reist ins Ausland, ins kanaanäische Gebiet von Tyrus und Sidon. Die Menschen dort leben sowieso nicht im Bund mit dem Gott Israels. Da riskiert er also nicht, sich weiteren Aufgaben stellen zu müssen. Es sind ja „Heiden“, wie man sagte. Fremde. Ausländer. Sein Arbeitsfeld ist Israel. In Tyrus und Sidon kann er zur Ruhe kommen. Meint er.

Und siehe,
eine kanaanäische Frau aus jener Gegend
kam zu ihm und rief:
Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids!
Meine Tochter wird von einem Dämon gequält.

Erstaunlich. Sie gehört doch gar nicht dazu – zu Gottes Volk. Aber sie hat offensichtlich von Jesus gehört und erkennt ihn an als den verheißenen „Sohn Davids“, der in Israel Gottes Königsherrschaft erneuert und alles Elend heilt, unter dem das Volk zu leiden hat. Sie traut ihm zu, dass er auch ihre Tochter heilen kann.

Aber sie ist eine Fremde, die nicht dazugehört! Darf sie denn von ihm eine solche heilsame Zuwendung aus der Kraft von Israels Gott erwarten? Und – Jesus wollte sich doch zurückziehen!

Jesus gab ihr keine Antwort.
Da traten seine Jünger zu ihm
und baten:
Schick sie fort,
denn sie schreit hinter uns her!

Was tun die Jünger da? Treten sie etwa als Anwälte für das Interesse der Frau ein? Oder wollen sie einfach die Frau loswerden, weil sie ihnen lästig wird?

Im griechischen Original sagen sie zu Jesus: „απόλυσον αυτήν!“ In der Imperativform „apólyson“ klingt nach der Vorsilbe „apó“ der auch für unsere Ohren bekannte Wortstamm „ly“ oder „lys“ an, der für „Lösung“ oder „lösen“ steht: Ein unübersichtliches Phänomen „lösen“ wir, in dem wir es „ana-lys-ieren“.

„Löse sie von …!“, bitten die Jünger also ganz wörtlich. Löse sie – uns von der Pelle los? Oder: Löse sie – von ihrem Leid los? Vom unmittelbaren Text her ist beides möglich. Die heute gängige Einheitsübersetzung von 2016 sagt: „Schick sie fort!“ Die alte Einheitsübersetzung von 1980 hatte gesagt: „Befreie sie von ihrer Sorge!“

Jesus antwortete:
Ich bin nur
zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel
gesandt.
Doch sie kam, fiel vor ihm nieder
und sagte: Herr, hilf mir!
Er erwiderte:
Es ist nicht recht,
das Brot den Kindern wegzunehmen
und den kleinen Hunden vorzuwerfen.
Da entgegnete sie: Ja, Herr!
Aber selbst die kleinen Hunde
essen von den Brotkrumen,
die vom Tisch ihrer Herren fallen.

Sie lässt einfach nicht locker. Im Gegenteil: Mit Nachdruck unterstreicht sie ihr Verlangen. Da kann Jesus argumentieren wie er will. Nein, sie lässt sich nicht abwimmeln. Auch nicht durch das beleidigende Wort von den „Hunden“. Die Unterscheidung „zu Gottes Volk gehörig“ oder „fremd“ erkennt sie nicht an als maßgeblich für eine Abgrenzung, wem er sich helfend zuwendet und wem nicht. Sie weiß, was sie will – und ihm mutet sie das zu!

Darauf antwortete ihr
Jesus:
Frau,
dein Glaube
ist groß.
Es soll dir geschehen, wie du willst.
Und von dieser Stunde an
war ihre Tochter geheilt.
(
Matthäus 15,21-28)

Jesus lässt sich von ihr überzeugen. Und er staunt. Was sie mit solchem Nachdruck sagt, beeindruckt ihn und leuchtet ihm ein: Ja, maßgeblich ist, ob jemand ihm vertraut, ihm das Gute zutraut und sich deshalb an ihn wendet mit seiner Hoffnung auf Heil.

Eigentlich ist das die Botschaft, an der Glaubende in Israel schon seit Jahrhunderten ihre Freude gefunden hatten.

Zwar hielten sie einerseits an Gottes Zusage fest, der sich darauf verpflichtet hatte, sein Volk Israel aus allem Elend in eine gute Zukunft zu führen. Deshalb war es ihnen ja auch wichtig, dazuzugehören und sich von den fremden Völkern und ihren Eigenheiten abzusetzen.

Aber andererseits erinnerten sie sich auch, dass Gott ja den Bund mit ihnen geschlossen hatte, weil sie im Elend lebten und sich von ihm in die Freiheit führen ließen.

Sie verstanden, dass Gott so wunderbar handelt, weil er die von ihm geschaffenen und geliebten Menschen nicht im Elend lassen will – egal zu welchem Volk sie gehören; wenn sie nur darauf vertrauen, dass er sie immer mit seiner Liebe in eine gute Zukunft führt.

So wuchs bei denen, die weiterhin ihre Hoffnung auf den Gott Israels setzten, eine neue, geradezu universalistische Einstellung: Zunehmend wurden ihnen in ihrer Gemeinschaft Menschen aus allen Völkern willkommen, wenn sie nur ebenso wie sie auf Israels Gott hören und entsprechend leben wollten. Voller Freude stellten sie fest, dass ihre Lebensart, ihre Eigenheit, ihr Bund mit Gott die Keimzelle einer guten Zukunft für die ganze Welt darstellt. Ein neues Bewusstsein gegenüber allen „Fremden“ keimte bei ihnen; eine neue Einstellung gegenüber Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken gegenseitiger Fremdheit – in der Hoffnung auf Gottes gute Zukunft für alle.

So kann der alte Tobit beim glücklichen Ausgang der Geschichte seines Sohnes Tobias mit seiner weisen Erkenntnis des barmherzigen Gottes in den glücklichen Lobgesang ausbrechen, mit dem er seinem Volk bezeugt:

Freue dich, Jerusalem!
Die Völker werden sich in dir versammeln
und den Herrn lobpreisen!
(aus Tobit 13,9-18 –
vgl. im kirchlichen Stundengebet das AT-Canticum
in der Laudes der 4. Woche)

Und in der 1. Schriftlesung dieses Sonntags ist dem Abschnitt aus dem Evangelium ein Abschnitt aus dem Jesaja-Buch zugeordnet, dessen Perspektive ganz von Gottes liebendem Blick auf die Menschen aus allen Völkern bestimmt ist:

Vorausgegangen ist da – zur Korrektur aller entgegengesetzten Auffassungen gegenüber den Fremden – :

So spricht der Herr:
Der Fremde, der sich dem HERRN angeschlossen hat,
soll nicht sagen: Sicher wird er mich ausschließen …

Und der Lesungsabschnitt im Gottesdienst macht klar:

Die Fremden, die sich dem HERRN anschließen, …
werde ich zu meinem heiligen Berg bringen
und sie erfreuen
in meinem Haus des Gebets.
Denn mein Haus
wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden.
(Jesaja 56, 1.6-7)

Und was da gemeint ist mit „sich dem HERRN anschließen“, was sein „Gefallen findet“, ist näher beschrieben mit den Worten

… ihm dienen,
den Namen des HERRN lieben,
seine Knechte sein,
… den Sabbat halten …
… an meinem Bund festhalten, …
… ihre Opfer … auf meinem Altar …

Und diese Aussagen in der Bibel legen nahe: Das ist nicht nur Gottes Haltung gegenüber den Fremden, sondern auch die all derer, die ihn lieben – für die das also ursprünglich erst einmal gedacht ist: Sie werden sich mit Gott daran erfreuen!

Auch in der 2. Lesung des Sonntags bezeugt der Apostel Paulus diese Einstellung in seinem Brief an die Christengemeinde in Rom. Zu der gehörten viele Menschen, die keine Juden waren, also als Heiden galten. Und er betont seine Herkunft als Jude, also als Glied des alten Gottesvolkes, dem allein das zugesagte Heil erst einmal gegolten hatte. Er ist glücklich darüber, der universalistischen Perspektive von Gottes Heilswillen auch unter den Nichtjuden dienen zu dürfen:

Euch, den Heiden, sage ich:
Gerade als Apostel der Heiden
preise ich meinen Dienst …
(Römer 11, 13-15.29-32)

Die alte Verheißung gilt: Die Völker werden kommen …

Damit konfrontiert sieht sich Jesus durch die Frau im Gebiet von Tyrus und Sidon. Und er lässt sich darauf ein. Er gibt dem Geist Raum, der aus der heidnischen, kanaanäischen Frau spricht und ihn an Gottes Perspektive erinnert.

Für Menschen heute, die sich an Jesus orientieren, für Christen, für „Kirche“ kann diese Botschaft nicht ohne Auswirkungen bleiben in ihrem Verhalten gegenüber Fremden unserer Tage.

Da tun sich viele Fragen auf.

 

Wenn Sie sich dazu weiter anregen lassen wollen, finden Sie hier mein Brain-storming zum Phänomen „fremd“: unverarbeitete Stichworte, vielleicht tauglich als Impulse für eine weitere Auseinandersetzung.

Hier können Sie meinen Beitrag weiter empfehlen: