Blogbeitrag

Nazi-Parole auf Bank 1985

Lohnende Herausforderung

10. November 2022

Sonntagsbotschaft zum 13. November 2022, dem 33. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C).

Krisen, Krieg, Krankheit. Die Medien sind voll davon – die sogenannten „sozialen“ ebenso wie die konventionellen. Viele Menschen beklagen zunehmenden Stress in der Arbeit und dass alles teurer wird. In meinem Umfeld starben binnen einer Woche mein Schwager, ein Kollege, die Schwester einer Freundin und der Hund meiner Haushaltshilfe. Und das Damoklesschwert des TÜV droht über meinem 81er-Passat. Laut „Hessentrend“ des Hessischen Rundfunks vom 19. Oktober machen sich 59% der Menschen sehr große oder große Sorgen, ihr Einkommen oder ihr Wohlstand könnte sinken. „Last Generation“ kämpft gegen die Zerstörung ihres zukünftigen Lebensraums.

Kein Stein bleibt auf dem andern. Sowohl in der Welt, in der wir leben, als auch im Leben vieler einzelner Menschen. Es riecht nach „Ende“.

Davon redet auch die Bibel an diesem Sonntag:

In jener Zeit,
als einige darüber sprachen,
dass der Tempel
mit schön bearbeiteten Steinen
und Weihegeschenken geschmückt sei,
sagte Jesus:
Es werden Tage kommen,
an denen von allem, was ihr hier seht,
kein Stein auf dem andern bleibt,
der nicht niedergerissen wird.

Manche haben es satt und beklagen den depressiven Pessimismus. Sie lenken sich ab mit einem erholsamen Urlaub, schauen lieber auf das Schöne in Natur und Kultur – Tempel, schöne Steine, …

Dann sagte er zu ihnen:
Volk wird sich gegen Volk
und Reich gegen Reich erheben.
Es wird gewaltige Erdbeben
und an vielen Orten
Seuchen und Hungersnöte geben;
schreckliche Dinge werden geschehen
und am Himmel
wird man gewaltige Zeichen sehen.
Aber bevor das alles geschieht,
wird man Hand an euch legen
und euch verfolgen.
Man wird euch
den Synagogen
und den Gefängnissen ausliefern,
vor Könige und Statthalter bringen
um meines Namens willen.

Sogar eure Eltern und Geschwister,
eure Verwandten und Freunde
werden euch ausliefern
und manche von euch wird man töten.
Und ihr werdet um meines Namens willen
von allen gehasst werden.

Es reicht! – Wie darauf reagieren? Resignieren? Panik? Rückzug? fliehen? Politiker beschimpfen? Oder einfach sagen, das stimmt alles nicht?

… Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt!
Denn viele werden unter meinem Namen auftreten
und sagen: Ich bin es!
und: Die Zeit ist da. –
Lauft ihnen nicht nach!
Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört,
lasst euch dadurch nicht erschrecken!
Denn das muss als Erstes geschehen;
aber das Ende kommt noch nicht sofort.

Sich von der Angst beherrschen lassen – das bringt’s nicht. Das kann einem buchstäblich das Leben nehmen.

Aber das, was Angst macht, einfach verleugnen – weil ja „Angst kein guter Ratgeber“ sei – und sich mit Nebensächlichkeiten abgeben wie etwa mit der Bewunderung von schönen Steinen und Weihegeschenken im Tempel von Jerusalem – das ändert auch nichts, befördert und stärkt es eher.

Was kann da die Bibel oder ein Gottesdienst daran ändern! Soll denn die Devise lauten: „Da hilft nur noch beten“?

Was sagt die Bibel dazu? Was sagt Jesus, also Gott? Und lässt der Gottesdienst einer Gemeinde an diesem Sonntag etwas davon spüren?

Erstaunlicherweise gewinnt Jesus einer solchen Situation, in der umfassend alles katastrophal zusammenbricht, etwas wesentlich Positives ab.

Ich denke wieder einmal an meine Verwandten, die das Ende des Krieges als „Zusammenbruch“ erlitten, während andere über die „Befreiung“ glücklich waren. Eine Frage der Perspektive?

Jesus nimmt die Realitäten ernst und respektiert liebevoll die leidvoll betroffenen Menschen und lenkt ihre Aufmerksamkeit um:

Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können.
Nehmt euch also zu Herzen,
nicht schon im Voraus
für eure Verteidigung zu sorgen;
denn ich werde euch
die Worte und die Weisheit eingeben,
sodass alle eure Gegner
nicht dagegen ankommen
und nichts dagegen sagen können.

Neue Perspektive durch das Erbarmen, mit dem Gott sich da an uns wendet? Wohin führt diese Zeit?

Hoffnung! Gott ist ja nicht die Ursache des Leids, er ist schließlich nicht das Problem; er leidet mit dem Menschen und bietet Begleitung an zur Lösung!

Vertrauen: Gott lässt euch nicht hängen! Selber hinschauen und sehen, Zusammenhänge und Abläufe neu verstehen und benennen, die positive Wendung wahrnehmen, die Vorteile in den Blick nehmen!

Jesus bringt es auf den Punkt:

… euch wird kein Haar gekrümmt werden.
Wenn ihr standhaft bleibt,
werdet ihr das Leben gewinnen.
(Lukas 21, 5-19)

Die gottesdienstliche Leseordnung erkennt darin: Jesus greift hier die alte Botschaft der Propheten auf von dem Gott, dessen rettende Liebe größer ist als alle mögliche Not.

Dieselbe Perspektive, zu der Jesus neu befreien will, hat unter anderen schon der Prophet Maleachi entfaltet, dessen entsprechende Worte als 1. Lesung des Sonntags vorgesehen sind:

Seht, der Tag kommt,
er brennt wie ein Ofen:
Da werden alle Überheblichen
und Frevler zu Spreu
und der Tag, der kommt,
wird sie verbrennen,
spricht der HERR der Heerscharen.
Weder Wurzel noch Zweig
wird ihnen dann bleiben.
Für euch aber,
die ihr meinen Namen fürchtet,
wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen
und ihre Flügel bringen Heilung.
(Maleachi 3,19-20b)

Schade, dass der Lesungstext hier abbricht. Denn die unmittelbare Fortsetzung lässt so erfrischend menschlich die entsprechenden Emotionen erklingen:

Ihr werdet hinaus gehen
und Freudensprünge machen
wie Kälber, die aus dem Stall kommen.

Und die – egal wie moralisch zu bewertende – menschliche Sehnsucht nach Genugtuung wird einfach anerkannt:

Und ihr werdet die Ruchlosen zertreten,
sodass sie unter euren Fußsohlen
zu Asche werden,
an dem Tag, den ich herbeiführe,
spricht der HERR der Heerscharen.
(Maleachi 3,20bc-21)

Was ist also die Kernaussage dieser Botschaft?

Selbst wenn größtes Leid und höchste Not über euch kommen, – ihr könnt euch darauf verlassen: Den Weg durch alles das geht Gott gemeinsam mit euch. Und das Ende, zu dem er das alles führt, übersteigt eure Sehnsucht und Hoffnung!

Wie soll er das sagen, um sich verständlich zu machen? Was soll er machen, um ihren Ängsten die lähmende Wirkung zu entkräften und sie in Bereitschaft zu verwandeln, klarer zu sehen und sich dem zu stellen, was Angst macht?

In der damaligen Zeit apokalyptischer Panikmache greift er die verbreiteten Vorstellungen vom Welt-Ende auf: „Und selbst wenn das alles kommt, …“

Und über seine Worte von diesem Wechsel der Perspektive hinaus hat er Zeichen gesetzt. Mit seiner Art der Zuwendung zu Menschen – mit Vorliebe, wenn sie im Elend stecken – hat er verblüffend gezeigt, worauf Gott hinaus will.

Darauf weist er sie jetzt hin. Vieles erleben sie ja schon von dem, was er „voraussagt“.

Deshalb fordert er auf: Schaut über den Augenblick hinaus! Lasst euch nicht irreführen und erschrecken! Das Schlimme, das euch trifft, ist nicht alles und schon gar nicht das Ende! Das Ende sieht ganz anders aus!

Ergreift die Gelegenheit, Zeugen zu sein für den Retter und seinen Ausweg! Wenn ihr Zeugnis dafür ablegt, wird das auch den anderen die Augen öffnen. So werdet ihr das Leben gewinnen! Für alle! Schaut auf mich – ich stelle mich dem allem, sogar dem Tod! Weil ich Gott traue! Ermutigt auch ihr euch gegenseitig zur neuen Perspektive!

Die sich daraus ergebende vertrauensvolle Hoffnung feiern – das kann sogar in einem Gottesdienst entstehen, zu dem ihr euch um mich herum versammelt!

Warum aber sollte ich mich davon leiten lassen? Wie soll ich dazu kommen, mich darauf einzulassen?! Das ist doch „unvernünftig“, „unrealistisch“, …

Das hängt davon ab, welche „Vernunft“ ich da anlege; von welchem Bild von „Realität“ ich mich leiten lasse. Die meisten Menschen folgen darin wahrscheinlich einer Sichtweise, wie sie in ihrem Umfeld von einer Mehrheit gepflegt und als „Logik“ anerkannt wird.

Aber dass es in der Wahrnehmung der Wirklichkeit sehr unterschiedliche Möglichkeiten gibt, zeigt sich in unseren Tagen in einer Deutlichkeit, die zu erschrecken oder auch wachzurütteln vermag:

  • wie Putin den Konflikt um die Ukraine sieht;
  • wie in den USA die Anhänger von Trump die politische, wirtschaftliche und soziale Lage im Land sehen;
  • wie „Querdenker“ und Populisten bei uns die „Realität“ sehen;
  • und so weiter …

Alltägliche oder lebensgeschichtliche Erfahrungen können auch Einzelpersonen erheblich verändern, wie sie die Wirklichkeit wahrnehmen: Schon viele Menschen konnten „dank“ eines Herzinfarkts aus einem gestressten Dasein in eine als sehr positiv erlebte neue Lebensphase eintreten! Oder: das Glück einer Mutter nach einer schmerzvollen Entbindung! Oder: das Fazit „kaputt aber glücklich“ nach einer strapaziösen Bergwanderung oder auch nach einer stressigen politischen Aktion!

Ein beeindruckendes Beispiel mutiger Zukunftshoffnung mitten in der Katastrophe hat dieser Tage die Anerkennung des Europa-Parlaments gefunden: Das ganze ukrainische Volk ist mit dem Sacharow-Preis geehrt worden.

Wenn die Angst vor der Zukunft einen beherrschen will, – ist das nicht manchmal wie beim Säugling, der Hunger hat, aber nicht jetzt sofort ans Ziel seiner Wünsche kommt? Er bekommt Angst: „Ich werde nie wieder zu essen bekommen.“ Weil er es nicht jetzt sofort bekommt. Das Vertrauen lernt der Säugling im Lauf der Zeit. Aber auch im Erwachsenenalter wollen wir manchmal mit aller Macht „mein Fläschchen jetzt sofort“.

Es ist oft schwierig, in wesentlichen Fragen des Lebens Ausdauer zu entwickeln – Ausdauer in der Zielstrebigkeit, Ausdauer in der Hoffnung. Die Alternative zum Jetzt-Sofort heißt: Erst am Ende kommt das Ende, das Ziel! Davor liegt ein Weg, eine Geschichte – sowohl das Leben des einzelnen Menschen als auch die Weltgeschichte.

Was vor uns liegt, fordert uns heraus. Und sich dem zu stellen, lohnt sich – jedenfalls doch wenn es Gott ist, der da herausfordert!

In Solidarität des Glaubens sich im Gottesdienst dem gemeinsam zu stellen, das hat besonders lohnende Chancen.

Nehmen wir nur als Beispiel das Tagesgebet, das sozusagen die Überschrift über der Feier dieses Sonntags ist: Wenn ich es als Provokation an mich heranlasse und die Worte kaue, bis sie auch zu meiner eigenen Teilnahme am gemeinsamen Gebet werden, dann dürfte ein erster Schritt bereits getan sein:

Gott, du Urheber alles Guten,
du bist unser Herr.
Lass uns begreifen,
dass wir frei werden,
wenn wir uns deinem Willen unterwerfen,
und dass wir die vollkommene Freude finden,
wenn wir in deinem Dienst treu bleiben.
Darum bitten wir …

Wohin kann das führen?

Menschen, die sich zusammengetan haben; Menschen, die sich haben zusammenrufen lassen; die sich miteinander auf die Botschaft einlassen und in solidarischem Glauben sich zu dem bekennen, den sie als zusammen gebrochenes Brot miteinander teilen, können dann jubeln – voller Hoffnung und Vorfreude:

Richtet euch auf
und erhebt eure Häupter;
denn eure Erlösung ist nahe.
Halleluja!

Wenn ein Brot gebrochen wird,
dann ist das keine Katastrophe,
sondern so beginnt
die Sättigung des Menschen mit Leben.
Das Brot, das Gott uns bricht,
ist sein Sohn, unser Freund und Herr,
der sein Leben mit uns teilt
und der uns aufrichtet.
Er schenkt sich selber,
damit wir ihn miteinander teilen.

Menschen werden sich dann auch den Herausforderungen der Zeit stellen: Überall da, wo die Menschlichkeit mit Füßen getreten wird, werden wir aufstehen und uns heraus fordern lassen, heraus aus ängstlicher Lähmung und Passivität.

Das ist ein mühevoller Weg, solches Leben in aktiver Hoffnung auf Zukunft!

Aber das ist uns ja nicht fremd: Erst der Kampf der Fußballmannschaft bringt die richtige Freude am getroffenen Tor! Was wäre das ein langweiliges Spiel, wenn man ohne jede Mühe und „sofort jetzt“ den anderen ein Tor ‚reinschießen könnte!

Oder: Ist es nicht so, wenn man in einer Ehe eine Reihe von Krisen fruchtbar gemeistert hat, ist dann diese Ehe nicht viel intensiver und tiefer?!

Oder: Wenn ich eine Arbeit mit Ausdauer und Mühe geschafft habe, zum guten Ergebnis gebracht habe, macht nicht gerade das besondere Freude und gibt Selbstvertrauen?

Ja, wir kennen das: Was Mühe macht und was man zu einem Ergebnis gebracht hat, das lohnt das Leben.

Auf dem Lebensweg unerschrocken, standhaft und mit Ausdauer sich den Herausforderungen stellen – das geht nur, weil wir nicht sofort am Ziel sind, weil das Ende nicht sofort kommt. Wenn es so wäre, dass wir sofort in den Dingen am Ziel wären, die wir uns ersehnen, was wäre danach das Leben todlangweilig!

Ein immer wieder aus der Erinnerung wachgerufenes Beispiel dafür, wie sich eine solche Einstellung über die Gemeinde von Christen hinaus nachhaltig auswirkt, haben wir 1985 erlebt:

Piero kam entsetzt: „Hast Du schon Fechenheim gesehen?!“ Hatte ich nicht. Aber ich ging sofort los und schaute mich im Stadtteil um. Über Nacht der Stadtteil vollgeklebt mit Aufklebern und bepinselt mit hasserfüllten Parolen gegen Ausländer. In einem Schaudern erregenden Ausmaß. Wahrlich Angst erregend, vor allem, wenn man selber Ausländer war wie Piero. „Ausländer raus!“ „Deutschland den Deutschen!“, „Sieg Heil!“ und Hakenkreuze, … Auf einer Bank an der Haltestelle: „Nur für Deutsche“ … (Foto: Rainer Petrak)

Was war zu tun? Freunde aufsuchen. Im kleinen Kreis sich gegenseitig des Entsetzens vergewissern. Das Lähmende spüren, dass hier eine Kraft sich unseres Stadtteils bemächtigen will. Gemeinsame Auflehnung: „Das nehmen wir nicht hin!“ Per Schneeballsystem sprachen wir andere an – andere aus der Kirchengemeinde und darüber hinaus Nachbarn und Freunde, von denen wir annehmen konnten, dass sie mitmachen würden.

Wenige Tage danach, Samstag Mittag, trafen wir uns: Etwa 60 Personen, bewaffnet mit Drahtbürsten, Lösungsmitteln, Putzeimern, … Wir teilten uns grüppchenweise auf Straßenzüge auf und machten uns ans Werk. Am Abend war das übliche Erscheinungsbild unseres Stadtteils wieder hergestellt. Bestärkt und froh gingen wir wieder auseinander. Die örtliche Presse machte unsere Aktion öffentlich. (FN-Foto: Rüffer aus Frankfurter Wochenblatt vom 5.6.85)

Und später immer wieder zum 1. Mai – schnelle Solidarisierung in großer Menschenmenge. Die Polizei musste die anrückenden Menschenhasser vor uns „schützend fernhalten“, indem sie ihnen den Zugang zum Stadtteil unterband.

Antwortpsalm mit Kehrvers „Hebt euch, ihr Tore; unser König kommt.“ und aus Psalm 98, 5-9: Jauchzt vor dem Herrn, wenn er kommt, um die Erde zu richten. Er richtet den Erdkreis gerecht, die Nationen so, wie es recht ist.

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