Sonntagsbotschaft zum 15. August 2021
(Fest von Marias Aufnahme)
Sie beeilt sich, macht sich auf riskanten Weg – zwar nicht mit einem Boot übers Mittelmeer, aber mit einem Maultier übers Gebirge. In ihrem Elend wird sie schließlich von Verwandten aufgenommen:
In jenen Tagen machte sich Maria auf den Weg
und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa.
Sie ging in das Haus des Zacharias
und begrüßte Elisabet.
Und es geschah:
Als Elisabet den Gruß Marias hörte,
hüpfte das Kind in ihrem Leib.
Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt
und rief mit lauter Stimme:
Gesegnet bist du unter den Frauen
und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.
Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?
Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte,
hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib.
Selig ist die, die geglaubt hat,
dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.
(Lukas 1,39-45)
Unverhofftes Erbarmen begegnet ihr! In ihrem Hunger empfängt sie das Wort und erfährt sich darin neu angesehen, aufgerichtet, neu würdig gemacht – die junge unverheiratete Frau, die dennoch schwanger ist und die deshalb von den Hochmütigen, den mächtigen und reichen, schwer erniedrigt und verachtet wird. Und nach dieser Begrüßung durch Elisabet – Marias Antwort, die bis heute das tägliche Abendgebet der Kirche erfüllt:
Meine Seele preist die Größe des Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.
Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
Denn der Mächtige hat Großes an mir getan,
und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten.
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
und denkt an sein Erbarmen,
das er unsern Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
(Lukas 1,46-55)
Der alte Jubel, fast vergessen, bricht sich Bahn von neuem: Die gleiche Erfahrung hatte ja schon Hannah besungen, Jahrhunderte vorher, Hannah, die eigentlich unfruchtbar war, aber dann dennoch – staunend, froh und dankbar – ihren spät geborenen Sohn Samuel zum Tempel brachte – mit dem Lobgesang, den die Kirche sich in ihrem Stundengebet auch zu eigen gemacht hat:
Mein Herz ist voll Freude über den HERRN,
große Kraft gibt mir der HERR.
Weit öffnet sich mein Mund gegen meine Feinde;
denn ich freue mich über deine Hilfe.
Niemand ist heilig, nur der HERR;
denn außer dir gibt es keinen Gott;
keiner ist ein Fels wie unser Gott. …
Der Bogen der Helden wird zerbrochen,
die Wankenden aber gürten sich mit Kraft.
Die Satten verdingen sich um Brot
doch die Hungrigen können feiern für immer.
Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder
und die Kinderreiche welkt dahin.
Der HERR macht tot und lebendig,
er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf.
Der HERR macht arm und macht reich,
er erniedrigt und er erhöht.
Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub
und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt;
er gibt ihm einen Sitz bei den Edlen,
einen Ehrenplatz weist er ihm zu. …
(1 Samuel 2,1-8)
Wie kommt es, dass die Bibel solche Gesänge überliefert? – Offensichtlich haben Menschen am eigenen Leib entsprechende Erfahrungen gemacht, die sie Gott zuschreiben und die sie veranlassen, so in Jubel auszubrechen. Was haben sie erfahren?
Die Worte überraschen. Da ist die Rede von Erniedrigten, von Hungernden, von Schwachen im Staub, von Armen, die im Schmutz liegen, … In einem religiösen Loblied auf Gott erwartet man eigentlich Anderes. Was hat Gott damit zu tun?
Er hebt sie empor, weist ihnen einen Ehrenplatz zu, verhilft ihnen zu neuer Kraft, beschenkt sie mit seinen Gaben! Er hat einen Blick für sie, hat auf sie „geschaut“, singt Maria – auf Latein „respexit“ – mit neuem Respekt. Er erbarmt sich der erbarmungslos Kleingemachten und Kleingehaltenen.
Und die satten und hochmütigen Reichen und Mächtigen, die sich von Menschenwürde und Gemeinwohl keine Rendite erhoffen, die entmachtet er. Der Bogen der Helden wird zerbrochen, er „stürzt sie vom Thron“, lässt sie „leer ausgehen“, so dass sie sich plötzlich um ihr Brot mühen müssen.
Bei Maria wie bei Hannah, es ist derselbe Gott. Wie im Anfang, so auch jetzt. Auch heute? Immerhin – Christen singen das bis heute!
Wie steht Gott heute zu den Erniedrigten, deren Menschenwürde in Gefahr ist, und zu denen, die beim Gemeinwohl zu kurz kommen?
Was ist mit den prekär Beschäftigten in Pflege, Logistik und Handel, mit Minijobberinnen und Geringverdienern, mit Clickworkern und Arbeitslosen? Wo sind die Menschen mit Behinderungen, ohne Wohnung, auf der Flucht, die in Jubel ausbrechen können wie Maria und wie Hannah???
Und warum konzentriert sich Macht immer mehr bei Reichen, die immer reicher werden und die für die Würde der Armen bestenfalls ein Almosen übrig haben?
Obwohl zum Beispiel die Hessische Landesverfassung – wie es in Artikel 39 heißt – „Missbrauch der wirtschaftlichen Freiheit … zu politischer Macht … untersagt“ und „Vermögen, das die Gefahr solchen Missbrauchs wirtschaftlicher Freiheit in sich birgt, in Gemeineigentum zu überführen“ und dabei unter Umständen auch eine „Entschädigung zu versagen“ sei?! Kein kommunistisches Programm, sondern heute geltendes Recht!
Für eine gerechte Verteilung von Lasten und Chancen, die eigentlich in einem „sozialen und demokratischen Rechtsstaat“ wie der Bundesrepublik Deutschland nach ihren Werten von Menschenwürde und Gemeinwohl auf ihren Fahnen geschrieben steht, – dafür braucht es „nur“ noch den heiligen Mut und das Verantwortungsbewusstsein, das auch in politische Realität umzusetzen.
Menschen, die im Sinn der Gesänge von Maria und Hannah und auf den Spuren von Jesus auf den Gott ihre Hoffnung setzen, der einen Blick für den Menschen hat und der mit seinem Erbarmen sich einmischt in das Zusammenleben der Menschheit, solche Menschen werden die Energie ihrer Hoffnung, ihres Glaubens und ihrer Liebe zu Gott und zu den Menschen dafür einsetzen, beizutragen und mitzuwirken, dass sein Wille geschehe – nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden!
Zu meiner Freude hat da zum Beispiel die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands einen Katalog mit Fragen entwickelt, die für die bevorstehende Bundestagswahl die Kandidaten aller demokratischen Parteien an die entsprechende Verantwortung erinnern, damit die Wählerschaft sich an ihren Antworten dann klarer orientieren kann.
Der Fragenkatalog der KAB konzentriert die Aufmerksamkeit auf
- „menschenwürdige statt prekäre Arbeit“,
- auf „Verteilungsgerechtigkeit“,
besonders hinsichtlich der Lasten, die von der Corona-Pandemie verursacht wurden, - auf die nötige „sozial-ökologische Erneuerung“ der Wirtschaft
mit dem Ziel des Wohlstands für alle - und auf Stärkung und Ausbau der Demokratie,
auch im Bereich der Wirtschaft.
„Selig, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.“ Dieses Wort von Elisabet gilt ja nicht nur Maria, sondern allen, die hören, was Gott durch die ganze Bibel hindurch für ein gelingendes Leben der Menschheit sagen lässt.
Aber es ist alles andere als selbstverständlich, dass Menschen glauben, dass sich erfüllt, was Gott hat sagen lassen! Allerdings gilt diese Seligpreisung oder Gratulation jedem Menschen, der sein Wort empfängt und der es in der Gewissheit des Glaubens mit Wort und Tat zur Welt bringt und so zeigt und dazu beiträgt, was Gott in seinem Erbarmen mit der ganzen Menschheit vorhat. Wenn auch diese Gewissheit verbreitet auf Widerstand der Welt stößt, die gar nicht gerne bereit ist, ihn aufzunehmen – wie es der bekannte weihnachtliche Prolog am Anfang des Johannes-Evangeliums sehr realistisch benennt:
Wenn auch „die Welt durch ihn geworden“ ist und er „unter uns Wohnung nimmt“ als einer von unserem „Fleisch und Blut“. Das „Wort“, das von Anfang an Gott war, und durch das alles geworden ist, kam zwar als Mensch in die Welt, „aber die Welt erkannte ihn nicht, … die Seinen nahmen ihn nicht auf.“
Aber ermutigend fährt das Johannes-Evangelium fort: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er …“ es, sich als Gottes Kinder zu wissen, die dann mit dem Johannes-Evangelium sagen können: „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen!“ (Johannes 1,10-14)
„Selig, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.“ Die Bibel, die uns das Magnificat überliefert hat, den großen Lobgesang der Maria, sie macht Mut, den Geist zu leben, der dieses „Wort“ erfüllt. Sie erzählt so viele Beispiele von diesem Gott, der als Mensch voller Erbarmen denen neues Ansehen gibt, die sonst übersehen werden:
- Er sieht neu die verachtete Sünderin, die ihn beim Pharisäer Simon aufsucht, die seinem Blick für sie traut und so neue Freiheit findet.
(Lukas 7,36-50) - Er sieht die von allen übersehene gekrümmte Frau, die sich von ihm aufrichten lässt.
(Lukas 13,10-17) - Er sieht den von allen gemiedenen Zachäus, der es nun nicht mehr nötig hat, sich unbeliebt zu machen.
(Lukas 19,1-10) - Er sieht die ohne Aussicht lebende Witwe von Nain, der jetzt auch noch der Sohn gestorben ist.
(Lukas 7,11-17) - Er sieht Petrus, der ihn jämmerlich verleugnet, um seine eigene Haut zu retten.
(Lukas 22,61) - Und so weiter.
Sie alle erfahren mit ihm neues Ansehen, empfangen das Wort und glauben. Und durch die Erzählungen davon in der Bibel bringen sie ihn, das Wort, von neuem zur Welt!
Ihn können wir auch heute wieder empfangen und zur Welt bringen, so dass in unserer problembeladenen Zeit Menschen – ihrer Würde gemäß – neu Ansehen finden:
- die prekär Beschäftigten,
- die Geflüchteten,
- die Opfer der Flutkatastrophe,
- der Pandemie
- und der längst begonnenen Klimakatastrophe, …
Hauptsache, wir glauben, dass sich erfüllt, was der Herr sagen lässt! Denn dann werden wir gemeinsam den, den wir aufgenommen und empfangen haben, voller Mut und Hoffnung zur Welt bringen!