Blogbeitrag

Himmel immer offen (1996)

Türöffner

5. Januar 2023

Sonntagsbotschaft zum 8. Januar 2023, dem Fest der Taufe Christi (Lesejahr A).

Wir hatten uns vereinbart, um 20 Uhr anzufangen. Wir, das waren 6 oder 7 Personen, die dem Pfarrgemeinderat zuarbeiten wollten. Es ging um Fragen, wie wir in der Gemeinde junge Familien besser unterstützen könnten, damit Sakramente wie Taufe, Erstkommunion und Firmung auf ihrem Lebensweg schlüssig und nachhaltig Gottes begleitende Kraft entfalten könnten. Unzufriedenheit mit der gängigen Praxis hatten im Pfarrgemeinderat dazu geführt, diesen „Sachausschuss Sakramentenpastoral“ zu beauftragen. Wir hatten uns auf eine Sprecherin geeinigt, die die Sitzungen moderierte und protokollierte. Das war in den Achtziger-Jahren.

Wir kamen also zur Sitzung zusammen. Für mich, den Gemeindepfarrer, war das einer von mehreren dicht getakteten Terminen im Lauf des Tages und ich hatte das Interesse, die Zeit fruchtbar zu nutzen. Zeit für Abendessen hatte ich noch nicht gefunden. Wir begrüßten einander und redeten über alles Mögliche, was uns den Tag über beschäftigt hatte. Das zog sich in die Länge und ich wurde immer ungeduldiger. Irgendwann sagte ich ärgerlich in die Runde, wir sollten doch endlich zur Sache kommen, für die wir uns vereinbart hatten. Das allerdings löste bei den Anderen deren Ärger aus. Sie wollten doch schließlich zusammenkommen als die Personen, die sie sind, und als solche sich der gemeinsamen Aufgabe stellen. Die Diskussion darüber verlief so, dass ich recht schnell verstand: Ja, wenn wir aus unseren jeweils persönlichen Sichtweisen etwas Gemeinsames entwickeln wollen, müssen wir dafür zuverlässig Beziehung zueinander aufnehmen. Meine Zielstrebigkeit musste ich im Interesse wirklich effektiven Arbeitens einordnen in unser menschliches Miteinander. Das wurde mir zu einem Aha-Erlebnis mit einem wichtigen Lerneffekt: Mein Stil des Miteinanders mit den Anderen in der Gemeinde, wenn ich meiner Verantwortung zum Führen nachkommen wollte, veränderte sich auf Dauer. Unser gemeinsamer erster Schritt war die Vereinbarung: Wir fangen immer mit einer Viertelstunde „small talk“ an.

Bald danach erfuhr ich von der Reform, die im afrikanischen Zaire ein ähnliches neues Element in den Ablauf der katholischen Gottesdienste einführte: Ganz offiziell vorgesehen wurde dort, dass die Versammlung einer Gemeinde zum Gottesdienst mit einem sogenannten „Palaver“ beginnen soll, damit ein wirklich gemeinsames Feiern entsteht.

Diese beiden Erinnerungen kamen mir gleich wieder in den Sinn, als ich die Bibeltexte für den bevorstehenden Sonntag las – mit der Fragestellung: Was willst du, Herr, uns an diesem Sonntag sagen? Zu welchem Aufbruch will das gefeierte Weihnachtsfest jetzt werden?

Dabei fällt mir auf, wie ausführlich die Texte beschreiben, in welcher Art von Beziehung die Beteiligten zueinander stehen, die miteinander auf dem Weg sind zu einem gemeinsamen Ziel. Mit der ersten Lesung aus dem Jesaja-Buch fängt das gleich an:

So spricht Gott, der HERR, …
Siehe, das ist mein Knecht, den ich stütze;
das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.
Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt,
er bringt den Nationen das Recht.

Das Ziel ist klar: Er bringt den Nationen das Recht. Aber um diesen Prozess zu beschreiben, benennt er erst mal die Beziehung, in der er zu dem steht, der dabei als Protagonist gilt.

Wir heute haben da ein Problem mit dem Wort „Knecht“. Dieses Wort wird wahrscheinlich überhaupt nur noch in der emotional geprägten Bedeutung verwendet, jemand werde „geknechtet“, also gezwungen, gehorsam zu tun, was man befohlen bekommt. Aber bis noch vor gar nicht langer Zeit war der „Knecht“ auf dem Bauernhof ganz einfach der Mann, der das Ganze am Laufen hielt, weil er zuverlässig sich um das kümmerte, was zu tun notwendig war. Und der Guts-„Herr“, dessen „Knecht“ er war, wusste ihn und sein Tun sehr zu schätzen. Herr und Knecht gehören einfach zusammen und sind aufeinander angewiesen. Sie tragen auf unterschiedliche Weise zum Gelingen des Ganzen bei. Erst der Missbrauch eines damit gegebenen Machtgefälles hat dem Wort „Knecht“ seinen schlechten Geschmack gegeben. Den kennt bereits die Bibel. Wenn dort die Gefahr eines Missverständnisses aufkommt, wird die Bezeichnung „Knecht“ in Frage gestellt. Jesus sagt etwa im Johannes-Evangelium:

Ich nenne euch nicht mehr Knechte;
denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut.
Vielmehr habe ich euch Freunde genannt;
denn ich habe euch alles mitgeteilt,
was ich von meinem Vater gehört habe.
(Johannes 15,15)

In der Bibel ist, des guten Gottes „Knecht“ zu sein, immer die befreiende Alternative zur knechtenden Unterwerfung unter alle möglichen tyrannischen Herren dieser Welt. Der Propheten-Text dieses Sonntags lässt das spüren in den Worten, dass Gott, der Herr, seinen Knecht „stützt“, dass der Knecht sein „Erwählter“ ist und er an ihm „Gefallen findet“. Hier wird eine eigene Art von Beziehung deutlich beschrieben und die Dynamik benannt, die sich daraus ergibt: „Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Nationen das Recht.“ In Richtung auf dieses Ziel hin wirkt sich die Beziehung zwischen diesem Herrn und seinem Knecht in die ganze Welt und auf ihre Völker aus: Er bringt ihnen das Recht. Was für eine erlösende Perspektive!

Und dann wendet sich die Aufmerksamkeit ganz der Frage zu, in welcher Weise er für ein Vorwärtskommen auf dieses Ziel hin seine Beziehung zu denen gestaltet, denen er das Recht bringen will:

Er schreit nicht und lärmt nicht
und lässt seine Stimme nicht auf der Gasse erschallen.
Das geknickte Rohr zerbricht er nicht
und den glimmenden Docht löscht er nicht aus;
ja, er bringt wirklich das Recht.
Er verglimmt nicht und wird nicht geknickt,
bis er auf der Erde das Recht begründet hat.
Auf seine Weisung warten die Inseln.

Und wieder macht er deutlich, dass dies ein Geschehen ist, das ganz und gar aus der Beziehung zwischen Herr und Knecht seine Kraft schöpft:

Ich, der HERR, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen,
ich fasse dich an der Hand.
Ich schaffe und mache dich
zum Bund mit dem Volk,
zum Licht der Nationen, …

Bei aller Aufmerksamkeit für die Beziehung zueinander und für das Miteinander auf dem Weg bleibt das Ziel klar im Blick und benennt konkrete Schritte:

um blinde Augen zu öffnen,
Gefangene aus dem Kerker zu holen
und die im Dunkel sitzen, aus der Haft.
(Jesaja 42,5a.1-4.6-7)

Von wem wird da gesprochen? Wer wird hier so Gottes „Knecht“ genannt? Im zweiten Teil des Jesaja-Buchs, in den Kapiteln 40 bis 55, ist immer wieder die Rede von ihm. Er wird angesprochen: „Du, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich erwählt habe, Nachkomme meines Freundes Abraham“ (Jesaja 41,8). Das ganze Volk ist gemeint – jedenfalls insofern es sich vertrauensvoll von Gott leiten lässt. An anderen Stellen aber ist es offenkundig eine nicht namentlich genannte Einzelperson, die Gott seinen Knecht nennt (z.B. Jesaja 49,5-6) und die in Gottes Auftrag und mit seinem Beistand Aufgaben im Volk und am Volk erfüllt.

Von ihm heißt es jedenfalls in diesem Text: Nicht nur in einlullender Propaganda redet er von Recht und Gerechtigkeit, sondern er, Gottes Knecht, bringt wirklich das Recht!

Und damit das gelingt, spielt offensichtlich die Art der Beziehung zwischen den an diesem Vorgang Beteiligten und zu ihm selbst eine ausschlaggebende Rolle.

Das gesamte Neue Testament wirbt dafür, solche Beziehung zu Jesus und zueinander zu pflegen, und versucht mit Hilfe unterschiedlicher Vorstellungen und Bilder, das Großartige zu verstehen, das sich mit Jesus verbindet. Das Verwunderliche, Herausfordernde und Beglückende, das Menschen mit ihm erleben, will ja verstanden werden – und zwar in Zusammenhang mit den aktuellen Realitäten des Lebens!

Immer wieder greift dafür das Neue Testament Motive auf, die den damaligen Menschen vertraut waren, weil die Sehnsucht nach dem verheißenen „Knecht Gottes“ sie miteinander verband und dass er doch endlich „wirklich das Recht bringt“. Auch das Evangelium dieses Sonntags greift das auf:

In jener Zeit
kam Jesus von Galiläa
an den Jordan zu Johannes,
um sich von ihm taufen zu lassen.
Johannes aber wollte es nicht zulassen
und sagte zu ihm:
Ich müsste von dir getauft werden
und du kommst zu mir?

Johannes hat eben seine bestimmten Vorstellungen, wie die in dieser Welt zu beachtende Rangfolge aussieht in einer Beziehung wie der zwischen ihm und Jesus. Darin muss er sich korrigieren lassen. Denn hier geht es um eine andere Art von Beziehung, die sich jetzt in der verbalen wie in der nonverbalen Kommunikation niederschlägt:

Jesus antwortete ihm:
Lass es nur zu!
Denn so können wir die Gerechtigkeit ganz erfüllen.
Da gab Johannes nach.
Als Jesus getauft war,
stieg er sogleich aus dem Wasser herauf.
Und siehe, da öffnete sich der Himmel
und er sah den Geist Gottes
wie eine Taube auf sich herabkommen.
Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach:
Dieser ist mein geliebter Sohn,
an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.
(Matthäus 3,13-17)

Der „Knecht Gottes“, sein „geliebter Sohn“ fügt sich ein in die Menge von Menschen, die sich als Zeichen der Umkehr von Johannes taufen lassen! Ist das die neue Art der Beziehung zwischen Führendem und Geführten? „So können wir die Gerechtigkeit ganz erfüllen“, sagt Jesus zu Johannes. Gottes Fazit: Der Himmel geht auf!

 

Und warum kommen wir als Gemeinschaft von Christen, als Kirche, trotzdem so schwer voran? Wenn er doch der ist, der „wirklich das Recht bringt“?!

Liegt es vielleicht daran, dass wir es vernachlässigt haben, unsere Eingebundenheiten angemessen zu berücksichtigen, unsere Abhängigkeiten, unser Angewiesensein aufeinander? Beachten wir zu wenig, dass ein Miteinander, zu dem alle Beteiligten ihr Eigenes beitragen, ein Vertrauen voraussetzt, das entstehen und wachsen will und dafür Zeit und Kontinuität braucht?

In einer Zeit, in der wenige amtlich bestellte Personen den vielen anderen sagten, was sie fürs Gesamte beitragen sollten, sorgte das Machtgefälle – solange alle mitspielten – für ein Funktionieren des Betriebes in seinen vorgegebenen Abläufen.

In einer Zeit aber, die neu die Wertschätzung entdeckt hat für die je eigenen Beiträge der vielen Einzelnen, um so – kreativ und stark – gemeinsam in die Zukunft zu gehen, da braucht es wohl eine andere Art von Beziehungsgeflecht, das alle vernetzt und alle mit den ihnen eigenen Qualitäten in ihrer Bedeutsamkeit fürs Ganze wahrnimmt und anerkennt, wertschätzt und stärkt.

Wenn stattdessen bei der Gestaltung von Lebensprozessen und von gemeinsamen Wegen vieler Beteiligter einem wissenschaftlich gebildeten Vorsprung an Fähigkeiten grundsätzlich Vorrang eingeräumt wird gegenüber menschlichen Vorsprüngen an wertschätzender Empathie und kommunikativem Verhalten, dann werden die „Charismen“ – die Kompetenzen und Begabungen der Vielen – ungenutzt brachliegen bleiben. In Ermangelung von Gründen, warum man sich da einbringen sollte, bleiben die Menschen achselzuckend weg und suchen ihre Lebenserfüllung verständlicherweise auf anderen Wegen.

Für einen Teil der Leitenden, die frustriert das Fernbleiben der Menschen wahrnehmen, scheint eine erlösende Notbremse darin zu liegen, dass sie in der Kirche zu einem Weg noch stärker ausgeprägter Professionalisierung übergehen wollen und zu einem Unternehmenskonzept, dessen Kerngeschäft aus einem zum Konsum angebotenen Sortiment von sozialen und „religiösen“ Dienstleistungen besteht.

Den „Knecht Gottes“, den Retter Jesus Christus leibhaftig und sozial wahrnehmbar darzustellen und zum Kommen seines „Reiches“ beizutragen, mit dem er „wirklich das Recht bringt“, das scheint ein Ziel „von gestern“ zu sein.

Ein gewisses Unbehagen dabei geht dann über Lippenbekenntnisse – wie die Anerkennung gleicher Würde der Frauen – nicht hinaus. Also lässt man ihre von Gott geschenkten Begabungen brach liegen.

Vor der Notwendigkeit zuverlässiger Kontinuität im Moderieren von Gemeinschaften lässt man lieber die Augen verschlossen. Die Angst ist wohl doch zu groß vor der Zügellosigkeit, mit der „Gottes Geist“ die gut verschlossen gehaltene Tür des Himmels zu den Menschen hin aufbrechen und „Gottes Knecht [m/w/d]“ mit Kraft erfüllen könnte.

Kleiner konkreter Nachschlag, dieser Tage erlebt:Der Priester, vor mir stehend, nimmt aus der Schale eine Hostie. Zu den Worten „der Leib Christi“ hebt er die Hostie mit einer ruckartigen Bewegung nach oben über den Rand meines Sichtfeldes hinaus. Befremdet erschrecke ich. Ich erlebe nicht eine einfache, transparente Zuwendung, mit der er mir etwas gibt und das deutende Wort dazu zu mir sagt. Vielmehr erlebe ich etwas Fremdartiges aus dem Bereich einer Art von Magie: Der „Eingeweihte“ vollzieht – wahrscheinlich „rite et recte“ – etwas, was ich über mich ergehen lassen soll. Was für ein verstörender Umgang mit dem Sakrament!

  1. Heut‘ schließt er wieder auf die Tür
    zum schönen Paradeis.
    Der Cherub steht nicht mehr dafür.
    Gott sei Lob, Ehr‘ und Preis,
    Gott sei Lob, Ehr‘ und Preis.
    (Lied „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich“
    Text und Melodie: Nikolaus Herman, um 1560
    Aufnahme: Christmette 2003 in Herz Jesu Frankfurt-Fechenheim)

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