Im Stundengebet für den Montag der 4. Woche, war in der Laudes am Morgen als Lesung ein Abschnitt aus dem alttestamentlichen Buch Judit dran: Kapitel 8, Verse 25 bis 27. Seit vielen Jahren alle 4 Wochen dieser Text, den ich bisher immer eher widerwillig über mich hatte ergehen lassen. Diesmal hat er mich plötzlich elektrisiert. Der Zusammenhang war mir schon immer klar:
Dem assyrischen König Nebukadnezzar war Israel ein Dorn im Auge. Das war das einzige Volk, das seinem Herrschaftsanspruch Widerstand leistete. Die Stadt Betulia, durch den Heerführer Holofernes belagert, ließ sich schließlich nicht mehr halten, und Usija, der führende Mann in der Stadt, war zur Kapitulation bereit.
Da redet Judit, die gläubige vornehme Witwe, dem Usija und den anderen Führern der Stadt ins Gesicht:
… lasst uns dem Herrn, unserem Gott, danken, dass er uns ebenso prüft wie schon unsere Väter.
Denkt daran, was er mit Abraham machte, wie er Isaak prüfte und was Jakob im syrischen Mesopotamien erlebte, als er die Schafe Labans, des Bruders seiner Mutter, hütete.
Denn wie er diese Männer im Feuer geläutert hat, um ihr Herz zu prüfen, so hat er auch mit uns kein Strafgericht vor, sondern der Herr züchtigt seine Freunde, um sie zur Einsicht zu führen.
Oje!
Kann man „Holofernes“ durch „Covid19“ ersetzen?
„Prüfen“, gar „züchtigen“ – schlimme Worte!
Diesmal hörte ich diese Worte anders.
Ich brachte sie in für mich ungewohnte Zusammenhänge,
und ich probierte aus, sie durch andere Worte zu ersetzen.
Schon beim Bergwandern in Tirol 8 Wochen davor hatten sie mich ja begleitet.
Damals hatte ich im Tagebuch festgehalten:
… Warum tue ich mir eigentlich diese Mühe an? … über 400 Meter Höhenunterschied hinauf zu gehen und dann wieder hinunter? Wenn jemand anderes mich zu diesem Weg samt seiner Mühe veranlassen würde – vielleicht gar gegen meinen Willen – , wie würde ich darauf reagieren? Oder wenn ein Vater seinen Sohn zu etwas von dieser Art veranlasst, wie bewerte ich das? Wenn Gott mich zu solcher Mühe veranlasst, wie benenne ich das und was halte ich davon? – Und wenn ich das selber bin, wie stehe ich dann dazu? „der Herr züchtigt seine Freunde, um sie zur Einsicht zu führen.“ ?! „Wen Gott liebt, den züchtigt er.“ So heißt es auch im Buch der Sprichwörter (3,12) und im Hebräerbrief (12, 6 und 7). Wenn ich mit dem, was ich da mit mir treibe, mich selbst sollte „züchtigen“ wollen, dann lass ich das sofort bleiben; ich bin doch schließlich kein Masochist! „um sie zur Einsicht zu führen“ – ?! Was soll die „Einsicht“ sein???
Nun hab ich, wenn ich in den Bergen einem aufwärts fahrenden Mountain-biker begegnete, schon wiederholt anerkennend zugerufen: „Sportlich!“
Und in sportlichen Zusammenhängen gilt „Disziplin“ als unangefochten anerkannter Wert. …
Das auch mir Wertvolle, das mit dem Wort „Disziplin“ gemeint sein könnte, hab ich dann versucht, mit einem anderen Wort zu benennen. Weil „Disziplin“ ja auch irgendwie nach Zwang und Selbstentfremdung schmeckt. Mit Hilfe des Etiketts „Disziplin“ kann man von der Erziehung bis in die Arbeitswelt und in die Politik hinein auch so manche fragwürdige oder abzulehnende Fremdherrschaft bemänteln. …
Mir fällt das Beispiel meines Freundes Andreas Mengelkamp ein, der nach einer Herzoperation auf Grund ärztlicher Empfehlung regelmäßig „Herzsport“ trieb (und trotzdem viel zu früh starb). Was hat er da aus eigener Entscheidung und offensichtlich auch gerne gemacht, was doch nicht ohne Schweiß und Mühe ablief?
„Da hab ich Training“, nannte er seinen Grund, warum der Mittwoch bei ihm für Vereinbarungen tabu war. Da musste und wollte er „trainieren“. Weil er sich etwas Gutes tun, antun wollte. Das war für ihn ein Gebot aus einem Mindestmaß an Selbstliebe.
Und Mütter stecken problemlos ihre Kleinen an mit der Abenteuerlust, das Gehen zu trainieren. „Heute hat er schon zehn Schritte am Stück gemacht!“
Vor kurzem sah ich einen etwa 13jährigen Jungen, der auf seinem Fahrrad hin- und herfuhr. Er riss immer wieder das Lenkrad hoch und „trainierte“ Ein-Rad-Fahren. Seine Ausdauer war beachtlich, und selbst mir beim Zuschauen machte Spaß zu sehen, wie lange es ihm gelang, allein auf dem Hinterrad zu fahren. Unwillkürlich zählte ich mit ihm die Zahl der Pedalumdrehungen, die er „schaffte“.
Was macht der Jogi Löw mit der Nationalelf? Züchtigt er sie? Oder stärkt er sie zu erhöhtem Selbstbewusstsein von ihren Fähigkeiten und Stärken?
Mit der Begründung liebender Sorge um die Zukunft ihres Kindes „züchten“ manche Eltern ihre Kinder zu Musterschülern. Allerdings sprechen wir üblicherweise bei der Begleitung des Heranwachsens von Menschenkindern von Erziehung – und lediglich bei Tierjungen von „Aufzucht“. Was mit „Zucht“ und „züchten“ und „züchtigen“ gemeint ist, entspricht nicht den Anforderungen an den Respekt vor der Würde eines jeden Menschen. Sogar das „Zucht“haus wurde abgeschafft. …
Wie kann dann aber eine Aussage der Bibel Bestand haben „der Herr züchtigt seine Freunde“? Vor allem, wenn man auf die Idee kommt, das in den Zusammenhang mit der aktuellen Corona-Problematik zu bringen?!
Was tut denn Gott wirklich nach der Erfahrung von Menschen, die für ihre Lebensorientierung an der Bibel Maß nehmen, wenn er dazu beitragen will, dass sie für das Leben und für die Zukunft „fit“ sind?
Was in den Kirchen traditionell gepflegt wird, ist die Glaubens-Lehre. … Bescheid wissen, wie man Christ zu sein hat und was deswegen nicht sein darf. … Aber ich vergleiche das mal mit der Frage, auf welchem Weg jemand „fit“ wird, im heutigen Straßenverkehr ein Auto zu fahren: Eine Fahrschule, die nur die Theorie lehrt, wie das Autofahren sein soll und wie es geht, aber das Üben, das Trainieren, die Praxis unter den Tisch fallen lässt, disqualifiziert sich ohne Widerspruch.
Vor Jahrzehnten entwickelten wir in der Pfarrgemeinde ein Konzept, wie wir Jugendliche so begleiten könnten, dass sie ausprobieren und sich selbst erproben und so Klarheit finden für eine Entscheidung: Ja, ich will mein Leben – in solidarischer Kirchengemeinschaft – aus dem Glauben an Christus gestalten; deshalb will ich mich firmen lassen (Protestanten sagen „konfirmieren“, also fest und stark machen) lassen. In fortgeschrittener Phase auf diesem Weg fragten wir die Jugendlichen nach ihrem Vorschlag, wie wir das griffig benennen könnten, wenn wir wieder für die Teilnahme Jugendlicher an diesem Weg werben wollten. „Christentraining“, warf eine 16Jährige in den Ring und erhielt die meiste Zustimmung.
„Training“ bedeutet für mich: Da kann ich etwas ausprobieren, mich erproben, trainieren, einüben, da lässt man mich etwas üben.
Als 4- oder 5-jähriges Kind war das für mich ein erregendes Abenteuer, das ich auf den Spaziergängen mit meiner Mutter an einer bestimmten Stelle immer wieder suchte und herbeiführte: den Sprung vom Wegrand hinunter wagen und aufgefangen werden. Mir ist klar geworden: Da hatte Gott mich schon mal üben lassen. – In undramatischen Situationen schon mal üben können, – das macht die Herausforderungen, in denen man ernsthaft-dramatisch fällt, weniger schlimm. – Wenn ich es vorher habe üben können, Mühe und Belastungen zunächst zu ertragen, um sie dann zu meistern, entsteht eine stark machende Gewissheit, wie die französische Redewendung sie benennt „ça vaut la peine“ – „diese Mühe, diese ‚Pein‘ ist es wert“, „das lohnt sich“. …
Die Zeiten ändern sich.
Wer neuen Verhältnissen mit den alten Methoden begegnet – und seien sie noch so erfolgreich gewesen – der riskiert Nachteile bis zum Untergang.
Wer sich durch neue Verhältnisse herausfordern lässt, sich mit anstrengenden und lästig erscheinenden neuen Methoden – vielleicht erst mal widerwillig – auf sie einlässt und damit seine eigene Fitness trainiert, für die neue Situation erprobt, kann vieles, ja sich selber neu entdecken:
Wege digitaler Kommunikation neu lernen, „obwohl ich dafür zu alt bin“, – das kann mir die Augen öffnen für eine ganz neue Perspektive: Da entdeckt eine ganze Gesellschaft plötzlich, dass auf diesem Weg sich von allein und ganz unerwartet große Probleme lösen wie Verkehrskollaps, CO2-Ausstoß usw.
Wer sich der Herausforderung durch Neues versperrt und Änderung des eigenen Verhaltens ablehnt, taugt eigentlich nur noch fürs Grab.
Der alte Spruch der Bibel gewinnt neue Aktualität: „Kehrt um und ihr werdet leben!“