Sonntagsbotschaft zum 21. August 2022, dem 21. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C).
„Warum tue ich mir das an?“ Mit dieser Frage lege ich hier eine kurze Rast ein. Endlich eine Bank! Die Abkürzung über den steilen Pfad durch den Wald habe ich ja schon den wenigen jungen Leuten überlassen, die gelegentlich die Serpentinen der Forststraße kreuzen. Trotzdem wird mir auch dieser Weg aufwärts mit der Zeit immer mühsamer.
Mit meinem Blick für die Schönheit der Umgebung vermischen sich zunehmend Fragen und Gedanken:
Ich finde Erklärungen dafür, wie sinnvoll, ja wohltuend es ist, nicht nur in meiner Unterkunft herumzusitzen, mich in dieser Landschaft in Bewegung zu halten, mich auf die Buttermilch oder das alkoholfreie Weizen in der Älpele-Hütte zu freuen.
Nein nein, vorzeitig abbrechen – das mach ich nicht. Dieses bisschen Mühe ist die Aussicht allemal wert, die mich da oben erwartet. Gipfel stürmen war gestern, aber heute gehe ich in einem von Gottes schönsten Wohnzimmern auf und ab.
Aber ich frage mich schon: In vergangenen Jahren war mir oft wichtig, Berggipfel zu „bezwingen“ und dann die Sicht von oben zu genießen. Aber was für eine Art Freude ist das eigentlich, die ich daran finde, wenn ich heute über 400 Meter Höhenunterschied hinauf gehe und dann wieder hinunter? Ja, warum tue ich mir das an?
Wenn eine andere Person mich zu diesem Weg samt seiner Mühe veranlassen würde – vielleicht gar gegen meinen Willen – , wie würde ich darauf reagieren? Wenn Eltern ihrem Kind, das sich sträubt, so etwas zumuten, wie bewerte ich das? Wenn Gott mich dazu veranlasst, wie benenne ich das und was halte ich davon? Und: wenn ich selber es bin, der mir das zumutet, wie stehe ich dazu?
Schon meine Entscheidung, wie ich das benenne, was ich da mit mir tue, finde ich geradezu atemberaubend. Denn dazu fällt mir gleich der anstößige Satz aus der Bibel ein „Wen Gott liebt, den züchtigt er.“ (Hebräerbrief 12,6 und Sprichwörter 3,12) Wenn ich mit dem, was ich da mit mir treibe, mich selbst sollte „züchtigen“ wollen, dann lass ich das sofort bleiben; ich bin doch schließlich kein Masochist!
Gelegentlich, wenn ich auf irgendeinem Wanderweg in den Bergen einem aufwärts fahrenden Mountain-biker begegnete, habe ich schon anerkennend zugerufen: „Sportlich!“
In sportlichen Zusammenhängen gilt „Disziplin“ als unangefochten anerkannter Wert. Eine solche Disziplin – so lange ich sie nicht übertreibe – pflegt meine Gesundheit, fördert meine Möglichkeiten, mein Leben zu leben und auch meinen Freuden nachzugehen.
Nun ist „Disziplin“ offensichtlich ein Fremdwort. Welche Vorstellungen stecken dahinter, die Grund dafür sind, dass unsere Sprache dieses Wort integriert hat? Im Google-Duden finde ich als Erklärung: „das Beherrschen des eigenen Willens, der eigenen Gefühle und Neigungen, um etwas zu erreichen“. Und als „ähnlich“, als Synonym für „Disziplin“ wird mir da angeboten „Ordnung, Zucht, Beherrschtheit, Selbstbeherrschung, Selbstkontrolle, …“
Wie will ich also verstehen und in der Verständigung benennen, was mich antreibt, wenn ich mir diesen Weg zum Älpele antue, was mir zwar Spaß bereitet, aber auch Mühe macht, die doch aber gar nicht notwendig wäre?
Mir fällt das Beispiel meines Freundes Andreas ein, der nach einer Herzoperation regelmäßig „Herzsport“ trieb – und trotzdem viel zu früh starb. Was hat er da aus eigener Entscheidung und offensichtlich auch gerne gemacht, was doch nicht ohne Schweiß und Mühe ablief? „Da hab ich Training“, nannte er seinen Grund, warum der Mittwoch bei ihm für Vereinbarungen tabu war. Da musste und wollte er „trainieren“. Weil er sich etwas Gutes tun, antun wollte. Das war für ihn ein Gebot aus einem Mindestmaß an Selbstliebe.
Mütter stecken problemlos ihre Kleinen an mit der Abenteuerlust, das Gehen zu „trainieren“. „Heute hat er schon zehn Schritte am Stück gemacht!“
Von meinem Platz im Sommergarten, wo ich dieser Tage eine leckere Räucherforelle genoss, habe ich einen etwa 13jährigen Jungen gesehen, der auf seinem Fahrrad hin- und herfuhr. Immer wieder riss er das Lenkrad hoch und „trainierte“ Ein-Rad-Fahren. Seine Ausdauer war beachtlich, und selbst mir beim Zuschauen machte Spaß zu sehen, wie lange es ihm gelang, allein auf dem Hinterrad zu fahren. Unwillkürlich zählte ich mit ihm die Zahl der Pedalumdrehungen, die er „schaffte“.
Und wie viel Spaß haben vor allem Väter, gemeinsam mit ihren Kindern Fußball zu trainieren: geschickt zu dribbeln und ins Tor zu treffen – einschließlich Enttäuschung und Ärger und Schweiß bis hin zu Tränen bei der immer wieder erfolglosen Bemühung!
Nach Einschätzung anderer übertreiben das manche Eltern. Dann wird gesagt, die Eltern „züchten“ ihre kleine Tochter zu einer Ballerina oder ihren Sohn zu einem Hochleistungssportler. Mit der Begründung liebender Sorge um die Zukunft ihres Kindes „züchten“ manche Eltern ihre Kinder zu Musterschülern.
Gängiger Sprachgebrauch spricht bei der Begleitung des Heranwachsens von Menschenkindern von Erziehung und lediglich bei Tier-Jungen von „Auf-Zucht“. Was mit „Zucht“ und entsprechend mit „züchtigen“ gemeint ist – ähnlich auch „Domptur“ – durch einen Dompteur – und „domptieren“ – oder auch „Dressur“ – , das entspricht nach gewachsenem Allgemeinempfinden nicht den Anforderungen des Respekts vor der Würde eines jeden Menschen. Sogar das „Zucht“-haus wurde abgeschafft. „Zucht und Ordnung“ sind – außer vielleicht bei Rechtsextremisten – eine verpönte Kategorie geworden.
Wie kann dann aber der Satz der Bibel Bestand haben „Wen Gott liebt, den züchtigt er.“?
Und doch ist das geradezu der Kernsatz in einem der Bibeltexte dieses Sonntags! Der Hebräerbrief zitiert den verständlicherweise gerne vergessenen Satz aus dem alttestamentlichen Buch der Sprichwörter.
Und warum meine ich, aus den Bibeltexten dieses Sonntags mich gerade für diesen entscheiden zu müssen, um daraus eine „Sonntagsbotschaft“ herauszuhören? „Warum tue ich mir das an?“
Weil dieser Satz sowieso jede Aufmerksamkeit auf irgendeine andere Aussage überblendet, die es an diesem Sonntag aus der Bibel zu hören gibt. Also – so finde ich – da geht kein Weg daran vorbei, mich damit auseinanderzusetzen. Es sei denn – was sicher in vielen Gemeinden geschieht – man lässt die 2. Lesung einfach weg. Nein, lieber stelle ich mich der Herausforderung.
Schwestern und Brüder!
Ihr habt die Mahnung vergessen,
die euch als Söhne anredet:
Mein Sohn, verachte nicht die Erziehung des Herrn
und verzage nicht, wenn er dich zurechtweist!
Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er;
er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat.
(vgl. Sprichwörter / Sprüche 3,11-12)
Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet!
Gott behandelt euch wie Söhne.
Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt?
Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick
nicht Freude zu bringen, sondern Leid;
später aber gewährt sie denen,
die durch sie geschult worden sind,
Gerechtigkeit als Frucht des Friedens.
Darum macht die erschlafften Hände
und die wankenden Knie wieder stark,
schafft ebene Wege für eure Füße,
damit die lahmen Glieder nicht ausgerenkt,
sondern vielmehr geheilt werden!
(Hebräer 12,5-7.11-13)
Nun ja, es hat ja Zeiten gegeben – und so lange liegen die auch in unseren Breiten noch gar nicht zurück – , da haben Eltern sich der verbreiteten Meinung angeschlossen, eine erfolgreiche Erziehung der Kinder verlange immer wieder mal nach Schlägen. Auch die rot unterlaufenen Augen, mit denen so mancher Vater – meistens waren es ja die Väter – sein Kind verdroschen hat, konnten bei vielen nicht zur Einsicht führen, dass da triebhafte Gewalt verwechselt wurde mit pädagogischen Erwägungen.
Ich gehe – mit Bauchgrimmen – davon aus, dass auch dieser Bibeltext oder seine Übersetzung von diesem Virus infiziert ist.
Aber zwischen den Zeilen dieser allzu menschlichen Sprechweise – besser gesagt: auf einer Ebene hinter diesen Menschenworten – zeichnet sich für mein „hörendes Herz“ noch etwas anderes ab, was ich in der Tat nicht überhören möchte:
Was sagt denn die Erfahrung von Menschen, die für ihre Lebensorientierung an der Bibel Maß nehmen, was Gott wirklich tut, wenn er – wie eine liebende Mutter oder wie ein liebender Vater – dafür Sorge tragen will, dass Menschen für das Leben und für die Zukunft „fit“ werden?
Was da in den Kirchen traditionell gepflegt wird, ist die Glaubens-Lehre. Schon die Kinder sollen „lernen“ und „wissen“, wie Gott zu den Menschen steht und was er mit ihnen will: dass er sie liebt und sie zum Lieben anleitet. Also: Bescheid wissen, wie man Christ zu sein hat und was deswegen nicht sein darf.
Ich räume ein, das ist eine verkürzendee Vereinfachung. Insofern es aber wirklich so ist, ist es doch zu vergleichen mit der Frage, auf welchem Weg jemand „fit“ wird, im Straßenverkehr ein Auto zu fahren: Eine Fahrschule, die nur die Theorie lehren wollte, wie das Autofahren sein soll und wie es geht, aber das Üben, das Trainieren, die Praxis unter den Tisch fallen ließe, eine solche Fahrschule disqualifiziert sich selbstverständlich.
Vor Jahrzehnten entwickelten wir in der Pfarrgemeinde ein Konzept, wie wir Jugendliche so begleiten könnten, dass sie ausprobieren und sich selbst erproben und dann eine sich selbst wie auch dem Sakrament gerecht werdende Entscheidung treffen, ob sie ihr Heranwachsen ins Erwachsenenleben aus dem Glauben an Christus gestalten wollen und sich deshalb firmen lassen. In fortgeschrittener Phase auf diesem Weg fragten wir die Jugendlichen nach ihrem Vorschlag, wie wir das griffig benennen könnten, wenn wir wieder für die Teilnahme Jugendlicher an diesem Weg werben wollten. „Christentraining“, warf eine 16Jährige in den Ring und erhielt die meiste Zustimmung.
Wenn ich vorher habe üben können, Mühen und Belastungen zunächst zu ertragen, um sie dann zu meistern, dann kann eine stark machende Gewissheit entstehen, wie die französische Redewendung sie benennt: „ça vaut la peine“, „diese Mühe, diese ‚Pein‘ ist es wert“, „das lohnt sich“, nämlich: „um etwas Lebenswertes zu erreichen“.
Ob ich die erste „Pein“ meines Lebens wollte oder nicht, wurde ich nicht gefragt! Aber klar ist: Ohne die Schmerzen der Geburt zu erleiden, hätte ich nicht mein Leben in dieser Welt beginnen können. Ob man durch Kaiserschnitt Geborene darum beneiden oder sie bemitleiden sollte, weiß ich nicht. Jedenfalls erleiden auch sie bei der Geburt Kälte, Berührung neuer Art, Atem-„Not“, und so weiter. Meine Geburt war die erste „Heraus“-Forderung meines Lebens, die Gott mir zugemutet hat. Er hat mich unter Schreien üben lassen; es hat geklappt mit dem Atmen.
Vielen weiteren Herausforderungen verdanke ich mein Heranwachsen. Bei welchem Kind verliefe das ohne Tränen! Alleine gehen, ohne dass mich jemand hält, geht nicht, ohne immer wieder zu fallen. Den eigenen Willen erfolgreich und angemessen geltend machen, das will geübt sein und geht nicht ohne Enttäuschungen. …
Üben, trainieren, … das muss einem heranwachsenden Menschen ermöglicht werden. Alle, die das Kind lieben, müssen ihm dabei helfen, damit es zunehmend sich das zutraut und fähig wird, sein Leben und seine Welt – so gut es die Rahmenbedingungen zulassen – eigenständig und solidarisch zu gestalten und die unvermeidlichen Rückschläge in Lernerfahrungen umzumünzen.
„Das Beste“ im Leben – so nennt es unter meinem bereits langjährigen Protest die deutsche Einheitsübersetzung von Psalm 90 – „ist nur Mühsal und Beschwer“ und in der revidierten Fassung von 2016 „Mühsal und Verhängnis“ (Psalm 90,10). Nach meiner – gewagten, aber verantworteten – eigenen Übersetzung wird da aber genau das gesagt, was ich mit meinen Erwägungen hier meine: Das Beste im Leben war eigentlich immer erst einmal Mühsal und Beschwernis! – Aber was dann draus geworden ist! Dank sei Gott und den Freunden!
Viele Märchen und andere Zeugnisse der Weltliteratur aller Kulturen vermitteln die Wertschätzung fürs Ertragen von Schmerzen und Risiken aller Art, durch die hindurch Sehnsucht und Leben zur Erfüllung kommen.
Zwar sehe ich gerne Gott in meiner Nähe und verdanke ihm so manche Herausforderung, durch die er mich ermutigt und bestärkt hat. Weit entfernt bin ich aber davon, ihm den damit entstandenen Stress in die Schuhe zu schieben oder ihn verantwortlich zu machen für die dazugehörige Mühe, vielleicht auch für entstandenen Schmerz, Durst und Tränen.
Wenn er mich ermutigt, herausfordert und bestärkt, mich zu erproben, zu trainieren, vielleicht dafür bis an meine Grenzen zu gehen, und mir so liebevoll hilft, als sein „Ebenbild“ kreativ und verantwortlich zu leben, dann kann ich das nicht mit Worten benennen wie „züchtigen“.Was ein solches Wort in der deutschen Sprache transportiert, atmet eine zynische Lust an der Gewalttätigkeit, die Gott zuzuschreiben schlicht und einfach Gottes Wesen verdunkelt.
Die Irreführung bei der Übersetzung der Bibel ist vergleichbar mit dem Wort „auf die Probe stellen“ oder „prüfen“:
„Aufgrund des Glaubens hat Abraham den Isaak hingegeben, als er auf die Probe gestellt wurde“ (Hebräer 11,17)
Oder: „… wie er diese Männer im Feuer geläutert hat, um ihr Herz zu prüfen, so hat er auch mit uns kein Strafgericht vor, sondern der Herr züchtigt seine Freunde, um sie zur Einsicht zu führen.“ (Judith 8,27)
Solche Worte suggerieren machtlüstern eine Stellung der Vormacht des Handelnden und führen in die Irre!.
Aber in der Originalsprache haben die verwendeten Worte eine weitere Palette von Bedeutungen, wie sie auch in den heutigen Sprachen, auch im Deutschen enthalten sind, bei der Übersetzung der Bibel aber traditionell übergangen werden zu Gunsten von machtorientierten, triebhaften und patriarchalischen Facetten ihres Bedeutungsgehalts:
Unter Inkaufnahme von „Pein“ – nämlich Erschrecken oder Schmerzen beim Hinfallen – muten Eltern ihrem Kleinkind Gehversuche zu und stärken so sein Selbstvertrauen und seine Fähigkeit, die Welt zu entdecken und dabei unvermeidliche Rückschläge zu verkraften. Damit stellen sie ihr Kind nicht sadistisch „auf die Probe“, sondern eröffnen ihm, sich zu erproben, indem sie es zum Ausprobieren und Üben animieren. Sie „erproben“ es.
„Probare“ steht im Lateinischen auch für „beweisen“. Derselbe Wortstamm steckt im französischen „épreuve“, Beweis. Wenn man im Lateinischen für das, was die Eltern da mit ihrem Kind tun, das Wort „probare“ verwendet, kann man das – kompliziert aber präzise – auch übersetzen mit „sie bewegen das Kind dazu, sich zu beweisen“, also sich und seine Möglichkeiten und die Freude an ihrer Verwirklichung und seine eigenen Grenzen kennenzulernen und sich all dessen zu vergewissern.
Dieser Aspekt in Gottes Einstellung gegenüber dem Menschen kommt bei den gängigen Übersetzungen der Bibel einfach zu kurz. Obwohl er in den ursprünglichen Worten sehr wohl enthalten ist – und den Darstellungen der gesamten Bibel von Gottes barmherziger Wesensart entspricht.
Zurück zu meinem Weg aufs Älpele: Was war mir geschehen mit diesem Tag auf dem Weg zum Älpele, in dessen weiteren Verlauf ich mich selber übernommen habe?
In meinem Beitrag „Älpele plus – wen Gott liebt, …“ können Sie Näheres dazu lesen.
Weder hat Gott mich da „gezüchtigt“, noch habe ich mich „erprobt“. Habe ich mich selbst und meine Grenzen überschätzt? Das einzusehen ist nicht schmeichelhaft. Jedenfalls war ich nachlässig in der Einschätzung dessen, worauf ich mich einließ. Die Lust, da oben zu sein, hat warnende Stimmen in mir übertönt.
Die „Pein“, die ich mir selber zugefügt habe, wird mir helfen, zukünftig in ähnlichen Situationen mir mit dem, was ich da an mir kennengelernt habe, besser gerecht zu werden. Ich bin froh, dass ich vor einem Unfall bewahrt blieb. Diese Ausdrucksweise in der Passivform habe ich am Ende des Tages am Du Gottes klärend festgemacht und – dementsprechend im Aktiv – ausgesprochen: „Du hast mich bewahrt. Danke!“
Am Ende war ich kaputt, aber glücklich.