Blogbeitrag

Bild von Janja Košuta Špegel auf Pixabay

Geteilter Liebeskummer

5. Oktober 2023

Sonntagsbotschaft zum 8. Oktober 2023, dem 27. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A).

„Das Evangelium vom Sonntag lässt mir keine Ruhe.“ So hatte Francesca uns in der WhatsApp-Gruppe geschrieben. Auch von anderen Menschen hatte ich diese Beunruhigung gehört. Das war vor drei Jahren.

Sind wir seit Corona feinfühliger geworden, um zu unterscheiden, was fürs Leben brauchbar ist und was nicht? Gibt es eine neue Suche nach Zusammenhängen zwischen „Zeichen der Zeit“, die wir wahrnehmen, und dem, was Gottes Absichten dazu sein mögen?

Viele Bibelabschnitte – so scheint mir – , die seit Jahrhunderten diesen letzten Sonntagen des Kirchenjahres zugeordnet werden, streben nach einer Antwort auf die beunruhigenden Fragen der Zeit. Gibt es da von Gott eine gute Botschaft – also ein „Evangelium“ – , die den Weg weisen kann – uns einzelnen Menschen wie auch der ganzen Menschheit?

Der erste Bibelabschnitt, um den es an diesem Sonntag geht, hat die Gestalt eines Liebesliedes. So kündigt es die Bibel selber an: als „das Lied vom Liebesleid meines Freundes über seinen Weinberg“.

Ich will singen
von meinem Freund,
das Lied meines Liebsten
von seinem Weinberg.

Und am Ende wird unmissverständlich gesagt, was mit den Bildern dieses Liedes gemeint ist:

Der Weinberg des HERRN der Heerscharen
ist das Haus Israel
und die Männer von Juda
sind die Pflanzung seiner Lust.

Seit der Erzählung von Gottes Neubeginn mit Noach im Buch Genesis (Gen 9,20) bedeutet der Weinberg in der Bibel so etwas wie der Inbegriff vom Sinn jeder menschlichen Arbeit – von ihrem Sinn, dem lohnenden und lebensdienlichen und zugleich von ihrem verletzlichen, also aufmerksam zu beachtenden Sinn – vergleichbar einer nostalgischen Vision vom Garten Eden, vom Paradies erfüllten Lebens, wie es Gott für den Menschen eigentlich vorschwebt.

Jesus setzt daran wiederholt in seinen Gleichnissen vom Reich Gottes an, etwa im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg und von ihrem Lohn, der sich nach ihrem Bedarf richtet (Mt 20). Im Bild vom Weinberg des Herrn ist in der Bibel immer wieder die Rede vom Lebensraum für Gottes Volk. Und dabei klagt Gott oft über die „Hirten“, weil sie seinen Weinberg verwüsten (z.B. Jeremia 12,10). Das wird Jesus im Evangelium dieses Sonntags aufgreifen.

Jetzt erst einmal der Text des Liedes, in das die Bibel Gottes Kummer fasst:

Mein Freund hatte einen Weinberg
auf einer fruchtbaren Höhe.
Er grub ihn um
und entfernte die Steine
und bepflanzte ihn mit edlen Reben.
Er baute in seiner Mitte einen Turm
und hieb zudem eine Kelter in ihm aus.
Dann hoffte er,
dass der Weinberg Trauben brächte,
doch er brachte nur faule Beeren.
Und nun, Bewohner Jerusalems
und Männer von Juda,
richtet zwischen mir und meinem Weinberg!
Was hätte es für meinen Weinberg
noch zu tun gegeben,
das ich ihm nicht getan hätte?
Warum hoffte ich, dass er Trauben brächte?
Und er brachte nur faule Beeren!

Was für eine schmerzhaft enttäuschte Liebe!

Jetzt aber will ich euch kundtun,
was ich mit meinem Weinberg mache:
seine Hecke entfernen,
sodass er abgeweidet wird;
einreißen seine Mauer,
sodass er zertrampelt wird.

Domestizierter Zorn des schmerzhaft zurückgewiesenen Liebhabers bricht sich hier Bahn in der disziplinierten Gestalt des Liedes. Leider überliefert die Bibel ja dazu nicht die Melodie, auf die es zu singen sei. So erleidet es das irreführende Schicksal einer moralisierenden Drohung:

Zu Ödland will ich ihn machen.
Nicht werde er beschnitten,
nicht behackt,
sodass Dornen und Disteln hochkommen.
Und den Wolken gebiete ich,
keinen Regen auf ihn fallen zu lassen.

Und dem Autor, der das Lied in das biblische Buch des Propheten Jesaja eingefügt hat, ist es offensichtlich wichtig, klar zu benennen, was Gott hier eigentlich beklagt:

Der Weinberg des HERRN der Heerscharen
ist das Haus Israel
und die Männer von Juda
sind die Pflanzung seiner Lust.
Er hoffte auf Rechtsspruch –
doch siehe da: Rechtsbruch,
auf Rechtsverleih –
doch siehe da: Hilfegeschrei.
(Jesaja 5,1-7)

Gottes Lust war es, die Menschen so zu einem Volk zusammenzufügen, dass da alle zu ihrem Recht kommen. Was muss er aber sehen? Rechtsbruch und Hilfeschreie! In seinem geliebten Volk geht es zu wie überall! Was soll er da nur machen?!

Die Logik von Gottes Liebe zu den Menschen, wie die Bibel sie verkündet, verlangt dann eben danach, dass Gott selber unter die Menschen geht, damit ihnen die Augen aufgehen und sie verstehen. Das bringt Jesus in das Gleichnis, das an diesem Sonntag zum Evangelium werden will.

Mit Hilfe des Gleichnisses will Jesus im Tempelvorhof von Jerusalem die Hohepriester und Ältesten aufrütteln, die meinen, Gottes Weinberg gepachtet zu haben. Dass sie das Lied vom Weinberg aus dem Jesaja-Buch kennen, davon darf er ausgehen:

Es war ein Gutsbesitzer,
der legte einen Weinberg an,
zog ringsherum einen Zaun,
hob eine Kelter aus
und baute einen Turm.
Dann verpachtete er den Weinberg an Winzer
und reiste in ein anderes Land.
Als nun die Erntezeit kam,
schickte er seine Knechte zu den Winzern,
um seine Früchte holen zu lassen.
Die Winzer aber packten seine Knechte;
den einen prügelten sie,
den andern brachten sie um,
wieder einen anderen steinigten sie.

Anstelle von „Trauben“ bringt der Weinberg Rechtsbruch, Gewalt, Hilfegeschrei, Tod!

Darauf schickte er andere Knechte,
mehr als das erste Mal;
mit ihnen machten sie es genauso.
Zuletzt sandte er seinen Sohn zu ihnen;
denn er dachte:
Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben.
Als die Winzer den Sohn sahen,
sagten sie zueinander:
Das ist der Erbe.
Auf, wir wollen ihn umbringen,
damit wir sein Erbe in Besitz nehmen.
Und sie packten ihn,
warfen ihn aus dem Weinberg hinaus
und brachten ihn um.

Noch kapieren die mit dem Gleichnis Angesprochenen offensichtlich nicht, dass mit den „Winzern“ sie gemeint sind, mit den „Knechten“ die biblischen Propheten, die von ihren Vorgängern umgebracht worden waren, und mit dem „Sohn“ Jesus selbst. Noch können sie unbefangen der Logik des Gleichnisses folgen, ohne zu merken, welches Urteil sie gleich über sich selber fällen werden:

Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt:
Was wird er mit jenen Winzern tun?
Sie sagten zu ihm:
Er wird diese bösen Menschen vernichten
und den Weinberg an andere Winzer verpachten,
die ihm die Früchte abliefern, wenn es Zeit dafür ist. …
(Matthäus 21,33-42.44.43)

Es dauert nicht lange, bis sie zähneknirschend verstehen, was Jesus ihnen da zumutet – noch dazu in der Öffentlichkeit des Tempelvorhofs. Denn gleich im Anschluss wird es heißen:

Als die Hohepriester und die Pharisäer
seine Gleichnisse hörten,
merkten sie, dass er von ihnen sprach.
Sie suchten ihn zu ergreifen;
aber sie fürchteten die Menge,
weil sie ihn für einen Propheten hielt.
(Matthäus 21,45)

Das Gespür für den Gott, dem es das Herz zerreißt, wenn er sieht, was aus seinem „Weinberg“ geworden ist, dieses Gespür haben sie völlig verloren.

Gottes Liebeskummer um den Menschen wird nur von denen geteilt werden können, die – dank Jesus – Gott neu kennengelernt haben und mit ihm gemeinsam den Traum vom fruchtbaren Weinberg umsetzen zum Lebensinhalt und zur Orientierung für ein menschliches Leben in Fülle.

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