Blogbeitrag

Rembrandt (Eremitage 2008)

Im Namen des Menschen

24. März 2022

Sonntagsbotschaft zum 27. März 2022, dem 4. Fastensonntag (Lesejahr C). 

Im Namen des Menschen, der Gottes Hingabe an uns bis in den Tod hinein verkörpert hat!

Darf ich das so sagen? Und mich und was ich sage, mit seinem Kreuz bezeichnen? Jesus als Anwalt der Humanität? Von Gott bezahlt mit seinem Leben?

„Humanität“ hat in unserer – vielleicht doch ziemlich christlich geprägten – Kultur einen hohen Kurs. Jedenfalls als Wort. Oder als „Wert“? Auch in unserm Alltag und in der realen Politik?

Ja, sogar in einer Politik, die sich gegen geflüchtete Menschen abschottet, gibt es ein „humanitäres Aufenthaltsrecht“. Sogar in diesem inhumanen Krieg gibt es „humanitäre Korridore“.

„Humanität“ begründet Ausnahme-Regelungen. Unsere Welt ist sich anscheinend bewusst, dass in ihren Normalfällen, in ihren Regel-Fällen andere Bestrebungen Vorrang haben. Einig – so scheint mir – sind sich aber alle, dass in der menschlichen Gesellschaft der „Humanität“ eigentlich höchster Stellenwert zukommt und alles „im Namen des Menschen“ zu regeln sei. Nur wie?!

Zwar nimmt die Zahl derer ab, die sich von einem Gottesdienst eine wegweisende Anregung für ihre Meinungsbildung erwarten. Aber zur Orientierung Klärendes beizutragen, das trauen weiterhin viele der Bibel durchaus zu – wenn nur freigelegt wird, was die Bibel und der, der durch sie spricht, wirklich sagen will.

Liegt vielleicht etwas dafür Hilfreiches in dem Gleichnis „vom verlorenen Sohn“ – unter diesem Namen ist es ja immer noch den meisten Menschen bekannt – , das an diesem Sonntag zum „Evangelium“ werden will?

Worum geht es eigentlich in diesem Gleichnis? Warum und wozu steht es in der Bibel?

Der Text sagt: Die Pharisäer und die Schriftgelehrten hatten sich empört: Jesus nimmt Sünder auf und isst auch noch mit ihnen! In der Tat, unmittelbar davor hatte es geheißen – wahrscheinlich in einer übertreibenden Verallgemeinerung – : Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören.

Die sogenannten „Zöllner“ trieben bei der einheimischen Bevölkerung für die römische Besatzungsmacht Steuern in bedrückender Höhe ein. Darüber hinaus galten sie als Betrüger, die ihre Funktion dafür nutzten, auf Kosten ihrer Volksgenossen sich die eigenen Taschen zu füllen.

Um solche Menschen machte man einen Bogen. Ebenso auch um alle anderen, die unangepasst gegen alle möglichen Regeln von Anstand, von Sitte und Moral verstießen und sich an Tradition und Religion versündigten.

Den Pharisäern – heute würde man vielleicht sagen „den frommen Ultraorthodoxen“ – und den in der Bibel Gelehrten war das wichtig. Sie selber bemühten sich sehr, alle Regeln einzuhalten, und boten alle ihre Möglichkeiten dazu auf, im ganzen Volk entsprechend Einfluss zu nehmen. Alles spirituelle und moralische Vermögen, das die Menschen seit Generationen zu Gottes Volk geeint hatte, musste als Erbe hoch geschätzt werden, schon gar in dieser schweren Zeit! Sie sind überzeugt, in Gottes Namen und nach seinen Geboten und nach seinem Willen so zu handeln. Deswegen empören sie sich über Jesus.

Denn er, der doch alles unter Berufung auf Gott sagt und tut, hält es ganz anders: Statt solche „Sünder“ durch Abstandhalten die Minderwertigkeit ihres Verhaltens spüren zu lassen oder wenigstens ihnen ins Gewissen zu reden, verführt dieser Jesus das Volk dazu, alles heilige Erbe zu verschleudern.

Ja, bei den „Sündern“ hat es sich schon herumgesprochen, dass Jesus sich durchaus mit ihnen an einen Tisch setzt und sogar mit ihnen isst, so dass man gerade in den normalerweise verfemten Kreisen der „Zöllner und Sünder“ neugierig auf ihn geworden ist.

Eine Spannung voller Brisanz liegt in der Luft. Und jetzt ergibt sich – die näheren Umstände werden leider nicht genannt – eine Begegnung mit denen, die Jesus und seine Haltung bekämpfen und ihn am liebsten ausschalten wollen.

Jesus nutzt die Gelegenheit, um mit seinen Gegnern ins Gespräch zu kommen. Er möchte sie dazu bewegen, in den sogenannten „Sündern“ durchaus ihre Brüder zu erkennen und sich mit ihnen gemeinsam als Söhne einem und demselben Vater-Gott verbunden zu wissen, der in Liebe für sie alle das Gute herbeiführt.

Jesus hält ihnen keinen Vortrag darüber und warum er sich so verhält. Er belehrt sie nicht über ihr verkehrtes Gottesbild. Stattdessen – feinfühlig, wie er sich in Gottes Namen auch ihnen zuwendet, und in der Hoffnung, ihr Herz zu gewinnen für Gottes ganz andere Art der Humanität – , verdichtet er, was er ihnen sagen will, zu einer bildhaften Erzählung und malt ihnen dieses Gleichnis:

Ein Mann hatte zwei Söhne.
Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater:
Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht!
Da teilte der Vater das Vermögen unter sie auf.
Nach wenigen Tagen
packte der jüngere Sohn alles zusammen
und zog in ein fernes Land.
Dort führte er ein zügelloses Leben
und verschleuderte sein Vermögen.
Als er alles durchgebracht hatte,
kam eine große Hungersnot über jenes Land
und er begann Not zu leiden.
Da ging er zu einem Bürger des Landes
und drängte sich ihm auf;
der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten.
Er hätte gern seinen Hunger
mit den Futterschoten gestillt,
die die Schweine fraßen;
aber niemand gab ihm davon.
Da ging er in sich und sagte:
Wie viele Tagelöhner meines Vaters
haben Brot im Überfluss,
ich aber komme hier vor Hunger um.
Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen
und zu ihm sagen: Vater,
ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.
Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein;
mach mich zu einem deiner Tagelöhner!
Dann brach er auf und ging zu seinem Vater.

In einer Veranstaltung heutiger religiöser Erwachsenenbildung würde Jesus an dieser Stelle vielleicht unterbrechen und seine Zuhörer auffordern, sie sollen doch mal die Fortsetzung der Erzählung selber versuchen: Was geschieht jetzt, wenn er beim Vater ankommt – bei seinem früheren Vater, dessen Anerkennung als Sohn er sich ja hat in Geld umtauschen lassen?

Ein Pharisäer oder ein Schriftgelehrter, der eine solche Chance nutzen wollte, Jesus eine Lehre zu erteilen, wüsste sehr wohl, die Verantwortung eines Patriarchen in Szene zu setzen, der für die Aufrechterhaltung von Religion und Moral in den nächsten Generationen Sorge trägt. Falls er zugleich einen Sinn hat für einen Gott, der nicht nur Gebote gibt, sondern auch ein gutes Herz hat für die Menschen, malt er vielleicht ein Bild vom Vater, der ihn voller Mitleid aufnimmt – als einen seiner Tagelöhner – in eine Art „Fegefeuer“, bis er alles abgebüßt hat.

Rembrandt, der berühmte Maler des 17. Jahrhunderts, ging einen Schritt weiter: „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“ heißt sein bekanntes Gemälde. Die Hände des Vaters machen deutlich: Das sind die liebevollen Hände von Mutter und Vater, unter denen der Arme geborgen wird – in zerschlissener Kleidung und mit von den Füßen gefallenen Sandalen – nicht als Tagelöhner, als Sohn!

Generationen von Menschen hat dieses Gleichnis schon fasziniert. Allerdings – wie es volkstümlich überliefert wurde – in Familie und Katechese in „biblischer Geschichte“, – war es immer eingebettet in eine durchgängig von patriarchalen Machtverhältnissen geprägte Vorstellungswelt. Da konnte bereits ein solches Bild mit seiner Aussagekraft von einem so barmherzigen Vater zu Tränen rühren.

Aber die Frage stellt sich: Stimmt das Bild von Rembrandt mit seiner Vorstellung von der Wiederaufnahme des Sohnes – wie wohl auch die meisten der Menschen bis heute sich das vorstellen – stimmt das wirklich überein mit der Fortsetzung der Erzählung, wie Jesus sie im Evangelium bringt? Womit er das Wesentliche seines Verhaltens illustriert, womit er Gottes ganz andere Humanität verkörpert?

Der Vater sah ihn schon von Weitem kommen
und er hatte Mitleid mit ihm.
Er lief dem Sohn entgegen,
fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
Da sagte der Sohn zu ihm: Vater,
ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt;
ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.
Der Vater aber sagte zu seinen Knechten:
Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an,
steckt einen Ring an seine Hand
und gebt ihm Sandalen an die Füße!
Bringt das Mastkalb her und schlachtet es;
wir wollen essen und fröhlich sein.
Denn dieser, mein Sohn, war tot und lebt wieder;
er war verloren und ist wiedergefunden worden.
Und sie begannen, ein Fest zu feiern

Der Vater ist ganz aus dem Häuschen vor Freude! Schon von weitem sieht er ihn kommen. Als wenn er schon immer nur sehnsüchtig nach seiner Rückkehr Ausschau gehalten hätte! Die Füße nimmt er unter die Arme und rennt los. Wo bleibt seine Würde als orientalischer Familienpatriarch, die ihm sowas verbietet? Egal! Und auf eine misstrauische Idee kommt er erst gar nicht, der Sohn könnte ja vielleicht zurückkommen mit der Forderung einer Nachzahlung und dem Vorwurf, der Vater hätte ihn betrogen und ihm zu wenig mitgegeben. „Mein Sohn ist wieder da!“

Vor ihm auf die Knie niederfallen will der Sohn. Aber er kommt gar nicht dazu. Der Vater, der ihm entgegenrennt, fällt ihm um den Hals, hält von Anfang an Augenhöhe mit ihm!

Seine Schuld will er ihm reumütig bekennen und um die Gnade bitten, als Tagelöhner bei ihm arbeiten zu dürfen. Aber der Vater fällt ihm ins Wort; in alle Richtungen ruft er, sie sollen schnell das große Fest seiner Rückkehr in die Wege leiten!

Kein erhobener Zeigefinger, offene Arme und Freudentaumel! Kein Moralisieren: Siehste, du hättest doch … Du bist wieder da!

Aber – nicht zu vergessen, wem Jesus mit welcher Absicht dieses Gleichnis erzählt:

Sein älterer Sohn aber war auf dem Feld.
Als er heimging und in die Nähe des Hauses kam,
hörte er Musik und Tanz.
Da rief er einen der Knechte
und fragte, was das bedeuten solle.
Der Knecht antwortete ihm:
Dein Bruder ist gekommen
und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen,
weil er ihn gesund wiederbekommen hat.
Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen.
Sein Vater aber kam heraus
und redete ihm gut zu.
Doch er erwiderte seinem Vater:
Siehe, so viele Jahre schon diene ich dir
und nie habe ich dein Gebot übertreten;
mir aber hast du nie einen Ziegenbock geschenkt,
damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte.
Kaum aber ist der hier gekommen,
dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat,
da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet.
Der Vater antwortete ihm:
Mein Kind, du bist immer bei mir
und alles, was mein ist, ist auch dein.
Aber man muss doch ein Fest feiern und sich freuen;
denn dieser, dein Bruder, war tot
und lebt wieder;
er war verloren
und ist wiedergefunden worden.

Hoffentlich erkennen sich die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ in diesem braven älteren Sohn wieder – und wie Jesus, der den Vater verkörpert, sich werbend um sie bemüht! Kann er sie zur Umkehr bewegen?

Welchem Lebensglück verschließt sich der ältere Sohn in dem Gleichnis! Sieht er sich eigentlich noch als „Sohn“? Wenn er sich doch nur mit dem Vater wieder ver-Söhn-en ließe! Die Pharisäer und nicht nur sie , wenn sie doch ihren Neid fahren lassen könnten und ihre Angst, ein solcher Gott bringe alle Ordnung unter den Menschen in Gefahr! Wenn sie sich doch nur mit dem Gott, der sich in Jesus zeigt, wieder ver-Söhn-en ließen! Stattdessen werden sie ihn ans Kreuz bringen. In Gottes Namen unter Berufung auf seine Gebote!

Für Jesus sind die sogenannten „Zöllner und Sünder“ der „jüngere Sohn“ in seinem Gleichnis. Er selber verkörpert den Vater, dessen menschenliebender Blick schon von weitem den Sohn sieht und dessen Elend ihm zu Herzen geht.

Das ist derselbe Gott, der am Dornbusch schon dem Mose sagt: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen; jetzt führe ich sie da raus – gegen den mächtigen Widerstand des hartherzigen Pharao.“ (vgl. Exodus 3)

Es ist derselbe Gott, von dem der Psalmen-Sänger voller dankbarer Freude seine Erfahrung mit ihm hinausruft:

„In meiner Not schrie ich zum Herrn.
Da neigte er den Himmel und fuhr herab,
fasste mich und riss mich heraus aus gewaltigen Wassern,
entriss mich meinen mächtigen Feinden!“
(vgl. Psalm 18)

Den Gott, der vom Himmel herabfährt und sie herausreißt aus ihrer Not, den erfahren „die Zöllner und Sünder“ mit Jesus.

Ich selber sehe mich weit entfernt davon, im Detail zu verstehen und sagen zu können, wie Gott auf solche Weise heute handeln und uns führen will. Gerade angesichts des aktuellen Elends des barbarischen Krieges oder der drohenden Klimakatastrophe oder oder …

Aber in meinem Leben und auch in meinem Horizont habe ich selber die Erfahrung mit diesem rettenden Gott gemacht.

Und auch wenn ich verstanden habe, wie Jesus unter uns wirken will, muss ich ja nicht auch praktische Lösungen beschreiben können. Es gibt so viele Menschen mit ihren jeweils eigenen Fähigkeiten und Einsichten, jeder mit seinem Charisma. Wenn wir uns austauschen und ergänzen, werden wir den Weg erkennen. Hauptsache, wir wiederholen nicht die Engherzigkeit der damaligen „Schriftgelehrten und Pharisäer“ und halten uns frei von einer Haltung, die schon Psalm-Dichter in Gottes Namen beklagen:

„Vierzig Jahre war mir dieses Geschlecht zuwider
und ich sagte: Sie sind ein Volk, dessen Herz in die Irre geht,
sie kennen meine Wege nicht.“
(Psalm 95,10)

Oder:

„Mein Volk hat nicht auf meine Stimme gehört;
… hat mich nicht gewollt.
Da überließ ich sie ihrem verstockten Herzen.“
(Psalm 81,12-13)

Und jetzt redet Gott durch Jesus (vgl. Hebr 1,1-2), durch alles, was er sagt und wie er handelt. Für das alles steht er mit seinem ganzen Leben ein. Der Sohn Gottes!, den Christen in diesem Menschen erkennen.

Aber zu einer solchen göttlichen Haltung von Humanität stehen die „Pharisäer und Schriftgelehrten“ in unversöhnlichem Gegensatz: Eine solche umfassende große Transformation „wirft ja alle Werte über den Haufen“ und wäre ein nicht zu verantwortendes, realitätsfernes „appeasement“ gegenüber „Zöllnern und Sündern“. Meinen sie.

Beeindruckend finde ich das Gespür, mit dem die liturgische Ordnung für diesen Sonntag dem Gleichnis und dem, was Jesus damit sagen will, einen Abschnitt aus einem der Briefe des Apostels Paulus zuordnet:

… Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.
Aber das alles kommt von Gott,
der uns durch Christus mit sich versöhnt
und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat.
Ja, Gott war es, der in Christus
die Welt mit sich versöhnt hat,
indem er den Menschen
ihre Verfehlungen nicht anrechnete
und uns das Wort von der Versöhnung
zur Verkündigung anvertraute.
Wir sind also Gesandte an Christi statt,
und Gott ist es, der durch uns mahnt.
Wir bitten an Christi statt:
Lasst euch mit Gott versöhnen!
(2 Korinther 5,17-20)

Wenn wirklich Ostern werden soll, werden wir dieser Herausforderung schwerlich aus dem Wege gehen können!

Lob dir, Christus, König und Erlöser!
Hört auf die Stimme des Herrn:
Er hat uns das Wort von der Versöhnung
zur Verkündigung anvertraut.

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