Sonntagsbotschaft zum 6. November 2022, dem 32. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C).
Nach dem Krieg, in den Jahren meiner Pubertät, las ich mit Begeisterung Bücher mit germanischen und griechischen Heldensagen. Ein Einfluss aus der Kirchengemeinde lenkte meine Aufmerksamkeit um auf romanhafte Darstellungen von Märtyrergeschichten aus der Zeit frühchristlicher Verfolgungen.
Es war die Zeit, in der ich den christlichen Glauben kennen und schätzen lernte und in der Gemeinde auch als wohltuend und ansteckend erlebte.
Nun in solchen Märtyrergeschichten von Menschen zu hören, die selbst den Tod dafür in Kauf nahmen, um in wichtigsten Fragen des Lebens in Übereinstimmung mit den eigenen Überzeugungen zu handeln, das stellte mich immer wieder vor die Frage, ob denn auch ich jemals mich für ein derartiges Verhalten entscheiden würde und ob ich das denn überhaupt gut fände.
Irgendwann später und dann immer wieder begegnete mir in der Bibel eine solche Erzählung, die mir die alte Frage jetzt als Gottes Frage an mich stellte, wie ich denn dazu stehe.
Das ist die 1. Schriftlesung dieses Sonntags.
Worum geht es da? Was ist der geschichtliche Zusammenhang?
Unter der Herrschaft des syrischen Königs Antiochus IV. – um die Jahre 170 bis 160 vor Christus – wurde die jüdische Bevölkerung brutal unterdrückt. Ein Teil des Volkes fand Halt im Glauben an den Gott Israels und in dem damit verbundenen Brauchtum, mit dem sie ihre solidarische Gemeinschaft lebten. Ihr Glaube und das gemeinsam praktizierte Brauchtum wurde ihnen zur Kraftquelle im Widerstand. Der tödliche Kampf auf Biegen und Brechen machte sich an dieser für alle sichtbaren Symbolik fest.
Daher spitzte sich der Konflikt an ihrer Entscheidung zu, die Regeln der Beschneidung, des Sabbats und der Enthaltung von Schweinefleisch konsequent zu befolgen.
Der König und seine Schergen hatten nicht mit der Macht gerechnet, die sich in der Zukunftshoffnung gläubiger Menschen entfaltete.
Da erzählt das 2. Buch der Makkabäer von Eleasar, einem im Volk angesehenen, hochbetagten Schriftgelehrten. Den wollten sie zwingen, Schweinefleisch zu essen, und als er sich strikt weigerte, boten sie ihm entgegenkommend an, er solle halt so tun, als ob. Aber souverän stellte er sich der Folter und seiner Hinrichtung:
„Wer so alt ist wie ich, soll sich nicht verstellen.
Viele junge Leute könnten sonst glauben,
Eleasar sei mit seinen 90 Jahren noch
zu der fremden Lebensart übergegangen. …
Darum will ich jetzt wie ein Mann sterben
und mich so meines Alters würdig zeigen.“
Und ging geradewegs zur Folterbank.
(2. Makkabäer 6,18-31)
Und dann folgt die drastische Erzählung von der Mutter und ihren 7 Söhnen, die sich allesamt auch durch die angedrohte Todesstrafe nicht von dem abhalten ließen, was ihnen ihr Leben war.
Aus der ausführlichen und abstoßend grausamen Erzählung ist ein gekürzter und abgemilderter Auszug als 1. Schriftlesung des Sonntags vorgesehen:
In jenen Tagen
geschah es,
dass man sieben Brüder
mit ihrer Mutter festnahm.
Der König Antiochus wollte sie zwingen,
entgegen dem göttlichen Gesetz
Schweinefleisch anzurühren,
und ließ sie darum
mit Geißeln und Riemen peitschen.
Einer von ihnen ergriff für die andern das Wort
und sagte: Was willst du uns fragen
und was willst du von uns lernen?
Eher sterben wir,
als dass wir die Gesetze unserer Väter übertreten.
Und der in der gottesdienstlichen Lesung weggekürzte Bibeltext erzählt: Mitten aus der Folter heraus riefen sie und ihre Mutter einander Mut zu: „Gott, der Herr, sieht und gewiss hat er Erbarmen mit uns!“
Als der Erste der Brüder
auf diese Weise gestorben war,
führten sie den Zweiten zur Folterung.
Als er in den letzten Zügen lag,
sagte er: Du Unmensch!
Du nimmst uns dieses Leben;
aber der König der Welt
wird uns zu einem neuen, ewigen Leben
auferstehen lassen,
weil wir für seine Gesetze gestorben sind.
Ein derartig hoffnungsvolles Vertrauen in Gott! Was für eine Kraft zum Widerstand!
Nach ihm folterten sie den Dritten.
Als sie seine Zunge forderten,
streckte er sie sofort heraus
und hielt mutig die Hände hin.
Dabei sagte er gefasst:
Vom Himmel habe ich sie bekommen
und wegen seiner Gesetze
achte ich nicht auf sie.
Von ihm hoffe ich sie wiederzuerlangen.
Sogar der König und seine Leute
staunten über den Mut des jungen Mannes,
dem die Schmerzen nichts bedeuteten.
Als er tot war,
quälten und misshandelten sie
den Vierten genauso.
Dieser sagte, als er dem Ende nahe war:
Gott hat uns die Hoffnung gegeben,
dass er uns auferstehen lässt.
(2 Makk 7, 1-2.7a.9-14)
Eine Extrem-Erzählung! „Krass“, würden Jüngere sagen. Warum erzählt die Bibel das weiter und wird alle 3 Jahre in den Gottesdiensten „verkündet“! Was will das bewirken bei den hörenden oder lesenden Menschen, bei uns? Was für eine „Botschaft“ steckt da drinnen? Heldengeschichte? Kaum! Aber was dann? Wieviel Kraft und Mut der Glaube bei Menschen bewirken kann?
Eigentlich kann ich mir vorstellen, dass unterschiedliche Gründe Menschen zu einer solchen Haltung bewegen können. Wenn sie nur ganz eins sind mit dem, was ihnen wirklich Halt gibt.
Diese Erzählung der Bibel aber atmet die eindeutige Gewissheit: Der, dem sie alles verdanken und in Verbindung zu dem alles Tun und Lassen seinen Sinn hat, der wird sie nicht fallen lassen. Auch nicht, wenn sie sterben! Wenn Menschen in ihrer Grausamkeit so extrem mit ihnen umgehen, dann wird Gott in seiner Liebe und seinem Erbarmen mindestens ebenso extrem sich ihnen gegenüber zeigen!
Ein solches todesmutiges Verhalten beeindruckt mich enorm.
Wenn allerdings jemand auch von mir ein solches Verhalten erwarten oder verlangen sollte, mache ich spontan eine ganze Reihe von Gegenargumenten geltend, die so etwas als fragwürdig bis absurd hinstellen; wodurch auch ich mir kein schlechtes Gewissen machen lasse:
Was für eine grausame Mutter, die ihre Kinder geradezu ans Messer liefert, statt alles zu tun, um ihr Leben zu retten!
Was für krankhafte Söhne, die ihre Erfüllung darin finden, sich horrormäßig foltern und umbringen zu lassen!
Was für eine irregeleitete Solidarität, die nicht zum Leben bestärkt, sondern zum Sterben!
Und ich höre: „Gott hat uns die Hoffnung gegeben, dass er uns auferstehen lässt.“
„Auferstehung“ liegt in der Luft. Schon vor Jesus und seiner Auferstehung.
Aber bis ich so weit bin – wenn ich denn dahin kommen sollte – , eine ähnliche Haltung aufzubringen wie die Mutter und ihre sieben Söhne, muss ich mich auseinandersetzen.
Und wenn ich mit anderen Menschen gemeinsam diesen Weg gehen will, dann suche ich seit jungen Jahren nach Argumenten, die dafür sprechen; nach anderen Beispielen, von denen wir Ähnliches schon kennen und es nicht sofort ablehnen; wo auch das Grundvertrauen in eine verlässlich erscheinende Basis die Entscheidungen von Menschen leiten.
Ich denke an die beeindruckenden Beispiele des 20. Jahrhunderts, in denen Menschen einer militärischen Bemächtigung todesmutig widerstanden – Beispiele, die unter dem Stichwort „soziale Verteidigung“ immer wieder benannt wurden, als die Drohung mit einem atomaren 3. Weltkrieg im Raum stand. Ich denke an
- den Generalstreik der Arbeiterschaft und die Verweigerung des Verwaltungspersonals, an denen der Kapp-Putsch 1920 scheiterte;
- an den passiven Widerstand von Eisenbahn und Kohlebergbau gegen die Besetzung des Ruhrgebiets durch Belgien und Frankreich 1923;
- an den Widerstand der Lehrer in Norwegen gegen die deutsche Besatzungsmacht 1941/42;
- an den Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953;
- an die ungarische Revolution von 1956;
- an den Widerstand in der Tschechoslowakei, der zum „Prager Frühling“ 1968 führte; …
Und, beeindruckt vom Todesmut der 7 Söhne samt ihrer Mutter, denke ich an George F. Kennan, als Historiker und Diplomat bis 1961 führend tätig im US-Außenministerium. Wahrscheinlich ganz unabhängig vom Glauben an den Gott der Bibel vertrat er damals die gewagte These, die Verteidigung eines Landes hänge unter den Bedingungen einer atomaren Abschreckung „in erster Linie“ ab „von der inneren Gesundheit und Disziplin ihrer eigenen Gesellschaften, von der Art, wie sie organisiert sind, um sich gegen die Zersetzung und Unterwerfung ihres nationalen Lebens … zu schützen.“ (George F. Kennan, Rußland, der Westen und die Atomwaffe, Ullstein TB 605, S. 80-83; zit. nach Theodor Ebert, Soziale Verteidigung Band 1 [1981], S. 13)
Aber dann erst die Verwurzelung von Menschen in dem Gott, der selbst die schlimmste Menschen- und Lebensfeindlichkeit in ein neues Aufblühen zu verwandeln weiß, – was für eine Kraft kann das entfalten!
„Auferstehung“ ist angesagt. Wie auch immer die aussehen mag. Der Tod und seine Instrumentalisierung für Zwecke der Unterdrückung ist entmachtet.
Den üblichen Blick, der sich auf Tod und Elend konzentriert hat, kehrt das ganze Neue Testament um auf Leben und Herrlichkeit und bewegt dazu, sich dafür an Jesus Christus zu orientieren, an der Botschaft aus seiner Lebenshingabe, die in die Auferstehung mündet.
Was könnte uns von der Erfahrung der Liebe entfernen, die Christus zu uns hat? So ruft Paulus in seinem Brief an die von Verfolgung bedrohte Gemeinde in Rom aus. Etwa Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? Und er betont: Alles das überwinden wir durch ihn und seine Liebe. (vgl. Römer 8,35-37)
Ist das nicht wie eine Schwangerschaft?