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Kulturwandel

8. Juni 2023

Sonntagsbotschaft zum 11. Juni 2023, dem 10. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A). 

Damals
sah Jesus einen Mann namens Matthäus
am Zoll sitzen.

Jesus sieht die konkrete Person. Und er sieht, in welcher armseligen Situation Matthäus sich mit seinem Leben befindet: Er ist ein „Zöllner“! Ein Steuereintreiber für die Besatzungsmacht! Diese Zöllner galten im Volk als geradezu krankhaft unsolidarische Typen. Ihre Macht als „Zöllner“ missbrauchten sie dazu, ihre eigenen Landsleute übermäßig auszubeuten und damit auch noch skrupellos in ihre eigene Tasche zu wirtschaften.

Jesus sagte zu ihm:
Folge mir nach!

Eine sehr knappe Zusammenfassung für das, was da geschieht, wie Jesus dem Matthäus begegnet. Wer hinhört, was diese Erzählung sagen will, soll offensichtlich einfach hören: Jesus will den Matthäus dazu bewegen, von seiner Tätigkeit als Zöllner aufzustehen. Offen bleibt erst mal, ob das eine werbende Einladung ist oder so etwas wie ein mit Anspruch auf Gehorsam gegebener Befehl … Offen bleibt auch anscheinend, ob Jesus dieses „Komm mit mir!“ sagt, weil er dem Matthäus etwas zeigen will, oder ob er ihn von der Zollstelle wegholen will, vielleicht um ihm etwas unter vier Augen zu sagen.

In der Bibel und im damaligen jüdischen Sprachgebrauch ist allerdings dieser Ausdruck „folge mir nach“ ein feststehender Begriff. Damit beruft Jesus den Matthäus in den Kreis derer, die mit ihm gehen – wie ein Rabbi, ein Glaubens- und Lebenslehrer, der jemanden in den Kreis seiner „Follower“, seiner Jünger aufnimmt. Und ähnlich wie die Bibel von Jesus erzählt, der Fischer beruft, ihm zu folgen, die dann ihre Tätigkeit als Fischer aufgeben, so ist sicher davon auszugehen, dass diese Berufung des Matthäus ebenso bedeutet, seine Tätigkeit als Zöllner jetzt aufzugeben, um mit Jesus gehen zu können. Ein erheblicher Eingriff in Lebensstil und Lebensplanung des Matthäus. Ob er das mitmacht?

Und Matthäus stand auf
und folgte ihm nach.

Matthäus trifft eine Entscheidung über seinen weiteren Lebensweg. Auch hier nur knapp zusammengefasst erzählt. Wie und warum und in welchem Tempo, das lässt der Erzählstil im Dunkeln, ist anscheinend unwichtig und braucht nicht zu interessieren. Vielleicht weil es da eh für hundert verschiedene Personen hundert verschiedene Wege gibt.

Und von dem, was dann folgt, greift der Evangelist einen konkreten Punkt auf. Damit führt er uns, die das hören oder lesen, sofort mitten hinein in die Herausforderung, sich auseinanderzusetzen mit Jesus und mit seinem Verständnis von Gott und der Welt. Eigentlich greifen diese Worte bis unmittelbar in mein eigenes Leben hinein mit der Frage, wo ich mich in dieser Erzählung verorte.

Und als Jesus in seinem Haus bei Tisch war,
siehe, viele Zöllner und Sünder kamen
und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern.
Als die Pharisäer das sahen,
sagten sie zu seinen Jüngern:
Wie kann euer Meister
zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?

Viele kommen zu Jesus. Wie er mit Menschen umgeht, das hat sich wohl herumgesprochen.

Die Erzählung wirft „Zöllner“ und „Sünder“ in einen Topf! Was ist ihnen gemeinsam? Vielleicht die Verachtung, der sie überall begegnen, und ihre Ausgrenzung. Die „Aussätzigen“ fehlen hier vielleicht nur, weil sie sowieso aus dem Ort ausgesperrt waren.

Gespalten war die Gesellschaft in die, die „dazugehören“, und die, die von jeglicher Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und aus der religiösen Gemeinschaft sowieso exkommuniziert waren.

Und mit solchen Leuten umgibt sich Jesus. Er isst sogar mit ihnen! Im damaligen Orient noch viel stärker als für unsereins heute ein Ausdruck für Verbundenheit, Wohlwollen und Gemeinschaft. Dieser Tage las ich in der Zeitung: Fürs Gespräch zur Vermittlung zwischen Serben und Kosovaren setzten sich die Kontrahenten nicht „an einen Tisch“, sondern trafen sich zu getrennten Gesprächen mit den Vermittlern. Jesus aber isst sogar mit den Zöllnern und Sündern! Das erregt bei den Pharisäern Ärgernis.

Jesus nimmt das zum Anlass. Er macht deutlich: Diese Spaltung, unter der viel zu viele Menschen zu leiden haben, ist genau der Zusammenhang, in den er sich von Gott gerufen weiß, um heilende Veränderung zu bringen.

Jesus hörte es
und sagte:

Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes,
sondern die Kranken.

Geht und lernt,
was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!

Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen,
sondern Sünder.

(Matthäus 9,9-13)

Mit diesen drei Worten aus dem Mund von Jesus fasst das Evangelium hier knapp zusammen Sinn und Zweck seines Handelns, Sehnsucht und Ziel, was Jesus mit seinem Tun unter den Menschen bewirken will:

Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes,
sondern die Kranken.

Er lässt sich auf die Zweiteilung ein, mit der seine Kontrahenten die Menschen unterscheiden.

Da sind auf der einen Seite die Menschen, die sich an die überlieferte Ordnung halten. Es ist die Ordnung, die einzuhalten und zu pflegen als sinnvoll und notwendig gilt. Denn ein Leben gemäß dieser Ordnung in Stadt und Volk, in Kultur und Religion gewährleistet ein gutes Leben für alle. Vielleicht zu vergleichen mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Deutschland oder auch mit der Charta der Vereinten Nationen. Diese Ordnung gilt als allen vorgegeben.

Die Pharisäer verstehen sich als konsequente Hüter dieser Ordnung. Gemeinsam mit der überlieferten Bibel erkennen sie sie an als von Gott gegeben und beanspruchen in allem, was sie zum Schutz der Ordnung tun, die entsprechende Anerkennung ihrer Autorität. Die Menschen, die sich in ihrem Verhalten von ihr leiten lassen, finden bei ihnen Wohlgefallen. Und von jemandem, der – wie Jesus – Gott und sein Reich verkündet, von dem erwarten sie besonders, dass er auch bei den anderen Menschen für das Einhalten dieser Ordnung sorgt.

Eine solche Haltung gegenüber der Ordnung und Menschen, die danach handeln, bezeichnet Jesus als „gesund“. Hier liegt die mit seinen Kontrahenten gemeinsame Basis, die er mit diesem Wort ausdrücklich aufgreift.

Den sogenannten „Gesunden“ gegenüber stehen die „Zöllner und Sünder“. Die Pharisäer grenzen sie pauschal aus und behandeln sie als zum Gemeinwesen „nicht dazugehörend“. Mit solchen setzt man sich nicht an einen Tisch!

Von dieser polarisierenden Sichtweise, die die Menschen schwarz-weiß in gute und böse sortiert, setzt Jesus sich ab. Eine andere Sichtweise stellt er seinen Kontrahenten entgegen: Wenn zwischen den „Gesunden“ und den „Zöllnern und Sündern“ eine Situation feindseliger Ausgrenzung besteht, dann sollten doch logischerweise alle, die dazu in der Lage sind, dafür Sorge tragen, dass die Beziehung zwischen den verärgerten „Gesunden“ und den ausgegrenzten „Nicht-Gesunden“ geheilt wird! Dann möge die Umwelt doch denen, die als „krank“ gelten, so begegnen wie ein guter Arzt, der alles in Bewegung setzt, damit sie wieder am gesellschaftlichen Leben barrierefrei teilhaben können.

Jesus fängt damit an.

Vorsicht – hier lauert eine Gefahr: Diese Sichtweise wird gerne verdreht und verfälschend missbraucht. Wir sind es gewohnt zu „wissen“, wo die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ liegt. Wer dabei aber die eigene Sichtweise zur absoluten Wahrheit erklärt und deshalb – gar „großzügig“ – die von ihr abweichenden Menschen einer Konversionstherapie unterziehen will, der dürfte selbst nicht mehr den „Gesunden“ zuzuordnen sein.

Wofür Jesus steht, das umfasst alle und ihre Beziehung zueinander. Er will der „Arzt“ sein, der nicht nur die einen dessen beraubt, was nach Urteil der Anderen „krankhaft“ ist. Er wendet sich auch der „Krankheit“ derer zu, die unter Berufung auf die „Ordnung“ alle die ausgrenzen, die davon abweichen. Er heilt die kaputte, polarisierte Beziehung zwischen den sogenannten „Gesunden“ und den sogenannten „Zöllnern und Sündern“.

Die pflichtgemäße Unterwerfung unter die Ordnung, für deren Einhaltung es Opfer zu bringen gelte, tritt für Jesus zurück. Vorrang hat für ihn der Mensch, dem auch die heiligste Ordnung zu dienen hat. Gerade weil er den Umgang mit der Ordnung heilen will, fängt er an mit seinem barmherzigen Blick für den Menschen und auf das, worunter er leidet.

Und für diese Sichtweise, für diese Haltung beruft er sich auf Gott, von dem er sich dazu berufen weiß:

Geht und lernt,
was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!

Ein Zitat aus dem Buch des Propheten Hosea. Und die Kirche hat das – ganz offiziell – gut verstanden. Deshalb ist auch die Quelle für dieses Zitat als erste Schriftlesung dieses Sonntags vorgesehen.

Mit dem letzten der drei Sprüche, die der Evangelist hier zusammenstellt, wirft Jesus sein Licht auf den Sinn der Kontroverse mit den Pharisäern, die darauf bestehen, dass Gott nur die sogenannten „Gesunden“, die Gerechten in seine Nähe holt:

Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen,
sondern Sünder.

Und deshalb geht er zu Leuten wie Matthäus und sagt „Folge mir nach!“

Wahrscheinlich können Menschen dann besonders überzeugend und wirksam sich diesem anderen Leben und dem Geist von Jesus aktiv anschließen, wenn sie selber die befreiende Erfahrung gemacht haben, aus dem Schlamm gezogen und gerettet worden zu sein, geheilt worden zu sein aus leidvollem Unheil und wenn sie darin die Begegnung mit Gottes Liebe erkannt haben.

Also – wer sind die „Zöllner und Sünder“ von heute? – in den Augen der „Mächtigen“? in den Augen der Mehrheit im Volk? in den Augen der „Kirche“? Wo herrscht bei uns vereinfachendes Schwarz-Weiß-Denken? Wo findet eine problematische Polarisierung statt?

Sollen wir jetzt etwa alle zu Putin-Verstehern werden?
zu Terroristen-Verstehern?
zu Täter-Befreiern?

Langsam! Durch vorschnelle, populistische Einwände riskiert man, das Kind mit dem Bad auszuschütten!

Übrigens – mit einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen ist für die Gottesdienste dieses Sonntags nach dem Bibelabschnitt aus dem Hosea-Buch als Antwort der Psalm 50 vorgesehen. Der konfrontiert aus Gottes Mund die sogenannten „Gesunden“ mit ihrer Art, wie sie Gottesdienst feiern: „für Gott“ Opfer bringen, die er nicht braucht, und dann nicht dem Gott dienen, der für die Menschen da sein will. Die Kernaussage des Psalms, welcher erste Schritt zu echt anbetendem Gottesdienst führen wird:

Ruf mich an am Tag der Not!
Dann rette ich dich
und du wirst mich ehren!“
(Psalm 50,15)

Und der zum Halleluja gesungene Vers, mit dem der hier sprechende Jesus, der Christus des Evangeliums, begrüßt wird, dieser Vers ruft wie zur Bekräftigung dieser Botschaft sein Wort aus:

Der Herr hat mich gesandt,
den Armen die frohe Botschaft zu bringen
und den Gefangenen die Freiheit zu verkünden.

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