Blogbeitrag

wie Elija in der Höhle

Orientierung

7. Oktober 2021

Sonntagsbotschaft zum 10. Oktober 2021, dem 28. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr B. 

Totalausfall von Facebook samt WhatsApp und Instagram. Am Montagabend. 6 Stunden lang. Für 3,5 Milliarden Nutzer weltweit. Die Frankfurter Rundschau vom Mittwoch zitiert Markus Beckedahl von ‚netzpolitik.org‘: „Der Facebook-Absturz hat gezeigt, wie groß die Abhängigkeit von weiten Teilen der Bevölkerung von einem Unternehmen ist.“ Viele sind aus diesem Anlass aufmerksam geworden für das erschreckende Ausmaß, in dem Facebook einwirkt auf Milliarden von Menschen: auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit und auf die politische Meinungsbildung, ja auf die elementare Lebensorientierung. Und dazu kommt Frances Haugen, frühere Topmanagerin bei Facebook, die als Whistleblowerin die entsprechende Strategie offenlegt, mit der der Konzern – wie sie zusammenfasst –  „wirtschaftlichen Erfolg über das gesellschaftliche Wohlergehen“ stelle. Was wird da hinter unserem Rücken mit uns gemacht?

Auch in dieser Woche wurde bekanntgegeben: Den diesjährigen Nobelpreis für Physik erhalten Wissenschaftler für – wie es heißt – „bahnbrechende Beiträge zum Verständnis komplexer physikalischer Systeme“. Es geht um’s Klima und seine Abläufe, um die Funktionsweise der Nerven, um den Mikrokosmos wie auch um den Makrokosmos. Wir werden daran erinnert, wie wenig wir vom Leben wissen und von der Welt, in der wir leben, und wie hoch innerhalb unserer Vorstellungen von der Weltordnung in Wirklichkeit der Stellenwert von sogenanntem Chaos ist, von „Zufälligkeit“ und „Unordnung“. Keimt da eine neue Demut, die sich einfügt in ein Netzwerk-Biotop umfassender Abhängigkeiten und vielfältigen Angewiesenseins?

„Die Kinder können nicht mehr zuhören“. So titelt ein Bericht in der Frankfurter Rundschau über die Folgen der Pandemie für die seelische Gesundheit der Bevölkerung – aus einer Expertenrunde bei der Landesärztekammer Hessen. Immer wieder verunsichern neue Erkenntnisse über vorher nicht absehbare, für die Gesundheit schädliche Folgen des Kampfes gegen die Pandemie.

Merken wir gerade, dass wir mitten im Leben Lernende sind – Menschen, die ohne Zögern verantwortlich entscheiden und handeln müssen – und das immer auf der Grundlage des jeweils augenblicklich gegebenen Wissensstandes, den wir möglicherweise bereits morgen wieder korrigieren müssen?

Die „Pandora Papers“ – auch aus dieser Woche – enthüllen, dass mächtige Superreiche auf der ganzen Welt mit ihrer Finanzmacht in bisher unvorstellbarem Ausmaß der Menschheit auf der Nase herumtanzen – einfach weil das, was wir „Ordnung“ nennen, womit wir immer gemeint haben, alles im Griff zu haben, in Wirklichkeit ihre asoziale Energie mit einem alles verschleiernden Schutz umgibt und fördert.

Diesen aktuellen Realitäten gegenüber steht das eigentlich weltweit verbreitete Verständnis von der Würde aller Menschen und das entsprechende Menschenrecht aller, sowohl das eigene Leben in Freiheit zu gestalten als auch die Welt miteinander zu gestalten, in der wir leben. Wenn wir da aber aufeinander angewiesen sind und dabei vorgegebene Rahmenbedingungen miteinander teilen, wird das nicht gehen, ohne dass wir uns aufeinander abstimmen – im Befund von den Wirklichkeiten und in der grundsätzlichen Orientierung.

Klammheimlich sind aus so manchen Ansprüchen geradezu religiöse Systeme geworden:

  • Im reichen Westen hat sich eine Religion des individualisierten Ich etabliert, in der willkürlich und zufällig zustande gekommene Sichtweisen und Meinungen als Wahrheit und Recht geltend gemacht werden.
  • Und zur geradezu religiösen Erlösung aus der Bedeutungslosigkeit ist eine zwanghafte Immer-Erreichbarkeit und -Verfügbarkeit geworden, die eine Anerkennung gewichtiger Zugehörigkeit verheißt – in Familie und Freundeskreis ebenso wie in der Arbeit.
  • Und weltweit starke religiöse Macht mit einem eigenen Weltbild und mit einem System dogmatischer Vorgaben zur Orientierung allen Lebens entfaltet der Marktradikalismus, der die ganze Welt beherrschen will.

Orientierungslosigkeit bedeutet deprimierende Einsamkeit, die man vermeiden will. Das ist die Chance für alle Möchtegern-Religionen, die dann gerne als rettende Planke gelten. Zumal wenn traditionelle Religion sich – sozusagen institutionell belegt – unglaubwürdig gemacht hat.

 

Viele Herausforderungen, mit denen wir leben müssen! Fragen, die vielleicht zu allen Zeiten mehr oder weniger zum Leben dazugehören. Fragen, die verunsichern, die uns aber nicht zu ängstlichem Rückzug bewegen oder uns ohnmächtig wähnen können. Auch wenn viele Fragen lange Zeit offen bleiben; solange wir uns die eingestehen, können wir auch damit leben.

Mit einer Frage anfangen! Welcher Frage wende ich mich als erster zu – mit weitem Blick und mit einem vorläufigen Plan für die ersten anstehenden Schritte? Was ist jetzt wichtig? Worauf kommt es jetzt als erstes an?

Dafür brauche ich Zeit. Die muss ich mir nehmen. Am besten gemeinsam mit anderen, die sich auch dafür Zeit nehmen wollen. Oder allein in einer Zeit, in der ich zur Besinnung kommen kann. Für mich sind das immer wieder Urlaubszeiten, die ich allein verbringe und die dann für mich zu geistlichen Übungen werden, zu religiösen Exerzitien.

So zum Beispiel im vergangenen Jahr auf Kreta. Ein abseits gelegenes Haus an der Steilküste im Südosten der Insel. Von dieser Basis-Station aus Wanderungen durch Berge und Schluchten.

Da tauchen Fragen auf: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich? Wozu hab ich Lust? Was fehlt mir? Und dann muss ich lachen, weil ich gar nicht frage: Was soll ich? Was darf ich? Aber was ist das Wichtigste? Vertrauen? Verantwortung?

Da vagabundieren die Gedanken und die Fragen kommen von allein und finden ihre Wege. Oft denke ich dabei an den alttestamentlichen Propheten Elija, dem viele Kirchlein in den Bergen von Kreta gewidmet sind und die eine besondere Anziehungskraft auf mich ausüben. Elija, der irgendwann genug hatte von all den Fragen und Herausforderungen, der dann schließlich, zurückgezogen in einer Höhle, Gott begegnete, der ihn dann auf einen weiteren Wegabschnitt brachte.

Und der Herr sprach: Was willst du hier, Elija? – Ach, Herr, ich hab mich bis jetzt so viel bemüht, jetzt reicht’s. Und ich möchte herausfinden, was jetzt für mich am wichtigsten ist.

Als Anregungen zu solcher Orientierung eignen sich aus den Bibeltexten dieses Sonntags besonders die 1. Lesung aus dem Buch der Weisheit und das Evangelium aus Markus. In zeitlos sich wiederholenden Erfahrungen des Verlustes einer gemeinsamen Perspektive eröffnen sie einen Blick auf Wege, die überliefert werden, weil sie sich bewährt haben.

Ich betete
und es wurde mir Klugheit gegeben;
ich flehte
und der Geist der Weisheit kam zu mir.
Ich zog sie Zeptern und Thronen vor,
Reichtum achtete ich für nichts
im Vergleich mit ihr.
Einen unschätzbaren Edelstein
stellte ich ihr nicht gleich;
denn alles Gold
erscheint neben ihr wie ein wenig Sand
und Silber
gilt ihr gegenüber so viel wie Lehm.
Mehr als Gesundheit und Schönheit
liebte ich sie
und zog ihren Besitz dem Lichte vor;
denn niemals erlischt der Glanz,
der von ihr ausstrahlt.
Zugleich mit ihr kam alles Gute zu mir,
unzählbare Reichtümer waren in ihren Händen.
(Weisheit 7, 7-11)

Diese Worte werden dem König Salomo aus dem 10. vorchristlichen Jahrhundert zugeschrieben. Salomo war jung und wusste, dass er weder weise noch klug war. Aber er wusste sich verantwortlich und deshalb strebte er danach. Er wusste: Er konnte sich das nicht selber machen. Er wandte sich an Gott mit der flehentlichen Bitte um Klugheit und Weisheit. Das war ihm wichtiger als die Symbole seiner königlichen Macht, wichtiger als Reichtum, wichtiger als Gesundheit und Schönheit. Er machte damit gute Erfahrungen.

Salomo galt als ziemlich clever.

Und in dieser Tradition lernten viele Menschen auch Jesus kennen als einen Mann, der von Gottes Weisheit erfüllt war. Vor allem nach seinem Tod und als sie ihn als aus dem Tod auferstanden erfahren und als Gott selber begriffen hatten, sahen seine Anhänger in ihm tatsächlich Gottes Weisheit selbst am Werk und erzählten gerne weiter, was Jesus als Hilfe zu gelingendem Leben gesagt hatte.

In jener Zeit lief ein Mann auf Jesus zu,
fiel vor ihm auf die Knie
und fragte ihn:
„Guter Meister,
was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“

„Leben“! Danach streckt er sich aus. „Ewiges Leben“ – was meint er damit? Meint er damit eine bestimmte Lebensweise? Sinnvoll, erfüllt, glücklich leben? Oder spricht er von einem Leben nach dem Tod? Das bleibt offen.

In seiner Antwort verwendet Jesus weder das Wort „Leben“ noch „ewiges Leben“. Er spricht davon, „in das Reich Gottes [zu] gelangen“. Und der Mann, der sich mit seiner Sehnsucht so an Jesus wendet, geht von einem Zusammenhang aus, der ihm aber nicht klar ist: Er muss etwas tun, weiß aber nicht was, um das, was er „ewiges Leben“ nennt, „zu erben“. Worauf soll er in seinem Tun achten? Was soll er tun? Was ist wichtig? –

Und warum fragt er eigentlich so mit Nachdruck? Er ist ja sicher nicht der Einzige, der diese Frage hat. Hat er von anderen Menschen bisher noch keine Antwort gehört, der er vertrauen kann? Was sagen denn andere? Was sagt die Stimmungslage in der Gesellschaft? Oder glaubt er, dass Jesus in besonderer Weise in dieser Frage vertrauenswürdig ist? Immerhin – er nennt ihn „guter Meister“.

Was antwortet Jesus?

Jesus antwortete: „Warum nennst du mich gut?
Niemand ist gut außer der eine Gott.

Warum diese Distanzierung? – Keine Antwort. Jesus fährt fort:

Du kennst doch die Gebote:
Du sollst nicht töten,
du sollst nicht die Ehe brechen,
du sollst nicht stehlen,
du sollst nicht falsch aussagen,
du sollst keinen Raub begehen;
ehre deinen Vater und deine Mutter!“

Interessant finde ich: Jesus nennt nur die Gebote, die das soziale Verhalten betreffen, nicht aber die „religiösen“, die sich direkt auf Gott beziehen.

Er erwiderte ihm:
„Meister, alle diese Gebote
habe ich von Jugend an befolgt.“
Da sah ihn Jesus an,
umarmte ihn
und sagte: „Eines fehlt dir noch:
Geh, verkaufe, was du hast,
gib es den Armen
und du wirst einen Schatz im Himmel haben;
dann komm und folge mir nach!“
Der Mann aber war betrübt, als er das hörte,
und ging traurig weg;
denn er hatte ein großes Vermögen.

Jesus lässt ihn gehen. Die sehnsüchtige Frage des Mannes hat er beantwortet. Mit der Antwort hat der Mann ein Problem. Hat Jesus jetzt ihm ein Problem gemacht? Und ist ihm das egal? Wie steht Jesus eigentlich zu diesem Mann? – Zu seinen Worten „Eines fehlt dir noch …“ hat er ihn in die Arme genommen. Eher als eine Forderung ist das also ein freundschaftlicher oder liebevoller Tipp, mit dem Jesus ihn zu locken versucht, wie weit seine Sehnsucht nach dem Leben Kraft entfalten kann. Denn Jesus geht offensichtlich davon aus, dass das Reich Gottes eng verbunden ist mit einem solidarischen Teilen materieller Güter und dass jemand, der sich an einen großen Besitz auch innerlich eng gebunden hat, sich damit schwer tut. Offensichtlich macht das auch ihn traurig:

Da sah Jesus seine Jünger an und sagte zu ihnen:
„Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen,
in das Reich Gottes zu kommen!“
Die Jünger waren über seine Worte bestürzt.
Jesus aber sagte noch einmal zu ihnen:
„Meine Kinder, wie schwer ist es,
in das Reich Gottes zu kommen!
Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr,
als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“
(Markus 10, 17-30)

Was dann im Markus-Evangelium wie eine Fortsetzung dieser Erzählung aussieht, wechselt das Thema und die Perspektive. Zusätzlich aufkommende Schwierigkeiten des Verständnisses und dann der eigenen Stellungnahme dazu lenken vom bisher Gesagten ab. Deshalb halte ich hier meinen Versuch an, für die zu Beginn genannten aktuellen Herausforderungen in der Botschaft der Bibel von diesem Sonntag eine verbindliche Orientierung zu entdecken, die für den weiteren Weg ins Leben heute und für morgen hilfreich anregt.

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