Blogbeitrag

Good Samaritan Inn (1996)

Räuberei und Samariter

7. Juli 2022

Sonntagsbotschaft zum 10. Juli 2022, dem 15. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C). 

Wem würden Sie das Prädikat „barmherziger Samariter“ verleihen?
Bei dieser Frage wissen Sie sofort, was gemeint ist und worauf es bei einer solchen Anerkennung ankäme. Der „barmherzige Samariter“ ist sozusagen Kulturgut geworden: Er ist ein schönes moralisches Vorbild für ein optimales Sozialverhalten gegenüber Menschen in Not. Wahrscheinlich wissen auch die meisten Menschen, dass der „barmherzige Samariter“ eine Figur der Bibel ist.

Ja, das Lukas-Evangelium überliefert diese Geschichte. Jesus erzählt sie. Offensichtlich ist es seine spontane Dichtung:

Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab
und wurde von Räubern überfallen.
Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder;
dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.
Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab;
er sah ihn und ging vorüber.
Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle;
er sah ihn und ging vorüber.
Ein Samariter aber, der auf der Reise war,
kam zu ihm;
er sah ihn und hatte Mitleid,
ging zu ihm hin,
goss Öl und Wein auf seine Wunden
und verband sie.
Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier,
brachte ihn zu einer Herberge
und sorgte für ihn.
Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor,
gab sie dem Wirt und sagte:
Sorge für ihn,
und wenn du mehr für ihn brauchst,
werde ich es dir bezahlen,
wenn ich wiederkomme.
(Lukas 10,30-35)

Worum geht es da?

Die Straße von Jerusalem aus, etwa 40 km abwärts ins 1000 m tiefer liegende Jericho, war in der Antike eine Hauptverbindungsstraße mit relativ viel Durchgangsverkehr; ein interessantes Feld auch für Straßenräuber.

1996 habe ich auf einer Israel-Wallfahrt dieses Bild von der Straße aufgenommen. Am Straßenrand die Herberge mit dem Schild „Welcome to the Good Samaritan Inn“. Ein Stück weiter am Hang neben der Straße dieses Beduinen-Camp und ein bettelnder Junge, der von dort herbeilief.

In der Geschichte ist dann die Rede von einem „Priester“. Priester waren Männer, die am Tempel von Jerusalem jeweils für eine Reihe von Tagen Dienst taten. Ihr Wohnort konnte in der weiteren Umgebung liegen. Der Priester in der Geschichte kommt diesen Weg „herab“. Anscheinend ist seine Schicht am Jerusalemer Tempel zu Ende und er ist auf dem Heimweg.

Von dem genannten „Levit“ ist nicht gesagt, in welcher Richtung er geht. Auch er ein religiöser Jude, der am Jerusalemer Tempel schichtweise Dienst tut.

Und dann ist ein sogenannter „Samariter“ genannt. Also ein Mensch aus Samarien, dem Gebiet westlich des Jordans zwischen Galiläa im Norden und Judäa im Süden. „Samariter“ oder „Samaritaner“ waren seit den babylonischen Deportationen und Umsiedlungen eine Bevölkerung vielfältiger Herkunft mit einer neu gemischten Religion – von Juden weitgehend gemieden und verachtet. (Landkarte aus: Der Bibel-Atlas, © 1991 Hoffmann und Campe)

Ein solcher Mann aus Samarien ist hier auf der Reise durch Judäa.

So weit zunächst zu Ort und Personen der Geschichte.

Und was ist das fiktive Geschehen, von dem Jesus erzählt?

Nehmen wir mal an, da liegt auf der Straße ein Mann, ausgeraubt, niedergeschlagen, halbtot. Und jetzt kommen nacheinander drei Personen dazu: Priester, Levit, Samaritaner. Jesus beschreibt, wie sie sich verhalten: Der Priester sieht ihn liegen und geht weiter. Ebenso der Levit. Und der Samaritaner nimmt sich des halbtot Daliegenden an und scheut keinen Aufwand, ihm zu helfen. Alle drei verhalten sich ungewöhnlich; jedenfalls anders, als man es von ihnen erwarten würde. Was will Jesus damit sagen?

Der Priester, Diener am Tempel, Mann Gottes, der Gottes Willen lehrt und weiß, dass es danach am wichtigsten ist, Menschen im Elend zu helfen – er geht vorbei. Seltsam: Die meisten heutigen Erklärungen dieser Geschichte gehen davon aus, dass der Priester auf dem Weg zum Tempel ist und wahrscheinlich deshalb vorbeigeht, weil er rechtzeitig seinen Dienst beginnen muss. Dabei sagt aber Jesus im Text, dass er den Weg von Jerusalem „herab“ kommt. Wird da der „Priester“ als „Kollege“ gesehen, dessen unerwartete Unmenschlichkeit man beschönigen und rechtfertigen will?

Das Verhalten des Leviten ist weniger prägnant einzuordnen, aber auch er ist ein Vertreter der offiziellen Religion. Wenn Jesus ihn nach dem Priester noch anfügt, so habe ich den Eindruck, das tut er, um deutlich zu machen, dass er diesen Priester nicht nur als Einzelfall meint.

Und dann kommt der Samaritaner. Von ihm würde man am wenigsten erwarten, dass er dem Verletzten Beistand leistet, schon gar nicht mit solchem aufwändigem Einsatz.

Was will Jesus jetzt mit dieser Geschichte? Sie eignet sich gut zum antiklerikalen „Priester-bashing“. Auch wenn die Stellung als „Priester“ in der Kirche etwas sehr Anderes ist als die Stellung der „Priester“ in Israel. Ist es das, was Jesus hier sagen will?

Die Absicht, mit der Jesus die Geschichte so erfindet, ergibt sich aus dem Zusammenhang der Situation. Da läuft etwas, was ihm zum Anlass wird für diese Erzählung:

In jener Zeit
stand ein Gesetzeslehrer auf,
um Jesus auf die Probe zu stellen,
und fragte ihn:
Meister, was muss ich tun,
um das ewige Leben zu erben?
Jesus sagte zu ihm:
Was steht im Gesetz geschrieben?
Was liest du?
Er antwortete:
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
mit deinem ganzen Herzen
und deiner ganzen Seele,
mit deiner ganzen Kraft
und deinem ganzen Denken,
und deinen Nächsten wie dich selbst.
Jesus sagte zu ihm:
Du hast richtig geantwortet.
Handle danach und du wirst leben!
Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen
und sagte zu Jesus:
Und wer ist mein Nächster?
(Lukas 10,25-29)

Und darauf antwortet Jesus mit dieser Erzählung. Was ist da seine Antwort? Was will er mit der Geschichte dem fragenden Gesetzeslehrer sagen?

Der hatte ja mit seiner Frage eine ganz bestimmte Absicht: Erst einmal wollte er Jesus „auf die Probe stellen“. Inwiefern? Vermutlich wollte er Jesus aufs Glatteis führen, um ihm endlich nachweisen zu können, dass er mit seiner Verkündigung und seinem Tun gegen das Gesetz verstößt.

Warum er mit dieser Absicht ihm gerade die Frage nach dem ewigen Leben stellt, erschließt sich mir nicht. Vielleicht meint er ja, Jesus einer Lehre überführen zu können, die das ewige Leben auch am Gesetz vorbei verspricht. Wobei eigentlich auch zu klären wäre, was hier mit „ewigem Leben“ gemeint ist: ein zeitlich unbegrenztes Leben nach dem Tod? oder ein Leben neuer Art schon jetzt in einer Dimension, die Zeit und Tod umgreift?

Wie antwortet Jesus auf die ihn herausfordernde Frage?

Als erstes wirft er den Ball zurück und verweist den Gesetzeslehrer auf das Gesetz, in dem er ja schließlich ein Fachmann ist. Wahrscheinlich ist der Gesetzeslehrer erst einmal verblüfft, dass Jesus die Autorität des Gesetzes nicht ignoriert, vielmehr sich mit seiner Rückfrage gerade darauf bezieht. Jetzt ist er der, dessen Vertrautheit mit Gottes Gesetz auf die Probe gestellt wird. Jetzt soll er sagen, was er selber da verstanden hat, worauf es beim sogenannten „ewigen Leben“ mit Vorrang ankommt.

Er antwortet, und Jesus freut sich über seine Antwort. Es ist klar geworden – unabhängig davon, wie „ewiges Leben“ zu verstehen sei: Das wichtigste jedenfalls ist: Wenn man sich das von Gott erhofft und wenn man das als Zugang zu Gott und zum ewigen Leben verkündet, – das Wichtigste ist eine wirkliche Liebe zu Gott und eine Liebe zum Nächsten, die der Selbstliebe gleichkommt – eine Liebe, die sich im entsprechenden Verhalten zeigt und bewährt.

Handle danach und du wirst leben!
Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen
und sagte zu Jesus:
Und wer ist mein Nächster?

Anscheinend fühlt er sich in die Enge getrieben. Sein Versuch der Kritik an Jesus fällt jetzt auf ihn selber zurück. Wahrscheinlich ins Schwitzen gekommen, sucht er seine Rechtfertigung in der Abgrenzung, die auf den ersten Blick zwingend logisch erscheint:

Ist ja gut und schön. Aber ich kann mich ja nicht allen Menschen auf dieser Erde in Liebe zuwenden. Irgendwo muss ich doch die Grenze ziehen, bis wo das Erfordernis liebevoller Zuwendung zu anderen auch mich persönlich verpflichtend angeht. Und Gott selber im Gesetz ruft ja auch nur auf, den Nächsten zu lieben. Wo darf und muss ich also die Grenze ziehen, wer „mein Nächster“ ist und wer nicht?

Eigentlich hat er schon ganz gut verstanden, worauf es ankommt. Das sollte man ja von ihm auch erwarten dürfen, da er für viele Menschen ein Lehrer ist in solchen Fragen um ein sinnvolles Leben und um Gott und die Welt. Aber jetzt drückt ihn die Frage nach dem „Nächsten“. Gut, dass er sie an Jesus richtet.

„Wer ist mein Nächster?“

Als Antwort belehrt Jesus ihn nicht demütigend, sondern einfühlsam wie immer, wenn Menschen sich offen auf die Auseinandersetzung mit ihm einlassen, erzählt er als fiktives Beispiel die Geschichte um den unter die Räuber Gefallenen.

Dieser Mensch in seinem Elend wird zum Mittelpunkt. Alles misst sich daran, wann wer wo wie ihm hilft.

Seit dem aktuellen Missbrauchsskandal haben wieder mehr Menschen einen Sinn für diesen nötigen „Blickwinkel der Betroffenen“.

Es geht hier nicht nur um Priester-Bashing. Es geht ganz umfassend um die Frage: Als Mensch, der sich „Leben in Fülle“ – gleich, welcher Version – aus der glaubenden Verbindung mit Gott erhofft, bewegt mich denn das dazu, für Menschen in Not – egal welcher Art – einen Blick und ein Herz zu haben und mich einzusetzen?

Deshalb fragt Jesus:

Wer von diesen dreien meinst du,
ist dem der Nächste geworden,
der von den Räubern überfallen wurde?

Jetzt kann der so angesprochene Mensch, zumal er sich dem großen barmherzigen Gott verbunden weiß, sich nur noch dazu bekennen:

Der Gesetzeslehrer antwortete:
Der barmherzig an ihm gehandelt hat.
Da sagte Jesus zu ihm:
Dann geh und handle du genauso!
(Lukas 10,25-37)

Menschen in Not, die in meinem Horizont auftauchen – egal ob in Präsenz oder online oder in den Medien – berühren sie meine Sehnsucht nach erfülltem Leben, die sich von Jesus her anregen lässt, so dass ich danach strebe, ihnen näher zu kommen, ja ihnen ein Nächster zu werden, ob ich ihnen beistehen kann?

Die Geschichte vom barmherzigen Samariter, genauer gesagt: das Streitgespräch zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer bekommt mit diesem Sonntag seinen Stellenwert als „Evangelium“, als die Botschaft, die uns zum Brot wird fürs „ewige Leben“ – über alle Begrenzungen hinweg und schon jetzt.

Die Freude daran stärkt die Gewissheit: Wer immer in einer solchen Haltung lebt – Priester oder Levit oder Samaritaner oder Hesse – , steht mitten im Leben, wie es gemeint ist.

Wer mit diesem Blick und diesem Vertrauen anderen Menschen begegnet, wird sich dann natürlich auch nicht damit zufrieden geben, schmerzhafte Symptome des Elends zu lindern. Wer sieht, dass die Ursache menschlicher Not in einer gesamtgesellschaftlichen Dynamik liegt, wird dann natürlich nicht sagen „Oh, das musst du halt hinnehmen; das ist ja Politik und da hat sich Religion herauszuhalten.“

Unser damaliger Limburger Bischof Franz Kamphaus hat es am Hessentag 1998 in Erbach im Odenwald wegweisend so gesagt:

„Wir dürfen uns als Kirche nicht in eine Ecke abdrängen lassen, wo wir sozusagen als Lazarett – Caritas, Diakonie – als Lazarett-Station ganz gut sind, aber in den Fragen ‚Was bringt denn die Leute dahin, dass sie nicht mehr weiterkommen? Was macht Menschen kaputt?‘ – da können wir uns nicht zu Wort melden? – Das geht nicht! Wir müssen auch die konkreten Zustände, die nicht rechtens sind und die nicht gut sind, beim Namen nennen!

Es wird leicht von der Bibel her mit dem barmherzigen Samariter gedacht: „Ja, so ist die Kirche eigentlich ganz gut, in der Rolle des Samariters. Aber wir haben – und das hat Jesus ja durchaus auch getan – wir haben weiterzudenken: Was passiert denn, wenn der gute Mann, der unter die Räuber gefallen ist, wieder auf die Beine kommt, den Weg von Jericho nach Jerusalem zurückgeht und wieder unter die Räuber fällt?!

Das heißt: Es genügt nicht, sich um die Wunden zu sorgen, sondern es geht auch um die Strukturen: Die räuberischen Strukturen müssen ins Auge gefasst und benannt werden. Dafür sind wir als Kirche auch da, und insofern verstehe ich das Einmischen in politische Zusammenhänge.“

(aus dem Bericht vom Hessentag von hr 1 am 24.06.1998)

Das will unbedingt mit bedacht werden, wenn es um das Bestreben nach Leben geht, nach erfülltem Leben – mit einer Frage wie die des Gesetzeslehrers: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“

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