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Leben!

20. Januar 2022

Sonntagsbotschaft zum 23. Januar 2022, dem 3. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C). 

Ich fühle mich wie ein junger Verliebter. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen und was ich auswählen soll. Alle drei Bibeltexte dieses Sonntags faszinieren mich seit Jahren und am liebsten möchte ich nichts von all dem unter den Tisch fallen lassen, was da so hilfreich angepriesen wird! Ich fange einfach mal mit der Ersten Lesung an.

Die geschichtliche Situation: Babylon, wohin die jüdische Oberschicht verschleppt worden war, war gefallen. Der neue Herrscher, der persische König Kyrus, hatte den Juden die Heimkehr und den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem erlaubt. Unter seinem Nachfolger, dem König Darius, machten sie sich an die Arbeit. Angesichts sozialer und politischer Probleme, die es dabei gab, bemühte sich ihr Anführer Nehemia darum, dass der Neuanfang von einer entsprechenden Glaubenshaltung beseelt sei: Die Gemeinsamkeit als Volk des Gottes, der in eine gute Zukunft führt, sollte wieder sichtbar zu erleben sein.

Nun waren sie so weit. Den Neustart besiegelten sie vor dem Stadttor mit einer heiligen Versammlung des ganzen Volkes – heute würden wir sagen „mit einem großen Outdoor-Festgottesdienst“. Der in der Schrift gelehrte Priester Esra stand der Feier vor. Davon erzählt die Lesung aus dem Buch Nehemia:

Der Priester Esra brachte das Buch
mit der Weisung des Mose
vor die Versammlung
Männer und Frauen

und überhaupt alle,
die schon mit Verstand zuhören konnten.
Vom frühen Morgen bis zum Mittag
las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor
den Männern und Frauen
und denen, die es verstehen konnten,
daraus vor.
Das ganze Volk lauschte auf das Buch der Weisung.
Der Schriftgelehrte Esra stand auf einer Kanzel aus Holz,
die man eigens dafür errichtet hatte.
Esra öffnete das Buch vor aller Augen;
denn er stand höher als das versammelte Volk.
Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle.
Dann pries Esra den Herrn, den großen Gott;
darauf antworteten alle mit erhobenen Händen:
„Amen, amen!“
Sie verneigten sich,
warfen sich vor dem Herrn nieder, mit dem Gesicht zur Erde.
Man las aus dem Buch,
der Weisung Gottes,
in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen,
sodass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten.
Nehemia, das ist Hattirscháta,
der Priester und Schriftgelehrte Esra
und die Leviten, die das Volk unterwiesen,
sagten dann zum ganzen Volk:
Heute ist ein heiliger Tag zu Ehren des HERRN, eures Gottes.
Seid nicht traurig und weint nicht!
Alle Leute weinten nämlich,
als sie die Worte der Weisung hörten.
Dann sagte er zu ihnen:
Nun geht, haltet ein festliches Mahl
und trinkt süßen Wein!
Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben;
denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre unseres Herrn.
Macht euch keine Sorgen;
denn die Freude am HERRN ist eure Stärke.
(Nehemia 8, 2-4a.5-6.8-10)

Warum werden die Leute traurig und weinen, als sie die Worte der Lesung hören und abschnittweise Erklärungen dazu bekommen? Ich habe noch nie im Gottesdienst erlebt, dass eine Lesung aus der Bibel – oder auch die Predigt dazu – die Leute zum Weinen gebracht hätte!

„Worte der Weisung“ wird hier genannt, was sie gehört haben. „Wort der Thorá“, heißt es im Original. Und die „Thorá“ ist die Bibel in ihrem damals gegebenen Umfang der fünf Bücher des Mose. Was sie also gehört haben: Zeugnis von Gottes rettender Begleitung des Volkes, seine Verheißung einer gesegneten Zukunft und kompetente Wegweisung dorthin. Was davon hat sie traurig gemacht?

War ihnen aufgegangen, dass sie viel Wertvolles verpasst hatten, weil sie mangels Kenntnis Gottes Wegweisung nicht befolgt hatten? Oder hat es sie bedrückt zu verstehen, welche großen Aufgaben da auf sie zukommen? „Macht euch keine Sorgen!“, sagt Nehemia. Hatten sie sich schuldig gefühlt, weil sie so vieles von Gottes Wort nicht berücksichtigt hatten, so dass ihnen das zur großen Sorge geworden war? Hatten die, die ihnen abschnittweise die Schrift erklärten, ihnen ein schlechtes Gewissen eingeredet?

Und was hat dann diese Versammlung bei diesen Menschen an Veränderung ausgelöst?

Die Erzählung mündet in die Aufforderung, ein großes Fest zu feiern – ein „festliches Mahl“ mit „süßem Wein“, wie es heißt – oh, ein trockener Wein wäre mir lieber gewesen! – Und sie sollten dabei auch die Armen einbeziehen – auch die, die gar nicht zur Versammlung gekommen waren. Als Grund dafür, sich jetzt nicht ein schlechtes Gewissen oder irgendwelche anderen Sorgen machen zu lassen, gab Nehemia die Devise aus: „Die Freude am Herrn ist eure Stärke!“

Am Ende der ganzen Erzählung heißt es dann: „So feierte man das Fest sieben Tage lang.“ (Nehemia 8,18) Das war der Startschuss für die Wiederaufnahme des bis heute von Juden jedes Jahr gefeierten Laubhüttenfestes „Sukkot“.

Blick nach vorn – auch in anspruchsvoller Zeit -, Kraft tanken in gefeierter Solidarität und in klarer Orientierung an Gott, der doch am Ende mit der Auferweckung von Jesus aus dem Tod einen radikalen Neuanfang gesetzt hat. Eine solche Haltung als Christen heute leben – das gefällt mir. Da versammelt Gott das Volk zum Fest des Lebens.

Eine solche Gemeinsamkeit als Gottes Volk faltet dann die Zweite Lesung des Sonntags geradezu genüsslich aus. Sie ist zwar nicht gezielt thematisch zugeordnet, da den Jahreskreis hindurch die Zweiten Lesungen ja im allgemeinen fortlaufend aus einem der Apostelbriefe genommen sind. Aber sie schließt sich inhaltlich unmittelbar an an die Erste Lesung aus dem alttestamentlichen Nehemia-Buch. Denn hier geht es um die Frage, welche Glaubenshaltung für eine dem Gottesvolk typische Gemeinsamkeit erforderlich ist, damit ein „Fest des Lebens“, wie Gott es meint, entstehen kann.

Was die vielen einzelnen Glieder des Volkes in all ihrer Unterschiedlichkeit beitragen können zu einem gelingenden, von Gottes Geist geprägten Miteinander, davon hatte Paulus schon am vergangenen Sonntag gesprochen. Hier führt er es fort mit dem Bild des Organismus, dessen Organe und Glieder sehr verschieden sind, aber gerade deswegen und, weil sie sich gut aufeinander abstimmen, eine optimale Lebendigkeit des Ganzen bringen:

Wie der Leib einer ist, doch viele Glieder hat,
alle Glieder des Leibes aber,
obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden,
so ist es auch mit Christus:
Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe
alle in einen einzigen Leib aufgenommen,
Juden und Griechen, Sklaven und Freie;
und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt.
Auch der Leib besteht nicht nur aus einem Glied,
sondern aus vielen Gliedern.

Ich würde lieber übersetzen „aus vielerlei Gliedern“.

Wenn der Fuß sagt:
Ich bin keine Hand, ich gehöre nicht zum Leib!,
so gehört er doch zum Leib.
Und wenn das Ohr sagt:
Ich bin kein Auge, ich gehöre nicht zum Leib!,
so gehört es doch zum Leib.
Wenn der ganze Leib nur Auge wäre,
wo bliebe dann das Gehör?
Wenn er nur Gehör wäre,
wo bliebe dann der Geruchssinn?

Da ich dabei an eine Gemeinde von Christen oder auch an eine Ortskirche denke, füge ich mal ein: Wie soll die Lunge genügend Sauerstoff in den Körper liefern, wenn das Herz nicht ausreichend pumpt? Wie soll die Haut wissen, wieviel Schweiß sie produzieren muss, um die Temperatur zu halten, wenn die Wärmesensoren ungenügende Information weiterleiten? Wie soll die Drüse wissen, ob sie schon genügend Sekret abgegeben hat, wenn sie kein Feedback bekommt? Wie soll ein von außen transplantiertes Organ seinen Dienst für den Organismus optimal tun können, wenn sein Zusammenwirken mit den anderen Organen nicht auf deren Gegebenheiten gut abgestimmt ist?

… Das Auge kann nicht zur Hand sagen:
Ich bin nicht auf dich angewiesen.
Der Kopf wiederum kann nicht zu den Füßen sagen:
Ich brauche euch nicht.
Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes
sind unentbehrlich. …
Gott hat den Leib so zusammengefügt,
dass er dem benachteiligten Glied umso mehr Ehre zukommen ließ,
damit im Leib kein Zwiespalt entstehe,
sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen.
Wenn darum ein Glied leidet,
leiden alle Glieder mit;
wenn ein Glied geehrt wird,
freuen sich alle anderen mit ihm.
Ihr aber seid der Leib Christi,
und jeder einzelne ist ein Glied an ihm.…
(1 Kor 12, 12-31a)

Wir können Christus dann am besten leibhaftig darstellen, wenn wir – wie die Glieder und Zellen und Organe im menschlichen Organismus – uns von seinem Geist animieren lassen und unsere unterschiedlichen Beiträge oder Dienste gut aufeinander abstimmen. Aktuelle Strukturdebatten in der Kirche sollten das ausreichend berücksichtigen. Das „Leben“, das mit Jesus von Gott her zur Welt gekommen ist, wird dann wunderbare Chancen haben, wenn seine Glieder sich von ihm beleben, inspirieren, nähren, stärken lassen und einander in umfassender Abstimmung aller ergänzen. Dieses „Leben“ wird dann nicht von Problemen beherrscht werden, sondern es wird so aufrichtend, befreiend, heilend, versöhnend sein, wie es eben Jesus Christus und sein Leben ist. Grund genug, mit dieser Perspektive ein mindestens so großes Fest des Lebens zu feiern wie damals mit Nehemia in Jerusalem. Für die Predigt vor etwa 20 Jahren hatte ich dazu zu einer ABBA-Melodie getextet:

Wir alle sind Individuen
und jeder hat seine eigenen Begabungen.
Von uns ist jeder ein anderer,
doch in der Vielfalt der Eigenheiten wachsen wir,
ergänzen wir uns,
so werden wir eins,
so sind wir ein Leib,
so kommt Gottes Reich:
er selbst.

Wir sind alle der Leib Christi,
jeder ein Glied an ihm.
Durch die Taufe Glied geworden,
sind wir jetzt eins in ihm.

(Text: Rainer Petrak, Melodie: ABBA)

Von einer solchen Perspektive ist Jesus selber auch ausgegangen. Von Anfang an – nach seiner Taufe durch Johannes im Jordan – hat er öffentlich in diesem Sinne gehandelt und gesprochen. Der Evangeliums-Abschnitt, mit dem an diesem Sonntag die Reihe aus dem Lukas-Evangelium im Lesejahr C beginnt, beschreibt das in ermutigender und beglückender Weise.

Jesus kehrte,
erfüllt von der Kraft des Geistes,
nach Galiläa zurück.
Und die Kunde von ihm
verbreitete sich in der ganzen Gegend.
Er lehrte in den Synagogen
und wurde von allen gepriesen.
So kam er auch nach Nazaret,
wo er aufgewachsen war,
und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge.
Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen,
reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja.
Er öffnete sie
und fand die Stelle, wo geschrieben steht:
Der Geist des Herrn ruht auf mir;
Denn er hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
Dann schloss er die Buchrolle,
gab sie dem Synagogendiener und setzte sich.
Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet.
Da begann er, ihnen darzulegen:
Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.
(Lukas 4,14-21)

Den Armen eine frohe Botschaft, den Gefangenen die Entlassung, den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen in Freiheit setzen, ein allgemeines Gnadenjahr des Herrn ausrufen – das ist sein Ding! Darin sieht er seine Aufgabe. Gelingendes Leben – nicht nur für die Frommen, nicht nur für die Starken, nicht nur für die Reichen, nicht nur für die, die uns eh nahestehen – nein, für alle! Und besonders die nennt er, in deren Leben es bisher besonders wenig „Leben“ gibt. In Bild und Sprache des vergangenen Sonntags könnte man auch sagen: Ihm geht es besonders um die, in deren Leben nicht die Rede sein kann von „Wein, der das Herz des Menschen erfreut“, sondern die nur vom „Wasser“ leben müssen.

Und „heute“ – so sagt er – heute, da er sich besonders ihnen zugesellt, erfüllt sich alle Sehnsucht und Verheißung. Das Fest kann beginnen. Sie bekennen sich ja alle zum selben Gott. Sie werden sich also seinem Projekt vom „Reich Gottes“ einfügen und dazu beitragen.

Oder???

Als die Leute merken – so erzählt das Lukas-Evangelium in der Fortsetzung – , dass Jesus ihnen damit ein weitgehendes Umdenken zumutet und ihren Ruf als gläubige Menschen in Frage stellt,

„gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.
(Lukas 4,28-29)

Da Jesus sich aber bis zu seiner tatsächlichen Hinrichtung durch Widerstände nicht davon abhalten ließ, diese Bewegung Gottes für ein erfülltes Leben aller Menschen mit der ganzen Macht seines Geistes in die Welt zu bringen, gilt sein Programm bis heute – durch die drei Bibeltexte dieses Sonntags wunderbar dargestellt:

Leben – mit Freude an Gott
Leben – mit einander in Vielfalt
Leben – mit allen, nicht nur mit den Vertrauten und den Privilegierten

Unser Leben sei ein Fest.
Jesu Geist in unserer Mitte.
Jesu Werk in unseren Händen,
Jesu Geist in unseren Werken.

Unser Leben sei ein Fest
an diesem Morgen (Abend) und jeden Tag.

Text: Alois Albrecht – Melodie: Peter Janssens (1972)
Chorsätze: Rainer Petrak – Chor: Kirchenchor St. Andreas Wiesbaden (1974)

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