Blogbeitrag

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Menschenleben

24. Juni 2021

Sonntagsbotschaft zum 27. Juni 2021 
(13. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr B) 

In welchem aktuellen Zusammenhang die Botschaft der Bibeltexte des bevorstehenden Sonntags gehört werden will, brauche ich mich nicht lange zu fragen. Durch die Häufung von Impulsen aus den unterschiedlichsten Himmels- und Erdrichtungen, die sich alle wie in einem Brenngleis auf ein und dasselbe Problemfeld bündeln, ergibt sich mir die Antwort schnell von selbst.

Als erstes überfliege ich ja die in der Leseordnung vorgesehenen Bibeltexte und wundere mich schon über die Klarheit der gemeinsam gleichen Richtung ihrer Aussagen. Mir kommt es vor, als sollte hier eine geballte Ladung an Argumenten und Motivationen aufgebracht werden. Alles richtet sich anscheinend gegen eine zynische Einstellung, die menschliches Leben und seinen Schutz geringachtet und die auch noch Gott verdächtigt, das in Ordnung zu finden.

Nach dem Blick in die Bibel stoße ich als nächstes auf „hart aber fair“, die Fernseh-Sendung der ARD mit Frank Plasberg und seiner Frage „Tod im Mittelmeer, Elend im Lager – ist uns das Flüchtlingsleid egal?“

Aus meinem Briefkasten hole ich ein Informationspaket von Pro Asyl mit Neuigkeiten über widerrechtliche und unmenschliche Zurückweisungen und Abschreckungen von Menschen in Not.

Mit dem Titel „Wenn nur die Humanität zählte …“ richtet die Frankfurter Rundschau mein Augenmerk auf das „Forum Menschenrechte“, in dem Fachleute der demokratischen Parteien über die humanitäre Verpflichtung gegenüber Menschen auf der Flucht diskutieren.

Eine E-Mail erinnert mich an eine Veranstaltung der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung in Kooperation mit Pax Christi und anderen zum Problemfeld der Seenotrettung …

In dieser Bündelung der Impulse kann ich nur die vorweggenommene Antwort auf meine noch gar nicht ausgesprochene Frage erkennen und ich weiß: Diese Sonntagsbotschaft konfrontiert uns in Deutschland und in Europa mit der herausfordernden Frage: In welcher Art Beziehung sehen wir uns zu den Menschen, die aus Elend und Not unterschiedlicher Art ihr Land verlassen und trotz lebensbedrohlicher Risiken ihre Rettung bei uns suchen? Zu Beginn von „hart aber fair“ stellt Frank Plasberg die Frage so:

Will auch Deutschland eher abschrecken als helfen? Und stimmen viele Bürger dem schweigend zu, weil sie denken: Hilft man jetzt einigen, kommen bald zu viele nach? Abschrecken heißt aber im Zweifelsfall: ertrinken oder im Lager versauern lassen!

Ich fange also mit den Bibeltexten des Sonntags an: Was willst Du, Gott, uns heute mit diesen Worten der Bibel sagen?

Die Erste Lesung aus dem Buch der Weisheit:

Gott hat den Tod nicht gemacht
und hat keine Freude am Untergang der Lebenden.
Zum Dasein hat er alles geschaffen
und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt. …
Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen
und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht.
Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt …
(Weisheit 1,13-15; 2,23-24)

Und danach im Antwortpsalm die Stimme eines Menschen, der diesen Gott erfahren hat – vielleicht durch Menschen, die ihr Verhalten an ihm orientieren:

Ich will dich erheben, HERR,
denn du zogst mich herauf
und ließest nicht zu, dass meine Feinde sich über mich freuen.
HERR, du hast meine Seele heraufsteigen lassen aus der Totenwelt,
hast mich am Leben erhalten, sodass ich nicht in die Grube hinabstieg.
Singt und spielt dem HERRN, ihr seine Frommen, …
Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt, …
HERR, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit.
(Psalm 30,2.4)

Und im Evangelium durchbricht Jesus alles, was man für möglich hält,
und zeigt, wie weit Gottes Solidarität geht mit dem Menschen, der an seine Rettung glaubt und sie Gott zutraut:

In jener Zeit fuhr Jesus im Boot
an das andere Ufer des Sees von Galiläa hinüber
und eine große Menschenmenge versammelte sich um ihn.
Während er noch am See war,
kam einer der Synagogenvorsteher namens Jaïrus zu ihm.
Als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen
und flehte ihn um Hilfe an;
er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben.
Komm und leg ihr die Hände auf,
damit sie geheilt wird und am Leben bleibt!
Da ging Jesus mit ihm.
Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn.
Unterwegs kamen Leute,
die zum Haus des Synagogenvorstehers gehörten,
und sagten zu Jaïrus: Deine Tochter ist gestorben.
Warum bemühst du den Meister noch länger?
Jesus, der diese Worte gehört hatte,
sagte zu dem Synagogenvorsteher: Fürchte dich nicht!
Glaube nur!
Und er ließ keinen mitkommen
außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus.
Sie gingen zum Haus des Synagogenvorstehers.
Als Jesus den Tumult sah
und wie sie heftig weinten und klagten,
trat er ein
und sagte zu ihnen: Warum schreit und weint ihr?
Das Kind ist nicht gestorben,
es schläft nur.
Da lachten sie ihn aus.
Er aber warf alle hinaus
und nahm den Vater des Kindes und die Mutter
und die, die mit ihm waren,
und ging in den Raum, in dem das Kind lag.
Er fasste das Kind an der Hand
und sagte zu ihm: Talita kum!,
das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf!
Sofort stand das Mädchen auf
und ging umher.
Es war zwölf Jahre alt.
Die Leute waren ganz fassungslos vor Entsetzen.
Doch er schärfte ihnen ein,
niemand dürfe etwas davon erfahren;
dann sagte er,
man solle dem Mädchen etwas zu essen geben.
(Markus 5,21-24.35b-43)

Jesus lässt es kalt, dass sie sich über ihn lustig machen. Er weiß jedenfalls, wie wichtig es ihm ist, dass dieser junge Mensch nicht stirbt, sondern gerettet wird. Er will noch nicht einmal, dass sie das jetzt herumerzählen und ihn zum großen Zampano machen. Nicht einmal den menschenfreundlichen, rettenden Gott sollen sie hier zum Thema machen. Mittelpunkt bleiben muss der Mensch, dessen Leben gefährdet ist, und seine Perspektive: Das Mädchen soll leben! Darum geht es jetzt!

Und wie wenn an diesem Sonntag betont werden sollte, dass es nicht nur um biologisches Überleben geht, sondern dass Gott ein menschenwürdiges Leben in solidarischem Gemeinwesen für alle will, steht als Zweite Schriftlesung auf dem Plan ein Abschnitt aus dem 2. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth.

Materiell gesehen, waren die Christen in der griechischen Hafenstadt Korinth zur Zeit des Apostels Paulus nicht schlecht gestellt. Da erkannten sie die Aufgabe, der armen Gemeinde von Jerusalem zu helfen. Aber nur halbherzig. Sie fürchteten sich, wenn sie den Mitchristen in Jerusalem allzu liebevoll helfen, dass sie sich dann mit ihren Möglichkeiten überfordern und schließlich dadurch selber arm werden.

Da ermutigt sie Paulus in seinem Brief: Die Gemeinde in Korinth möge ein Engagement dieser Art nicht als lästig empfinden, sondern sie werde damit ja selber Gott ähnlich, dessen Wesen doch schenkende und einsatzfreudige Liebe ist.

… sollt ihr euch an diesem Liebeswerk
mit reichlichen Spenden beteiligen.
… Es geht doch nicht darum,
dass ihr in Not geratet, indem ihr anderen helft;
es geht um einen Ausgleich.
Im Augenblick soll euer Überfluss ihrem Mangel abhelfen,
so dass auch ihr Überfluss einmal eurem Mangel abhilft.
So soll ein Ausgleich entstehen …

(2 Korinther 8,7.9.13-15)

Paulus klärt: Man darf nicht „Sozialneid“ verwechseln mit Bereitschaft zum „Ausgleich“ und zum Umverteilen. Hilfsaktionen solcher Art gehören zum Glaubensvollzug der Gemeinde und zur Solidarität unter den Menschen.

Wenn eine Sicht auf das menschliche Leben, wie sie die Bibeltexte des Sonntags nahelegen, zur Grundlage wird, auf der Geschehnisse und Bestrebungen beurteilt und bewertet werden – viele nennen das „christliche Werte“ –, dann ergibt sich daraus eine Perspektive und Prioritäten für politische Entscheidungen.

Was ist dann dringend fällig im Zusammenhang mit der Situation der Menschen, die ihre einzige lebbare Zukunft nur in der Flucht nach Europa sehen können, die aber erleben müssen, dass dieser Weg lebensgefährlich ist und dass sie mit allen Mitteln aus Europa herausgehalten werden?

Da fällt der Blick auf verweigerte Seenotrettung, auf ein Massengrab, zu dem das Mittelmeer geworden ist, auf ein panisches Abschreckungsprogramm, auf push-backs an der EU-Außengrenze, auf menschenunwürdige Zustände in Flüchtlingslagern, …

Sogenannte „Grenzsicherung“ und „Grenzschutz“ besteht dann darin, dass wir seit dem Jahr 2014 20.000 Menschen ertrinken lassen und Tausende zurückschicken in libysche Folterlager und in grauenhaftes Elend in Flüchtlingscamps auf griechischen Inseln. Obwohl das immer wieder von europäischen Gerichten für widerrechtlich erklärt wurde, dieses Jahr wieder vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 21. Januar und vom Oberverwaltungsgericht Niedersachsen mit Urteil vom 19. April, die beide eine Abschiebung nach Griechenland verbieten mit der Begründung, „weil dort nicht einmal elementarste Bedürfnisse – ‚Bett, Brot, Seife‘ – befriedigt werden können“.

Oder das Beispiel von Ceuta, an der EU-Außengrenze. Vor diesem Bild kann man nicht die Augen verschließen:
[ Filmausschnitt „hart aber fair“ mit Bericht aus Ceuta (0’36) ]

Denen, die für derartige Gräueltaten politisch verantwortlich sind, muss eigentlich Gottes Stimme in den Ohren gellen. Allerdings sind wir alle mitverantwortlich für die herrschende Politik.

Also?

Einfach wegschauen geht nicht, solange sogenannte „europäische Werte“, Humanität, gar Nächstenliebe nicht nur zynische Lippenbekenntnisse sein sollen.

Meine eigenen Erinnerungen sind mir bis heute präsent an wochenlange Durchgangslager wie auf diesem Grundstück mit unter katastrophalen hygienischen Umständen zusammengepferchten Hunderten von Menschen auf der Vertreibung aus dem tschechisch gewordenen Sudetenland. 54 Jahre später fand ich die Stelle wieder, froh über die längst gewonnene Distanz dazu. Und Berichte in den Medien zeigen mir deutlich, dass das noch „harmlos“ war gegenüber Moria oder den heutigen Lagern in Libyen.

In Lehrgängen zu Segelführerscheinen wurde uns angehenden Skippern immer wieder das internationale Seerecht eingeschärft, bei Notrufen auf See habe jedes Schiff egal welcher Art mit zwingendem Vorrang vor allen anderen Plänen sich umgehend in das vorgesehene Verfahren der Seenotrettung einzufügen; wofür ja auch die Funkbereitschaft vorgeschrieben und die Befähigung zum entsprechenden Umgang damit eine Voraussetzung für den Führerschein war. Heute aber müssen Schiffsführer auf dem Mittelmeer damit rechnen, dass sie kriminalisiert werden, wenn sie ihrer humanitären Rechtspflicht nachkommen und Menschen aus Seenot retten.

Da geschehen abstruse Dinge, die eigentlich gar nicht zu glauben sind. Hier deshalb das groteske Beispiel vom Rettungsschiff Sea-Eye 4, wie „hart aber fair“ es zeigt:

„Auf Initiative der Evangelischen Kirche ist das Rettungsschiff Sea-Eye 4 seit Mai im Mittelmeer vor der libyschen Küste unterwegs. Brachte schon im ersten Einsatz über 400 Menschen nach Sizilien, darunter 150 Kinder. Im Hafen von Palermo wird das Schiff nun seit knapp zwei Wochen von den italienischen Behörden festgehalten. Die italienische Küstenwache stört sich unter anderem daran, dass das über 50 m lange ehemalige Frachtschiff laut Papieren nur für 27 Personen ausgelegt sei; nur für die gebe es Rettungsmittel und Kojen.“

In „hart aber fair“ beklagt Petra Bosse-Huber, die Auslandsbischöfin der Evangelischen Kirche in Deutschland:

„Es liegen ja ganz viele Schiffe an Ketten und werden nicht freigegeben. Da sind manchmal zu viele Rettungs- und Seenotwesten an Bord gewesen; deshalb durften sie nicht raus. Es gibt nicht genug Abwassermöglichkeiten. Also, es gibt keine Begründung, die es nicht gibt.“

Und Jean Asselborn, luxemburgischer Minister für Immigration, sagte laut „hart aber fair“ am 31. Mai:

„Es ist beschämend, wie die Migrationspolitik am heutigen Stand in der Europäischen Union aussieht: Wenn ich mit den Innenministern verschiedener Länder oder aller 27 um den Tisch sitze, bin ich mir heute – im Gegenteil zu 2015 – nicht mehr sicher, ob alle noch wollen, dass Menschen, die am Ertrinken sind, gerettet werden.“

„Europäische Werte“? Humanität? „christliche Werte“? Es geht um Menschenleben!

In welcher Art Beziehung sehen wir uns zu den Menschen, die aus Elend und Not unterschiedlicher Art ihr Land verlassen und trotz lebensbedrohlicher Risiken ihre Rettung bei uns suchen?

Die Botschaft der Bibeltexte dieses Sonntags dürfte klar sein. Welche Konsequenzen werden wir daraus ziehen?

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