Blogbeitrag

1995 Jade Kampffest Solidarität

Wer liebt, ist solidarisch

19. Oktober 2020

Auf Google-Suche nach „typisch christlich“ finde ich als Anmoderation einer Seite des WDR: „Vor 2000 Jahren zog ein Wanderprediger namens Jesus von Nazareth aus, um die Lehre von der Liebe zu verkünden.“ Und dann den Titel des ersten Teils: „Jesu Botschaft: Nächstenliebe“

Ja, „Liebe“ oder „Nächstenliebe“ ist das Wesentliche im Christentum, das sagen auch die meisten Menschen. Das ist die Lehre und die Botschaft. Ist es auch die Erfahrung? die Erfahrung mit den Christen? und die Erfahrung der Christen selbst? Jedenfalls ist es kein Alleinstellungsmerkmal der Christen; Liebe gibt es auch bei Nicht-Christen.

Inwiefern ist dann aber Liebe „typisch christlich“?

Was ist da mit „Liebe“ gemeint? Geht es hier wirklich um das, was ich für mich und für die ganze Welt suche und schätze, wenn ich „Liebe“ sage?

Und gibt es wenigstens bei den Christen oder in ihrem gelebten Glauben optimale (wenn nicht gar die meisten) Chancen, sie da auch zu finden und zu erleben?

Wenn ja, würde es sich ja sogar lohnen, dafür Verbindung aufzunehmen mit Christen und dem christlichen Glauben. Von dem Gott, den die Christen meinen, heißt es sogar in der Bibel: „Gott ist die Liebe.“ Und Defizite und enttäuschte Sehnsucht nach Liebe – davon ist die Welt voll. Auch meine!

Bringt mich und uns da die „Botschaft“ dieses Sonntags weiter?

30. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr A (am 25. Oktober 2020)

Wer liebt, ist solidarisch

In katholischen Gottesdiensten an diesem Sonntag, an dem es auch ausdrücklich um die heutige „Mission“ von Kirche und Christen geht, trifft – wie ich finde – die erste Lesung aus der Bibel voll ins Schwarze! Das Wort „Liebe“ kommt da zwar kein einziges Mal vor. Aber die zu spürende Einstellung zum menschlichen Miteinander in unserer Welt, wie dieser Text sie atmet, regt meine Sehnsucht an.

Mit „Du“ angesprochen ist hier die Gemeinschaft des Volkes, deswegen auch immer wieder abwechselnd mit „ihr“.

Exodus 22, 20-26 - erste Lesung - strukturiert

SEINE Aufmerksamkeit

liegt ganz bei denen, die zu Opfern gesellschaftlichen Unrechts werden könnten:
Fremde (ohne Bürgerrecht!),
Witwen und Waisen (ohne soziale Absicherung und ohne Rechtsschutz!),
Arme (ohne finanzielle Auswege aus Not!),

Sie alle sind in der Gefahr, in ihrer Schwachheit ausgenützt zu werden.

Damit aber alle Menschen gute Lebenschancen haben und nutzen können,
musst „du“, das Gemeinwesen, dich so organisieren, dass darauf wirklich geachtet wird. Schlimmes, wie es die drei Beispiele aufzählen, muss effektiv verhindert werden,
damit die Menschen frei von entsprechenden Ängsten wirklich leben können.

Aber wo gelingt das schon???

SEINE Betrachtungsweise

nimmt ganz und gar die Perspektive der Menschen ein.

Als Befreier aus der Sklaverei lernen sie IHN kennen. Maßnahme, die den Grund legt für ein Vertrauen in seine einmalig enorme – eben göttliche! – Liebe zu allen. Danach lädt ER sie zu einem dauerhaften Bund ein: „Ich euer Gott, ihr mein Volk!“
Und sie haben geantwortet: „Ja, wir wollen!“ In der Sprache der Oster-Liturgie und der Tauf-Liturgie: das gemeinsam gerufene „Amen, ich glaube!“

Wo Menschen sich in freier Entscheidung und gemeinsam im Liebesbund mit IHM verbunden haben, werden sie also mit der gleichen Aufmerksamkeit wie ER einfühlsam aufeinander achten:

  • „Da ich euch liebe, werde ich Klagen und Seufzen hören und abhelfen.“
  • „Und da wir dich lieben, werden wir diese deine Liebe zu allen mit dir teilen und uns zu eigen machen.“
    (vergleichbar mit der modernen Redewendung „Deine Freunde sind auch unsere Freunde“)
  • Ich werde euch lieben, achten und ehren – in guten und in schlechten Zeiten.“
    („Wie der Bräutigam sich an der Braut freut, so freut sich dein Gott an dir! … Ich werde zu euch sagen ‚Meine Wonne!‘“ – Jesaja 62,4-5)
  • „Und wir werden es halten wie du.“

Solche dialogische Logik wirklicher gegenseitiger Liebe ist vergleichbar mit der Sprache in einem Ehe-„Vertrag“: „Ich will (= ich werde) …“ – „Und auch ich will (= ich werde) …“ – „Du wirst …“ – „Und du wirst …“ Ein in verlässlicher Liebe geschlossener Bund solcher Art eröffnet einen Weg erfüllten Lebens! „Ich verlass mich drauf, du wirst … und ich weiß, ich soll …“

Die Unterscheidung in der deutschen Übersetzung zwischen „soll“ und „will“ (als fragwürdiger Ersatz für „werde“) kann den Liebesbund ganz schnell zu einer gesetzartigen Serie von moralischen Geboten verfremden – und in der Verbindung mit „nicht“ zu einem System von Verboten. Macht und Pflicht treten dann an die Stelle von Liebe und Vertrauen. Die englische Sprache mit ihrem “I will / shall …“ (für „ich werde …“) ist da nicht so an Ordnung orientiert, eher an der Verlässlichkeit, wie sie eben einem Vertrag entspricht.

In diesem „Bund“ mit „seinem Volk“ (= mit dem Volk dieses seines Bundes) legt Gott sich fest:

  • „Ich werde …“ – und er verspricht beispielhaft:
  • „Mitleid haben“.
  • „Den Klage-Schrei hören“.
  • „Aktiv werden voller Zorn über das Unrecht an euch Armen“;
    den so Geliebten wird das ein Jauchzen entlocken wie in Psalm 18
    „Ich will dich lieben, Herr, … Er zog mich heraus aus gewaltigen Wassern … er entriss mich der Hand meiner Feinde, die stärker waren als ich …“
    Verse aus diesem Psalm werden uns übrigens heute in Herz und Mund gelegt als Antwort der Gottesdienst-Feiernden auf die 1. Lesung dieses Sonntags!

(Wenn solche Zusammenhänge erst gar nicht in den Blick genommen werden, bleibt natürlich auch die aus solchem Liebes-Bund resultierende echte Freude außen vor. Konsequenz: von vielen als öd oder steril empfundene Gottesdienst-„Feiern“ – „wozu tue ich mir das eigentlich an?“ – „naja, wenigstens dauert’s nicht länger als 60 Minuten“ …)

Immerhin ist ja der Inhalt der Botschaft in den drei Beispielen dieses Bibeltextes aus dem Bundesbuch die liebende Einfühlung Gottes für die Menschen mit ihren Nöten – eine Empathie, die er so gerne mit allen in seinem Volk teilen möchte!

„Ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen!“ Ihr wisst also, wie das ist, wenn man als Fremder ausgenützt und ausgebeutet wird. – Und ihr wisst schließlich, dass ein Gemeinwesen, in dem der Schutz der Menschenrechte nicht auch für „Witwen und Waisen“ gewährleistet ist, schließlich auch eure eigenen Frauen und Kinder zu dessen Opfern machen wird.

(Schiebt das dann ruhig mir in die Schuhe, solange solcher Zorn euch die einzige plausible Empathie darstellt!)

Aber in einem „Bund“ der Liebe Gottes zu euch, die ihr miteinander teilt und in eure Umwelt ausbreitet, wird euer Mitgefühl euch daran hindern, einem Anderen auch noch das „letzte Hemd“ zu nehmen!

In einem Gemeinwesen, das sich diese Einstellung zu eigen macht, können alle Menschen die Erfahrung geliebter Anerkennung ihrer Würde machen und der gegenseitigen Anerkennung der sich daraus ergebenden Menschenrechte.

Bei aller Hochschätzung des deutschen Grundgesetzes zeigen die Realitäten des gesellschaftlichen Lebens, dass die Verwirklichung dieser „Vision“ immer nur begrenzt geschieht und dass erst – oft mühsam – Gerichte und Rechtsprechung die Defizit-Erfahrungen wieder „richten“.

Umso wichtiger, dass mit der Kirche Jesu Christi in dieser Welt eine Gemeinschaft lebt, die – wie Jesus – immer wieder diesen „Geist“ erfüllten Lebens mit Worten in Erinnerung ruft und mit ihrem Tun praktiziert.

Wenn solches Bewusstsein von aktueller Problematik und Lösungs-Perspektive der Zusammenhang ist, in dem „wir“ uns öffnen, den Evangeliums-Abschnitt dieses Sonntags zu uns sprechen zu lassen, dann dürfte ER gute Chancen mit uns haben – und wir mit ihm:

Evangelium Mattäus 22, 34-40 - strukturiert

Meistens werden diese von Jesus überlieferten Worte – von irgendeinem Interesse geleitet – instrumentalisiert. Statt sie – in der gebotenen Ausführlichkeit – zu zitieren, werden sie nur eilig angedeutet mit dem Begriff „Liebesgebot“. Da fällt es dann nicht auf, wenn sowohl die Liebe zu Gott als auch die Liebe zu sich selbst unter den Tisch fallen.

Gegen „Liebe“ kann keiner was sagen (auch wenn ungeklärt bleibt, was jemand gerade damit meint), und „Nächstenliebe“ gilt als allgemein anerkannter Wert. Wem bei irgendeinem religiösen Thema die Argumente abhandenkommen, kann also das „Liebesgebot“ ohne größeres Risiko eines Widerspruchs einfach als nichtssagendes Klischee verwenden. Beliebt ist das „Liebesgebot“ auch, weil es sich gut als Waffe eignet, einem Gesprächspartner mit anderer Meinung ein schlechtes Gewissen zu machen. In frommen Kreisen hat schlechte Karten, wer in einer Streitfrage (etwa, ob Wiederverheiratete zur Kommunion gehen dürfen) unverhofft das „Liebesgebot“ um die Ohren geschlagen bekommt.

Oft wird an diese Worte von Jesus in Zusammenhängen erinnert, bei denen es um das persönliche Verhalten einzelner Menschen geht („liebevoll“ oder nicht) und um die Be-Urteilung, ob das Verhalten eines Menschen gut oder nicht und erstrebenswert oder verwerflich ist (z.B. wenn jemand ein Medikament haben möchte, um sich damit das Leben zu nehmen).

Im Vergleich zu solchen moralisch-individuell gesehenen Zusammenhängen ist viel seltener die Rede von „Liebe“ zum „Nächsten“ oder zu „Gott“ oder auch zu mir „selbst“, wenn es um Fragestellungen geht, wie Politik oder „Gesetz“ im öffentlichen Gemeinwesen gestaltet werden oder auch in der Glaubensgemeinschaft (z.B. beim Erstellen eines Haushaltsplans im Land oder im Bistum). Dabei sagt doch Jesus – und er setzt damit Maßstäbe! –, diese Liebe sei „das wichtigste [Doppel-]Gebot“ und an ihrem Vorrang hänge Sinn und Wert des „Gesetzes“ schlechthin!

Wahrscheinlich liegt in der Frage nach der Liebe der Kern des Konflikts, der Jesus ans Kreuz gebracht hat:

Bischof Kamphaus hat einmal sinngemäß gesagt: Bemühst du dich für einen Armen um Brot, dann giltst du als Heiliger. Bemühst du dich aber für sein Recht auf Brot, dann giltst du als Kommunist.

Warum haben denn die einen in der Bevölkerung damals Jesus zugejubelt, wofür die anderen ihn ans Kreuz gebracht haben? –

  • Weil er einen Blick für die Menschen hat, denen es dreckig geht.
  • Weil es ihm wichtiger ist ihnen zu helfen, als unbedingt alle Vorschriften auch dort einzuhalten und einzuschärfen wo sie ihnen Leiden verursachen.
  • Weil er Menschen Mut macht, sich für Befreiung aus Krankheit und Armut einzusetzen – entgegen der Behauptung der Mächtigen, Armut und Krankheit müsse man eben als Strafe für die eigene Schuld hinnehmen.
  • Weil er Menschen zusammenbringt mit einer Hoffnung, die den Mächtigen Angst machen kann.

Jesus hat die Menschen seiner Zeit an Gottes leidenschaftliche Liebe zu den Menschen erinnert. So wie der heutige Abschnitt aus dem alten „Bundesbuch“ uns an seine Liebe erinnert hat. Eine Liebe, die Menschen verbindet zur liebenden gemeinsamen Sorge für alle und dass es ihnen gut geht. Eine Einstellung zueinander, die für viele Menschen heute plastischer rüberbringt, was gemeint ist, wenn wir dafür das Wort „Solidarität“ nehmen.

Gott selber ist mit uns Menschen „solidarisch“ geworden: Der Christus Jesus war Gott gleich. Aber er hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein. Er wurde den Menschen gleich! So singt der bekannte Hymnus im Philipperbrief. Weil er damit die Mächtigen gewaltig störte, musste er dafür mit seinem Leben bezahlen – und er war bereit dazu. Deshalb hat Gott ihn erhöht zum Herrn der Welt.

Natürlich auch in unserer Zeit will er mit uns Menschen die Welt so gestalten, dass in ihr die Liebe die herrschende Kraft ist. Muster, Maß und Möglichkeit dafür hat er „uns“ vorgemacht und vorgegeben:

Schluss-Absatz zu "Wer liebt, ist solidarisch"

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