Sonntagsbotschaft zum 10. September 2023, dem 23. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A).
Um Gewissen und Propheten ruhigzustellen, erklären Regierende immer wieder ihre guten Absichten: „Wir schützen und bewahren die Lebensgrundlagen auf unserer Erde.“ Trotzdem zerstört weiterhin eine Gier nach ungezügeltem Wachstum die Ressourcen und die klimatischen Lebensbedingungen, die der Planet bereitstellt. Anerkannte Experten warnen seit Jahrzehnten öffentlich, dass die Lebensgrundlagen zerstört werden. Die Menschheit hört es, weiß es. Trotzdem ändert sich sehr wenig.
Die einen sehen schnell, wer Schuld hat, und geben sich damit zufrieden, die Schuldigen zu beschimpfen. Andere suchen nach Auswegen, um die drohenden Schäden abzuwenden oder wenigstens zu begrenzen. Wieder andere kümmert es nicht, weil sie selber noch nicht geschädigt sind. Politiker hören, verstehen, wollen den Kurs ändern, können aber anscheinend nicht. Warum?
Abgesehen vom aktuellen Ausmaß der Gefährdungen, hatte die Menschheit wahrscheinlich schon immer dieses Problem. In der Bibel wird es oft beschrieben. Wegweiser zur Problemlösung werden da als Gottes Hilfsangebot anerkannt, selten aber befolgt.
Etwa beim Propheten Ezechiel: Er nimmt Bezug auf die allgemeine politische Erfahrung und erinnert an die unbestrittene unterschiedlich verteilte Verantwortung: Auf der einen Seite die zur Warnung verpflichteten Wächter im Volk und auf einer anderen Seite das Volk, das gewarnt wird.
Damals ging es um die Gefahr der militärischen Bedrohung durch andere Völker. Ezechiel beschreibt die Problemlage sehr allgemein: Wenn ein Land mit Gewalt bedroht wird, sagt er, und wenn dann das Volk des Landes jemanden aus seiner Mitte zu seinem Wächter macht und wenn der dann das Schwert über das Land kommen sieht und das Volk warnt, … und wenn dann aber Menschen sich nicht warnen lassen, …!
Wer da spricht – Gott oder der Prophet – , greift hier die unbestrittene Erfahrung der Menschen auf und ihr einhelliges Urteil dazu, um sie aufzurütteln: Sie müssen sich ihrer jeweiligen Verantwortung bewusst werden und entsprechend handeln. Wie sie es ja sonst auch machen.
Das ist gar nicht irgendeine fromme Marotte oder eine autoritäre göttliche Verfügung. Es geht hier einfach um ein der Situation angemessenes Handeln, um Leben zu retten! Der Wächter muss warnen und sie müssen auf die Warnungen des Wächters hören! (vgl. Ezechiel 33,2-6)
Wenn an einem Stausee oberhalb einer Ortschaft der Staudamm bricht, dann muss der dafür vorgesehene Warndienst, sobald sich der Dammbruch abzeichnet, die Bevölkerung warnen und die bedrohten Menschen müssen dann Maßnahmen zur Rettung ergreifen und nutzen.
Das ist dieselbe Logik wie im Beispiel des unübersichtlichen Ausmaßes, in dem in früheren Jahrzehnten Asbest verbaut wurde. Fachleute warnen nachdrücklich vor schwerwiegenden Gesundheitsgefahren, wenn jetzt Sanierungsarbeiten an Fußböden und Wänden vorgesehen sind. Und betroffene Hauseigentümer? In ihrer Hilflosigkeit neigen sie dazu, die Warnungen in den Wind zu schlagen.
Zu dieser Art verbreiteter Problematik in vielen Lebensbereichen nimmt der Abschnitt aus dem Prophetenbuch Stellung, der für diesen Sonntag vorgesehen ist.
Allerdings bezeichnet die deutsche Einheitsübersetzung die Problematik wiederholt mit Worten, die vielen heutigen Menschen schlecht schmecken; so schlecht, dass sie sich nicht weiter damit beschäftigen wollen und sich einfach ausklinken.
Da geht es im deutschen Text zwar problemlos um „Wächter“, die vor Gefahren „warnen“, um die entsprechende Kommunikation und um die unterschiedliche Verantwortung aller Beteiligten. Aber da werden auch Menschen als „Schuldige“ bezeichnet und ihr Handeln als „Sünde“. Und unversehens wird beim schnellen Hinhören die Warnung vor einer Gefahr zu einer Drohung mit Strafe.
Wenn ich ins hebräische Original schaue, wie das dort formuliert ist, sehe ich: Es ist gar nicht nötig, solche Worte zu verwenden, ja vielleicht sogar besser, sie zu vermeiden, wenn sie für viele zum Anlass werden, das Ganze zu entsorgen in die für „typisch kirchlich“ erklärte Schublade mit dem Etikett „moralinsaures, autoritäres Schlechtes-Gewissen-Machen“.
Hier aber zunächst der für die Gottesdienste vorgesehene Bibeltext:
So spricht der Herr:
Du (aber,) Menschensohn,
ich habe dich dem Haus Israel
als Wächter gegeben;
wenn du ein Wort aus meinem Mund hörst,
musst du sie … warnen.
Wenn ich zum Schuldigen sage:
Schuldiger,
du musst sterben!
und wenn du nicht redest,
um den Schuldigen vor seinem Weg zu warnen,
dann wird dieser Schuldige
seiner Sünde wegen sterben;
sein Blut aber fordere ich
aus deiner Hand zurück.
Du aber, wenn du einen Schuldigen
vor seinem Weg gewarnt hast,
damit er umkehrt,
und er sich nicht abkehrt von seinem Weg,
dann wird er seiner Sünde wegen sterben;
du aber hast dein Leben gerettet.
(Ezechiel 33,7-9)
Der „Schuldige“, den der Wächter „vor seinem Weg warnen“ soll, heißt im Hebräischen רָשָׁע = rascha‘, ein Wort, das in der Bibel immer wieder als Gegensatz verwendet wird zu צַדִּיק = zaddík, zu einem rechtschaffenen, gerechten Menschen, der recht handelt. Die Übersetzung „schuldig“ greift also nur eine von vielen Deutungen des Wortes rascha‘ auf; anders übersetzen kann man es auch mit „einer, der unrecht handelt“ oder „ein Frevler“, …
Und mit „Sünde“ ist hier das hebräische Wort עָווֹן = ‘awón übersetzt. Es steht für „Unrecht“, „Vergehen“, …
Wenn du, Wächter in meinem Auftrag, deiner Aufgabe nicht nachkommst, Menschen vor der Gefahr zu warnen, die ihr unrechtes Handeln bringt, … So werden die „Wächter“ erinnert.
Und: Wenn du, der du unrecht handelst, von deinem Weg nicht abkehrst, obwohl ich dich habe warnen lassen vor den Gefahren, die dein Handeln bringt, … So werden die Gewarnten erinnert.
Statt von „Schuld“ und von „Sünde“ kann man also auch von „Verantwortung“ reden – von der unterschiedlichen, einander zugeordneten Verantwortung verschiedener Menschen.
Eine aktuell wichtige Frage für unsere Zeit könnte dann lauten: In welchem Zusammenhang steht die Verantwortung für das Management eines angemessenen Handelns mit der Verantwortung für die Folgen, wenn ein solches Handeln nicht in die Tat umgesetzt wird?
Beim Verstehen dieses Textes tun wir uns schwer: Es gibt da einen kulturellen Unterschied zwischen seiner Art, wie er Zusammenhänge von Verantwortung und Schuld der Beteiligten darlegt, und unserer heutigen Denkweise:
Dem modernen Denken ist es selbstverständlich, die Zwangsläufigkeit anzuerkennen von Zusammenhängen zwischen Ursachen und Wirkungen, zwischen Handlungsweisen und ihren Folgen.
Menschen der Antike aber empfanden stattdessen eine ihnen aufgezwungene Unterwerfung unter die Macht des Schicksals. Diese im Altgriechischen sogenannte Ἀνάγκη (Anánkē) wurde Sternen, Göttern, Geistern zugeschrieben. Demgegenüber galt es in Israel als höchst wichtig, solche Vielgötterei zu vermeiden und alles – auch das Schicksal und viel Übel aller Art – dem einen Gott zuzuschreiben. Da er ja Gott ist und deshalb auch sich nicht zu rechtfertigen braucht, war das zunächst kein Problem. Kritischen Einwänden begegnete man dann mit dem Bemühen um Entschärfung etwa mit dem Grundsatz, dass ein Leid oft als Gottes gerechte Strafe hinzunehmen sei. Oder Ijob, der schlimmstes Leid erleben musste und der in der Bibel als Vorbild hingestellt wird, sagt zu seiner Frau:
Nehmen wir das Gute an von Gott,
sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?
(Ijob 2,10)
Im Kontrast dazu greift Goethe die Problematik auf und lässt antike Lyrik sagen:
Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz; und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.
(J. W. v. Goethe, Gedicht ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung –
das 4. Gedicht im Zyklus „Urworte, orphisch –
Berliner Ausgabe. Bd. 1, S. 550 –
nach Wikipedia zum Stichwort „Ananke“)
Was kann dann uns im 21. Jahrhundert und angesichts einschlägiger Problematiken der Prophetentext aus der Bibel sagen? Besser gefragt: Was mag wohl Gott uns damit sagen wollen – vielleicht sogar mit seinem Herzblut und dem entsprechenden Nachdruck?
Ich höre: Wir sind alle gemeinsam verantwortlich. Antworten auf die Wirklichkeiten und auf alles uns Vorgegebene, dem wir begegnen, müssen wir alle – gemeinsam und aufeinander abgestimmt, jeweils nach dem eigenen Teil an der Verantwortung, je nach der eigenen Lebenssituation.
Ich kann dafür verantwortlich sein, mitzuwirken und beizutragen, dass eine wichtige „Warnung“ auf verständliche Weise und motivierend kommuniziert wird. Wenn das dann trotz aller ernsthafter Bemühung nicht befolgt wird, muss ich mich selber dafür aber nicht zerknirschen und verurteilen; vielmehr werde ich das dann als eine neue mir vorgegebene Wirklichkeit annehmen und neu beantworten. Der weitere Fortgang wird dann zeigen, wie wir uns – als Einzelne und als Gemeinwesen – selbst verwirklichen – orientiert an Verfassung und Verheißung, an Sehnsucht und Erfüllung.
Jesus – nachdem er seine Gemeinde als „Salz der Erde“ und als „das Licht der Welt“ bezeichnet hatte – er nennt das: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen.“ (vgl. Matthäus 5,13-17)