Blogbeitrag

Spazierweg am Fechenheimer Mainufer 2022

So viele Fragen

29. September 2022

Sonntagsbotschaft zum 2. Oktober 2022, dem 27. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C). 

Was in der Welt läuft und was das alles mit mir macht, das löst zur Zeit viel Ratlosigkeit aus. Nicht nur bei mir. Zumal das eigene Leben ja auch noch seine Überraschungen bringt.

In vielen Fragen sehe ich mich überfordert. Aber ich will mich der Wirklichkeit stellen, will wenigstens verstehen und, wenn möglich, irgendwie mitgestalten, was geschieht!

Gemeinsam mit vielen anderen Menschen, die ihre Orientierung in Gott festgemacht haben, schwindet mir in vielen Problemen der Halt. Da läuft so vieles ganz anders, als es der Glaube an ihn verheißen hat!

Der erste Abschnitt aus der Bibel, der an diesem Sonntag vorgesehen ist – wenn nicht Erntedank gefeiert wird – macht sich zum Lautsprecher für diese Ratlosigkeit:

Wie lange, HERR, soll ich noch rufen
und du hörst nicht?
Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt!
Aber du hilfst nicht.
Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen
und siehst der Unterdrückung zu?
Wohin ich blicke,
sehe ich Gewalt und Misshandlung,
erhebt sich Zwietracht und Streit.

Krieg in der Ukraine, Bürgerkrieg in Eritrea, im Jemen, in Mali, … Unterdrückung der Uiguren in China und der Rohingya in Myanmar,  Diskriminierung und Rechtlosigkeit so vieler Menschen in der ganzen Welt, auch in Europa immer mehr Macht von Autokraten und von Nationalismus, Zerstörung und Vergiftung der Lebensgrundlagen auf der Erde! Alles kostet immer mehr und viele wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen! Und dazu noch die Selbstzerbröselung der Kirche! Wo bleibt da Gott?!

Solche Klagen finden sich zahlreich auch in der Bibel:

Wie lange noch, HERR,
vergisst du mich ganz?
Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht vor mir?

(Psalm 13,2)

So in Psalm 13 – und ähnlich an vielen anderen Stellen.
(z.B. Psalm 6,4; 35,17; 74,9-10; 79,5; 80,5; 89,47; 90,13; 94,3)

Und wenn überhaupt, gibt es dann Antworten, die sehr mager ausfallen. So wie auch hier beim Propheten Habakuk:

Der HERR gab mir Antwort und sagte:
Schreib nieder, was du siehst,
schreib es deutlich auf die Tafeln,
damit man es mühelos lesen kann!
Denn erst zu der bestimmten Zeit
trifft ein, was du siehst;
aber es drängt zum Ende
und ist keine Täuschung;
wenn es sich verzögert,
so warte darauf;
denn es kommt,
es kommt und bleibt nicht aus.
Sieh her:
Wer nicht rechtschaffen ist,
schwindet dahin,
der Gerechte aber
bleibt wegen seiner Treue am Leben.

(Habakuk 1,2-3; 2,2-4)

„Die Bösen verschwinden und die Guten bleiben“ – kann mir das eine Antwort sein? Kann mir das mehr werden als eine Behauptung, die ich höre? Selbst wenn – das reicht mir nicht. „Warten“! Wie lange noch?!

Ich wehre mich auch gegen die Passivität, die mir da zugemutet wird. Es entspricht doch meiner Würde als Geschöpf nach Gottes Bild, dass ich aktiv beitragen und beteiligt sein will an der Überwindung von Not und Gewalt; an der Überwindung von allem Bösen und am Herbeiführen von Lösungen, von Heilung, Frieden und Gerechtigkeit. Ich will dem „Reich Gottes“, also seiner Liebe als alles prägender Kraft den Weg bereiten, will mich und meine Umgebung dafür bereit machen. Aber einfach warten?

In meiner Unruhe muss ich an die Luft, nach draußen, mich bewegen. In der Natur spazieren gehen – das hat mich schon oft inspiriert. Aus den Bibeltexten des Sonntags muss es doch etwas zu hören geben, was anregt und aufrichtet, hilft und weiterbringt! Die anderen Texte scheinen mir ja noch ferner oder komplizierter zu verstehen; so sehe ich mich – wenigstens lebensnah – mit diesem Prophetentext konfrontiert und frage: Was willst du, Gott, uns heute damit sagen?

Damit mache ich mich auf den Weg.

Es ist kalt geworden. Jacke anziehen. Und es sieht nach Regen aus. Also Schirm mitnehmen.

Warten – und gehen; das tut schon mal gut, da bin ich nicht passiv und doch zugleich ganz „auf Empfang.“

Einfälle kommen mir in den Sinn: Wer sucht, der findet. Wer fragt, kann Antwort bekommen. Wer vor Gericht klagt, kann zu seinem Recht kommen. Wer unzufrieden ist und das geltend macht, kann mehr erreichen.

Aha.

Warten. Eigentlich ist mir da ein anderes Wort lieber. Ein zwar altes Wort, aber es lässt meine zornige Ungeduld beim Warten besser spüren, wenn ich sage: „harrren“. „Beharrrlichkeit“ ist auch nicht von gestern. Das arbeitet in mir und atmet zugleich Ausdauer und Gewissheit. „Beharrlich“.

Ja, manchmal ist eine solche innere Haltung notwendig. Vor allem wenn man etwas erreichen will und sich nicht begnügt mit Vorwürfen gegen Gott und die Welt. Und wenn ich wirklich mit dem Ziel, was ich erwarte, identifiziert bin, dann kann das sogar – in solcher Zeit des Wartens – bei aller klaren Wahrnehmung der noch ganz anderen Realität – zu einer gewissen inneren Ruhe führen, mit der ich „am Ball“ bleibe.

Die Bibel spricht oft vom „Warten“, vom „Ausharren“ und erzählt immer wieder, wie sehr sich das lohnt. Ich las dieser Tage wieder einmal die Bücher Esther und Tobit. Und beide Male, als ich bei der Wende ankam, die der Haufen an Problemen nimmt – durch unauffällig im Hintergrund durch Gott gefügte Zusammenhänge – , löste das mir Schluchzen und Tränen aus – mit der Sehnsucht, die der Psalm 37 atmet:

„Befiehl dem Herrn deinen Weg
und vertrau ihm;
er wird es fügen.“

Bei der Lektüre des Buchs Judith bin ich jetzt schon darauf eingestellt und reagiere nüchterner: Ja, ich weiß: Diese „Fügungen“ kann Gott immer dann bewerkstelligen, wenn Menschen beteiligt sind, die ein bis ins Herz offenes Ohr für ihn haben und auch offen bleiben, wenn seine Antwort auf sich warten lässt.

Solches Warten ist offensichtlich etwas sehr Aktives – und findet in großer Ruhe statt. Das Grundmuster der Beziehung zwischen Gott und Menschen ermöglicht die Autonomie durch Gottes Respekt vor der Würde des oft überforderten Menschen. Die Bibel nennt das immer wieder: „Ich euer Gott, ihr mein Volk.“ und: „Du unser Gott, wir dein Volk.“

Eigentlich ist uns so etwas durchaus vertraut: Als Autofahrer gestalte ich „autonom“ und verantwortlich den zügigen Verkehrsfluss auch bei dichtem Verkehr dann erfolgreich, wenn ich das Gesamtbild des Verkehrs in meinem Umfeld beachte und mich dabei den einzuhaltenden „Spielregeln“ unterwerfe. Oder: Meine Zeit nutze ich dann selbstbestimmt erfolgreich, wenn ich meine Bedürfnisse und Interessen ebenso im Blick habe wie auch die Erfordernisse und Bedürfnisse der Menschen und der Abläufe in meiner Umgebung, der zugeordnet ich lebe. Das bedeutet ein gehöriges Mich-Einfügen, eine Unterordnung, die meine Autonomie nicht mindert, sondern gerade erst möglich macht!

Es braucht beides: Ausdauer im Hören auf Gott und die auf die Beine bringende, freudige Gewissheit, dass er die verheißene Erfüllung der Sehnsucht nach erfülltem Leben schenkt.

Eine solche Einstellung will heranwachsen. Diejenigen in der Kirche, die das Stundengebet pflegen, machen sich täglich das Jahr hindurch diese Einstellung präsent – im „Weckpsalm“ beim Beginn des täglichen Gebets am Morgen: Psalm 95 – aus dem an diesem Sonntag auch der Antwortpsalm dieselbe Einstellung offensichtlich meint, die durch diese 1. Lesung wachgerufen werden will.

Kommt, lasst uns jubeln dem HERRN,
jauchzen dem Fels unsres Heils!
Lasst uns mit Dank seinem Angesicht nahen,
ihm jauchzen mit Liedern!

Kommt, wir wollen uns niederwerfen,
uns vor ihm verneigen,
lasst uns niederknien
vor dem HERRN, unserem Schöpfer!
Denn er ist unser Gott, …

Würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören!
Verhärtet euer Herz nicht wie in Meríba,
wie in der Wüste am Tag von Massa …

(Ps 95, 1-2.6-9)

Der moderne Mensch, jedenfalls der sich seiner Würde bewusst gewordene Mensch, wirft sich vor nichts und niemandem nieder. Wer sich dennoch – auch noch freiwillig – unterwirft – jemandem, den er vergöttert, muss wohl irgendwie krank sein und dann „mit Gottvertrauen in den Abgrund springen“. Wahrscheinlich schämen sich deshalb viele, sich zu outen als Menschen, die sich voller Vertrauen Gott unterwerfen – wissend warum – und ausschließlich diesem Gott!

Wer auf dem Sehnsuchtsweg in ein erfülltes Leben und in eine sinnvolle Zukunft diese Verschämtheit überwindet, wird die Spannung aushalten: das Vertrauen zu dem, dem als einzigem in dieser Welt ich mich „unterwerfe“, obwohl „das Böse“ so herrscht, dass ich zugleich ungeduldig schreie: Wie lange noch?!

Wer lang genug wartet – mit kreativer Neugierde – wie etwa beim Psalmensingen in der Atempause vor der jeweils nächsten Vershälfte, kann dabei so manche Überraschung erleben, wie es mir vor langer Zeit erging: Ich sang mal wieder aus dem „Psalm“ im 3. Kapitel des Habakuk-Buchs die Worte

„In Ruhe erwarte ich den Tag der Not, …“

und hielt dann wartend inne bis zum nächsten Einatmen, – dabei regte sich in mir der Widerspruch: einen Tag der Not kann ich doch nicht in Ruhe erwarten! – bis dann – weitersingend – das Lachen aus mir herausplatzte bei den Worten

„der dem Volk bevorsteht, das über uns herfällt.“

So kann die Zeit des Wartens zum Wandel der Perspektive werden, ja zum Wandel der Wirklichkeit.

Menschen und vielleicht Generationen oder reichen Völkern, die – von größeren Problemen verschont – verwöhnt herangewachsen sind, erscheinen solche Erfahrungen und eine solche Perspektive eher fremd.

Wen aber die eigene Lebensgeschichte – oder Gott – veranlasst hat, immer wieder und schließlich gut geübt, durch Leid und Enttäuschung hindurch beharrlich Auswege freizuschaufeln, der hat zum Trost und Ausgleich die Erfahrung, dass die Kombination „hören und warten“ sich lohnt. Das stärkt:

Sei getrost und unverzagt,
freue dich an deinem Leben.
Denn Gott hat dir zugesagt, …

Hab den Mut, aufrecht zu gehn,
auch wenn andre längst sich beugen;
gegen Lügen aufzustehen
und die Wahrheit zu bezeugen.
Sei ein Mensch, der Frieden schafft;
dazu schenkt dir Gott die Kraft. …

Sei getrost und unverzagt!
(T: Eugen Eckert, (c) Strube Verlag München,
M: Fritz Baltruweit, (c) tvd Verlag Düsseldorf)

Aus solcher Erfahrung kann dann der Psalm 131 zum eigenen Gebet werden:

Herr, mein Herz ist nicht stolz,
nicht hochmütig blicken meine Augen.
Ich gehe nicht um mit Dingen,
die mir zu wunderbar und zu hoch sind.
Ich ließ meine Seele ruhig werden und still,
wie ein kleines Kind bei der Mutter
ist meine Seele still in mir.
Israel, harre auf den Herrn
von nun an bis in Ewigkeit.

(3. Woche Dienstag Vesper – aus Stundenbuch – EÜ 1980)

Einer solchen Einstellung entsprechend ermahnt auch der Apostel Paulus in der 2. Schriftlesung des Sonntags den Timotheus, den er zum Bischof geweiht hat:

… Ich rufe dir ins Gedächtnis:
… Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben,
sondern den Geist der Kraft,
der Liebe und der Besonnenheit.
Schäme dich also nicht
des Zeugnisses für unseren Herrn
und auch nicht meiner,
seines Gefangenen,
sondern leide mit mir für das Evangelium!
Gott gibt dazu die Kraft …

(2. Timotheus 1,6-8.13-14)

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